"Die Ratten" in Hamburg: Was soll das Theater?
Gerhart Hauptmanns „Ratten“ waren 1911 aktuell. 2014 versucht das Hamburger Thalia-Theater, das Stück durch Theorie zu entstauben.
HAMBURG taz |Die Vorstellung ist vorbei, die Leute sind zurück im wirklichen Leben und manche von ihnen wollen gleich nach Hause. So auch dieser Mann und diese Frau, beide um die 30, er mit Bart und Drehtabak, sie mit wachen Augen. In der U-Bahn sitzen sie sich sich gegenüber und weil die U-Bahn leer ist, ist gut zu verstehen, worüber sie reden.
Ihr Thema ist das Stück, das sie soeben gesehen haben, „Die Ratten“ im Thalia-Theater. Er hat nicht verstanden, wer da wem ein Baby untergeschoben hat, wer die Frau mit dem Revolver war und was das mit den Obdachlosen sollte.
Sie erklärt ihm die Handlung und überlegt, wie die theatertheoretischen Textpassagen zum Rest des Stückes passen. Am Ende sieht man ihn mäßig gelaunt die U-Bahn verlassen. Ob die beiden mal wieder zusammen ins Theater gehen? Wohl eher nicht.
Brisant, brisant - im Jahre 1911
Man kann dem 30-Jährigen nicht verdenken, dass dieser Abend an ihm vorbeigegangen ist. Das Stück „Die Ratten“ war bei seiner Uraufführung im Jahr 1911 ein brisantes Stück, das zeigen wollte, wie es um die wilhelminische Gesellschaft bestellt war. Gerhart Hauptmann erzählt von dem Berliner Ehepaar John, das sich ein Kind wünscht.
Weil das nicht klappt, will Frau John, selbst tätig als Putzfrau, das Neugeborene des Dienstmädchens Pauline kaufen. Pauline aber sperrt sich und deshalb überlegt sich Frau John zwei Manöver: Erstens versucht sie, Paulines Baby mit dem kranken Baby der Nachbarin Knobbe zu vertauschen.
Zweitens setzt sie ihren Bruder darauf an, Pauline einzuschüchtern – was Pauline nicht überlebt. Als alles auffliegt, bekommt Frau John keine Rückendeckung von ihrem Mann. Sie ist verloren und bringt sich um.
Auf der Bühne spricht man Dialekt
„Die Ratten“ ist ein Klassiker der Theaterliteratur und zählt zu den Stücken, mit denen unter anderem Hauptmann das Konzept des Naturalismus auf den Theaterbühnen verwirklichte. Die Idee ist, ungeschönt von Menschen aus der Unterschicht zu erzählen.
Auf der Bühne wird Dialekt gesprochen, die Ausstattung ist realistisch und die Geschichten haben meist einen Anker in der wirklichen Welt – im Fall der „Ratten“ inspirierte Hauptmann ein Zeitungsbericht über zwei Fälle von „Kindesunterschiebung“ in Berlin.
Zweifellos ist das Stück eng verwoben mit der Zeit, in der es spielt. Das ist aus damaliger Sicht seine Stärke – aus heutiger Sicht ist es vermutlich einer der Gründe, warum der 30-Jährige, der ins Theater mitgenommen wurde, nachher nicht so aussah, als wollte er dahin bald zurückkehren.
Dabei versucht das Team um Regisseurin Jette Steckel durchaus, das Stück aus seinem theatergeschichtlichen Kontext herauszuholen: Die Bühne im Thalia-Theater ist fern jeglicher historischer Ausstattung, sie ist schwarz und leer und wenn es Möbel gibt, dann solche, wie man sie in den großen Möbelhäusern mit Null-Zins-Finanzierung kaufen kann.
Wohlüberlegte Scheinwerfer auf der Bühne
Wenn Frau John nicht putzt, dann trägt sie Rock und Bluse im Stil einer Business-Frau und ihr Mann, der Steinmetz, würde mit Jeans und T-Shirt in jeder aktuellen Menschenmasse untergehen. Wohl überlegt ist, dass da zwei Scheinwerfer direkt auf der Bühne stehen. Denn worauf Steckel eigentlich hinaus will, das sind die theatertheoretischen Debatten, die in das Stück eingearbeitet sind.
Zuständig ist dafür die Figur des Theaterdirektors, der in dem Stück die Bourgeoisie verkörpert und Frau John als Putzfrau beschäftigt. Der Theaterdirektor diskutiert mit seinem Schüler, was denn das gute, erstrebenswerte Theater sei – die Weimarer Klassik oder der Naturalismus.
Die Inszenierung am Thalia-Theater erweitert diesen Diskurs, indem sie Szenen von Einar Schleef einbaut. Schleef hat sich 1984 in seinem Stück „Die Schauspieler“ mit der Frage beschäftigt, was einen guten Schauspieler ausmache. Im Thalia-Theater des Jahres 2014 führt das dann dazu, dass in den „Ratten“ von 1911 Szenen auftauchen, die sich nicht mehr recht zuordnen lassen. Was für den 30-Jährigen Theatermitgeher später die Frage aufwirft: Wie war das nochmal mit dem Baby der Frau John?
Die Einar Schleef-Debatte um die Wahrhaftigkeit der Schauspielerei spielt an einem Obdachlosentreff, die Gerhart Hauptmann-Debatte um den Naturalismus im Theater führen der Schüler und der Theaterdirektor. Dabei sagt der Schüler: „Das deutsche Theater kann sich nur erholen, wenn Sie die Fenster aufmachen und ein bisschen frische Luft reinlassen.“
Dafür gibt es spontan Szenenapplaus im Publikum, und es wirkt so, als seien die Applaudierenden 2014 mit den „Ratten“ genauso unglücklich, wie der Theaterschüler 1911 mit der Weimarer Klassik.
Hauptmann liegt nicht ganz falsch
Interessant ist, dass in diesem Moment die Frage im Raum steht, was das wünschenswerte Theater sei. Die Frage ist so alt und so groß, dass sich derjenige, der sie stellt, schnell verhebt. Vermutlich wollte auch Regisseurin Steckel die Frage nicht stellen, aber jetzt steht sie da und dem Publikum scheint sie unter den Nägeln zu brennen.
Steckels Vorschlag, ein verstaubtes Stück durch theoretische Implikationen zu entstauben, findet nicht viele Freunde. Der Impuls, der an diesem Abend spürbar wird, ist ein anderer: Hauptmann liegt nicht falsch mit seiner Idee, dem „echten“ Leben nachzuspüren.
Schön wäre nur, wenn die Figuren und die Geschichten von heute wären. Wenn es also Dramatiker gäbe, die erstens gute aktuelle Stücke schrieben und zweitens auch noch aufgeführt würden. Das könnte eine Lösung sein. Zumindest für jene, die sich frische Luft im Theater wünschen – und jene, die nachher in der U-Bahn nicht blöd dastehen wollen.
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