: Die Nordsee als Strahlenquelle
Radioaktives Jod in Deutschland kommt mit dem Regen aus den Wiederaufarbeitungsanlagen in England und Frankreich ■ Von Rob Edwards
Edinburgh (taz) – Der über Deutschland fallende Regen ist von den Nuklearfabriken in England und Frankreich kontaminiert. Dies hat eine veröffentlichte Studie von Wissenschaftlern der Universität Bonn festgestellt. Nach Angaben der Chemiker ist das der erste Beweis, dass die radioaktive Verschmutzung der Nordsee auch den Regen strahlen lässt.
Das radioaktive Isotop Jod-129 gelangt durch das Abwasser der Wiederaufarbeitungsanlagen La Hague in der Normandie und Sellafield an der britischen Westküste in die Nordsee. Von dort verdunstet es mit dem Meerwasser und wird dann durch Regen aus der Atmosphäre ausgewaschen und geht über Deutschland nieder.
Die Konzentration an Jod-129 ist zwar sehr gering. Durch die lange Halbwertszeit von 16 Millionen Jahren bleibt es jedoch sehr lange in der Umwelt. Außerdem wird Jod beim Menschen in der Schilddrüse angereichert.
Professor Dieter Aumann und Gunter Krupp, Nuklearchemiker am Institut für Physikalische Chemie, maßen die Jodkonzentration in fünf ländlichen Gegenden Deutschlands. Sie sammelten Proben von Stationen des Umweltbundesamtes zum Beispiel in Westerland/Sylt oder auf dem Schauinsland in den Jahren 1994 und 1995. Nach den veröffentlichten Ergebnissen in der britischen Fachzeitschrift Environment Radioactivity (Band 46, Seiten 287 – 299) hinterlässt der Regen dort zwischen 0,78 und 1,63 millionstel Gramm Jod-129 pro Quadratmeter und Jahr.
Die Herkunft des Isotops wird nach Ansicht der Wissenschaftler durch das Verhältnis von Jod-129 zum natürlich vorkommenden Jod-127 bewiesen. Das gemessene Verhältnis war typisch für WAAs.
Andere Wissenschaftler hatten bereits hochgerechnet, dass die beiden WAAs von 1970 bis 1995 etwa 1.200 Kilogramm Jod-129 in die Nordsee eingeleitet haben. In beiden Atomfabriken werden auch gebrauchte Brennelemente aus deutschen AKWs wieder aufbereitet – obwohl dieser Prozess neuen Atommüll produziert und auch die direkte Umgebung der Anlagen radoaktiv belastet. Außerdem ist die Wiederaufarbeitung teurer als die direkte Entsorgung der hoch radioaktiven Brennelemente.
„Unsere Daten zeigen, dass die Nordsee eine große Quelle von Jod-129 ist. Dort endet demnach ein großer Teil der Jod-Emissionen der Wiederaufarbeitungsanlagen von La Hague und Sellafield“, schließen Aumann und Krupp. „Unser Schluss: Die Hauptquelle von Jod-129 im Regen über Deutschland sind die Abwässer von La Hague und Sellafield.“
Laut Aumann wurde die Konzentration an Regen-Jod-129 in Deutschland vorher nie gemessen. Für ihn ist es „unwahrscheinlich“, dass das radioaktive Jod aus anderen Quellen wie den überirdischen Atomwaffentests der sechziger Jahre oder dem Reaktorunfall in Tschernobyl stammt.
Aumann sieht trotz der gemessenen Radioaktivität keinen Grund zur Beunruhigung. Die Mengen seien zu gering, um irgendeine Gesundheitsgefahr auszulösen. „Ich glaube nicht, dass es irgendein Risiko gibt“, fügte er hinzu.
Die beiden Deutschen haben einen „neuen atmosphärischen Pfad“ entdeckt, glaubt Murdoch Baxter, der Herausgeber der Zeitschrift Environment Radioactivity und früherer Direktor des Meeres-Umwelt-Labors der Internationalen Atomenergiebehörde. Der neue Pfad könnte wichtig werden für die Wissenschaft. „Strahlendes Jod ist ein sehr nützlicher Nachweisweg für Wasserströmungen – und das über Jahrtausende hinweg“, sagte er. Baxter wies darauf hin, dass sich Verschmutzungen in der Nordsee und anderen europäischen Gewässern über die Ozeane der Welt verteilen könnte. Durch die lange Halbwertszeit von Jod-129, so Baxter, „werden die radiologischen Effekte weltweit über Millionen von Jahren wirken – auch wenn sie für den einzelnen Organismus extrem gering sein mögen.“
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