: „Die Pflicht zu töten“
Revolte im Vernichtungslager: Claude Lanzmann über Helden, Hitchcock, die Historisierung des Holocaust – und seinen neuen Film „Sobibor“
Interview STEFAN REINECKE
taz: Yehuda Lerner, die Hauptfigur in „Sobibor, 14 octobre 1943, 16 heures“, hat an dem einzig gelungen jüdischen Aufstand in einem Vernichtungslager teilgenommen. Ist Lerner ein Held?
Claude Lanzmann: Ja. Und alle anderen, die an dieser Revolte teilnahmen. Bedenken Sie, wie schwierig es war, in ein paar Wochen den Aufstand zu planen und geheim zu halten. Und welche Fantasie nötig war, um sich in einem Vernichtungslager Waffen zu beschaffen. Sie bekamen Äxte, weil sie als Tischler für die SS arbeiten sollten. Die Nazis verachteten ihre Opfer so sehr, dass sie sich nicht vorstellen konnten, dass eine Axt in deren Händen eine Waffe wäre.
Wir sehen zu Beginn Landschaften in Polen, Weißrussland heute. Lerner kommt erst nach gut zehn Minuten ins Bild. Warum diese Montage?
Warum fragen Sie? Hat Sie das schockiert?
Nein, ich mag Ellipsen.
Genau das ist es: eine Aussparung, das Erfinden einer Erzählung. Lerner erzählt im Off, was er erlebte, bevor er nach Sobibor kam, dass er unglaublicherweise in sechs Monaten in acht KZs war und acht Mal floh. Das ist eine komplizierte Erzählung, und ich habe dazu jene heutigen Aufnahmen montiert, aus Warschau, Minsk, dem Wald von Sobibor. Um eine Spannung zwischen Wort und Bild herzustellen. Das Problem war: Wann und wie kommt Lerner ins Bild? Es gibt ein schnelles Travelling der Kamera, man sieht Wälder und Lichtungen. Ohne Off-Ton. Dann erscheint Lerners Gesicht, gleichfalls stumm. Ich glaube, dieser Schnitt funktioniert nur, weil es keinen Ton gibt.
„Sobibor“ zeigt Landschaftsbilder, meist leer. Dort geschah vor 59 Jahren, was Lerner erzählt. Die Zuschauer müssen diese Bilder mit Bedeutung füllen. „Sobibor“ will nicht Identifiktation, sondern Distanz …
Nein. Ich glaube, dass sich viele mit Lerner identifizieren. Denn Lerners Tat verkörpert das Recht und die Pflicht zu töten.
Das ist richtig: Lerner ist Held einer konkreten Handlung. Aber ästhetisch ist „Sobibor“ schroff. Sie verzichten auf Musik. Warum?
Weil der Film selbst eine musikalische Struktur hat. „Shoah“ ist konstruiert wie eine Symphonie. Musik wäre da ein Fremdkörper, fast obszön. Die Präzision der Montage – das ist der Rhythmus, das ist die Musik meiner Filme. Die Cahiers du cinema haben geschrieben, dass „Sobibor“ Suspense entwickelt – wenn Lerner erzählt, wie sie den Aufstand planen. Das sei eine Art Quintessenz eines Hitchcock-Films.
Am Ende lesen Sie alle Transporte nach Sobibor vor. Das dauert lange, sehr lange, vor allem im Kino. Das ist eine Zumutung fürs Publikum. Warum dieser Schluss?
Weil man danach nicht mehr klatschen kann. Und: Was wäre sonst der Schluss gewesen? Es wären Lerners Worte gewesen, dass er entkam, dass er in den nahen Wald rannte und in Ohnmacht fiel. Das wäre ein Happy End, das wäre falsch gewesen.
Monsieur Lanzmann, hat die Shoah 2002 noch Aktualität?
Was wollen Sie? Einen Schlussstrich ziehen?
Nein. Ich möchte wissen, ob sich das Bild des Vergangenen verändert hat, z. B. zwischen heute und 1979, als Sie das Interview mit Lerner machten.
Die Zeit ändert die Vergangenheit – das ist in einem allgemeinen Sinn richtig. Aber ein Film wie „Shoah“ altert nicht. Er bekommt keine Falten, weil er seine eigene Aktualität schafft. Am Anfang von „Shoah“ stehen die Worte: „Die Handlung beginnt in unseren Tagen.“ Das war 1985 wahr, und es ist heute noch immer wahr. Ich hoffe, dass dies auch in 50 Jahren noch so sein wird. Ich glaube, dass „Shoah“ ein unsterblicher Film ist.
Glauben Sie nicht, dass die Shoah historisiert wird?
Nein. Die Shoah ist ein unfassbares, nicht zu überschätzendes Ereignis. Wie viele Leute haben das Erlebte verdrängt und erst nach Jahrzehnten darüber sprechen können? Und in wie vielen deutschen Familien gibt es ein böses Geheimnis? Ob Sie wollen oder nicht: Es war das zentrale Ereignis des 20. Jahrhunderts.
Es gibt in der Erinnerungskultur ein Paradox: Je länger die Shoah her ist, umso mehr Filme, Mahnmale, Bücher gibt es. Das Vergangene verblasst nicht, es rückt näher, je länger es her ist.
Nein, es ist anders. Es gibt heutzutage zwar eine Welle von Museen, Denk- und Mahnmalen. Aber diese Museen sorgen gleichzeitig für das Erinnern wie für das Vergessen. Nehmen Sie die Regierungskonferenz zum Holocaust in Stockholm, wo Jospin, Barak und Schröder waren. Solche Veranstaltungen formalisieren und bürokratisieren Erinnerung. Das ist die Verwaltung der Erinnerung, die zur toten Materie wird, ehe sie ganz ins Stadium des Vergessenen übergeht. „Shoa“ und „Sobibor“ sind Gegenmittel.
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