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Die Madonna Seit nunmehr 34 Jahren macht Gabriele Heinemann Jugendarbeit im Madonna-Mädchentreff im Rollbergkiez. Dabei erhält sie einen guten Einblick in Neuköllner Wohnzimmer. Ein Gespräch über Kopftücher, Gentrifizierung und nachdenkliche Eltern„Unsere Mädchen müssen ihre Cousins erst nach dem Abi heiraten“

Interview Susanne MemarniaFotos Julia Baier

taz: Frau Heinemann, vor Kurzem haben Sie den Berliner Frauenpreis verliehen bekommen. Bei der Feier hat Frauensenatorin Dilek Kolat (SPD) gesagt, Sie stünden stellvertretend für die vielen Frauen, die gegen Gewalt kämpfen – vor allem gegen Gewalt im Namen der Ehre. Ist das noch so ein wichtiges Thema?

Gabriele Heinemann:Es ist auf jeden Fall für alle hier im Rollbergkiez ein Thema. Es ist auch ein Thema, weil der neue Fundamentalismus im Grunde die Funktion übernommen hat, die früher die Tradition hatte. Sogar bei den Familien, die sich liberalisiert haben, versuchen die Fundamentalisten Druck auszuüben. Wenn Mädchen freier leben wollen, selbst wenn das nur heißt, mit einem Jungen in einem Raum Hausaufgaben zu machen, wird das abgelehnt mit dem Argument der Ehre. Gerade von jungen Männern. Wir haben hier junge Mädchen, die erfolgreicher in der Schule sind als ihre Brüder, die nur rumhängen. Es kann vorkommen, dass ein Bruder wutentbrannt reinkommt und seiner Schwester verbietet, hier zu lernen. Diese Angst vor dem Ehrverlust ist auch immer noch die Ursache des frühen Heiratsalter. Schon die Mütter der Mädchen haben alle mit 12 bis 16 Jahren geheiratet ...

... dabei sind die doch auch schon hier geboren, oder?

Ja, klar. Und trotzdem haben sie so früh geheiratet – weil sich keiner um sie gekümmert hat. Natürlich war das auch in den 90ern hier schon verboten. Aber daran sieht man, wie gleichgültig unsere Institutionen handelten. Die Mädchen kamen irgendwann nicht mehr in die Schule, waren vielleicht in eine andere Stadt verheiratet worden – aber es gab keinen Aufschrei, keiner ging zum Jugendamt. Uns war klar, wenn wir verhindern wollen, dass das ihren Töchtern wieder passiert in diesem Milieu, müssen wir bei der Bildung als Weg in die Freiheit ansetzen.

Welches Milieu meinen Sie?

Wir sind laut Vertrag mit dem Jugendamt insbesondere zuständig für die Mädchen, die aus patriarchalen, traditionellen, religiös geprägten Familien kommen – das kann auch mal christlich-orthodox sein, aber die sind fast alle weggezogen. Insofern ist dieses Milieu überwiegend muslimisch. Wir arbeiten vorwiegend mit den Mädchen, die Lust auf Schule haben, und mit deren Eltern, um sie zu überzeugen, dass ein Schulabschluss, wenn sie in diesem Land leben, viel toller ist – auch für sie als Eltern. Und da gibt es viele, die mitgehen – wobei auch unsere Mädchen in der Regel nach dem Abi­tur oder nach der Ausbildung heiraten müssen. Es gibt aber auch die anderen Eltern, die wir nicht überzeugen können, die vielleicht selber Analphabeten sind, oder auch ihr Kind nicht zu „der Deutschen“, wie ich im Viertel genannt werde, schicken wollen. Meine Kollegin ist zwar Deutschtürkin, aber auch ihr wird gesagt, sie sei ja wie eine Deutsche. Solche Eltern erlauben dann vielleicht ihren Kindern, hier zu spielen, aber ab der Pubertät sollen sie nicht mehr hierherkommen.

Das gibt es?

Oh ja, reichlich. Es könnte sein, dass das sogar die Mehrheit der Mädchen im Viertel betrifft. Es gibt hier etwa 6.000 Bewohner im Viertel.

Und wie viele Mädchen kommen ins Madonna?

Das schwankt je nach Angebot zwischen 15 und 40. Im Sommer kommen sehr viel mehr, der Platz vor dem Madonna ist dann voll mit 100 und mehr Menschen, die da sitzen, picknicken, quatschen, und wir bespielen dann die Fläche draußen. Wir machen viel Elternarbeit. Meine Kollegin hat zum Beispiel eine Weile lang ein sehr intensives Elternprojekt gemacht, damit haben wir viele Mütter und Väter zum Nachdenken gebracht. Der Druck von den Communities ist sehr groß. Aber wenn man die Eltern einlädt, nachzudenken, kann man etwas bewirken – zumal meine Kollegin sich gut mit dem Koran auskennt. Wobei die neuen Fundamentalisten auch mit dem Koran argumentieren.

Die erwähnten Sie eben schon. Wo kommen die Mädchen damit in Kontakt?

Da ist zum einen das Internet, WhatsApp, Facebook. Da gibt es antisemitische Botschaften oder solche, die behaupten, dass die Attentate vom amerikanischen Geheimdienst inszeniert wurden, um die Muslime schlecht zu machen. Dann gibt es die Moscheen, die bei unseren Familien ein hohes Ansehen genießen. Es gab mal eine Untersuchung vor ein paar Jahren, die gezeigt hat, dass etwa die Hälfte der Neuköllner Moscheen nicht auf dem Boden des Grundgesetzes steht, was Frauenrechte anbelangt.

Gabriele Heinemann

Der Mensch:In Bremen geboren, ging Gabriele Heinemann dort und in Köln zur Schule, wo sie 1972 ihr Abitur machte. Später ging sie nach Berlin und studierte an der Freien Universität Sozialpädadogik, danach arbeitete sie im Wannseeheim für Jugendarbeit e. V. 1982 gründete sie mit einer Kollegin den Mädchentreff im Neuköllner Rollbergkiez. Gabriele Heinemann ist 62 Jahre alt, unverheiratet und hat keine Kinder.

Das Lebenswerk:Der Madonna-Mädchentreff ist ein Stadtteilangebot für Mädchen von 9 bis 20 Jahren, zudem gibt es seit 2002 das Mädchencafé Schilleria im benachbarten Schillerkiez. Neben klassischer Kinder- und Jugendarbeit gibt es im Madonna Hilfe bei den Hausaufgaben, Nachhilfe, Bildungsarbeit mit Eltern und Gewaltprävention. Jungen können die Einrichtung besuchen, wenn die anwesenden Mädchen einverstanden sind. Finanziert wird der Mädchentreff vom Jugendamt Neukölln und vom Quartiersmanagement Rollberg/Soziale Stadt.

Der Preis:Am 8. März verlieh Frauensenatorin Dilek Kolat (SPD) Gabriele Heinemann den Berliner Frauenpreis für ihr En­gagement. Der Preis wird seit 1987 jährlich vergeben und ist mit 3.000 Euro dotiert. (sum)

Und wie erreichen Sie die Mädchen?

Wenn etwa in der Al-Nur-Moschee salafistische oder stockkonservative Prediger eingeladen werden, die erzählen, seid nicht wie die Deutschen, und die den „verdorbenen Westen“ der „Reinheit der Muslime“ gegenüberstellen, dann färbt das natürlich ab. Dann gibt es noch „die Rekrutierer“, die auf der Straße junge Leute ansprechen und zu Gruppen lotsen, bei denen am Ende womöglich eine Reise nach Syrien ansteht. Oder die zumindest eine tiefe Symphatie für den IS beinhalten. Überhaupt fanden wohl viele im Viertel den IS anfangs gar nicht so schlecht – als er noch erfolgreich war. Wir hatten vor gut zwei Jahren eine Mädchen­clique im Madonna, die dann bei einem salafistischen Frauenverein gelandet ist.

Konnten Sie die Mädchen da rausholen?

Nicht alle. Zwei sind mit ihren Familien in die Nähe der Al-Nur-Moschee gezogen – und ich habe gehört, dass die Mädels weiter da mitmachen. Die anderen konnten wir zurückgewinnen, indem wir uns wirklich der Sache gestellt haben. Ich bin mal mitgegangen zu einer Predigt von ­Pierre Vogel, den die Mädels ganz toll fanden. Wir haben dann intensiv diskutiert, also vor allem meine Kollegin, die als Muslimin mehr akzeptiert wird. Auch die Eltern, die wütend auf ihre Kinder waren, aber nie die Bindung abgebrochen haben, waren sehr hilfreich. Es ist einfach wichtig, dass die Kids eingebunden bleiben in Netzwerke...

... dass man sie nicht fallen lässt ...

Genau, dann sind sie verloren, dann bleiben sie bei diesen Leuten. Man muss viel Geduld haben, das ist ein langwieriger Prozess. Ich erinnere mich an ein Mädchen: Erst trug sie keinen Schleier, dann einen bunten, dann einen schwarzen, der wurde immer länger, irgendwann war sie völlig verhüllt – und dann ging es langsam wieder in die umgekehrte Richtung. Das Ganze dauerte gut ein Jahr. Sie hat sich am Ende auf einer anderen Schule angemeldet mit mehr Herkunftsdeutschen, um sich ein anderes Milieu zu schaffen – um dem Druck zu entgehen, der hier im Kiez herrscht, wenn du das Kopftuch ablegst.

Tragen viele Mädchen Kopftuch?

Im Kiez schon, die Besucherinnen des Mädchentreffs meistens nicht. Zu uns kommen zwar viele Mädchen, die sehr gläubig sind, aber die wollen dennoch ein säkulares Leben. Wir hatten letztes Jahr zwei Mädchen, die hatten im Abi als Vortragsthema den Kopftuchstreit. Die eine hat sich richtig reingehängt – während sie es am Anfang „ungerecht“ fand, dass man mit Kopftuch keine Lehrerin werden kann, hatte sie später die Einstellung, dass LehrerInnen sich religiös neutral verhalten sollen. Klar, dass dann auch einige wegbleiben, denen das nicht passt. Ich kann mich auch nicht verstellen, die Mädchen und ihre Eltern merken ja, dass ich eher säkular eingestellt bin. Für mich sind Kirchen eher als Kulturgut wichtig, ich gehe ins Kirchenkonzert – ansonsten mache ich Yoga und Meditation. Für unsere Eltern ist das okay, solange ich ihre Mädchen damit nicht behellige.

Gut, reden wir über Sie. Sie haben 1982 das Madonna gegründet. Wie kam das?

„Der Druck von den Communities ist sehr groß. Aber wenn man die Eltern einlädt, nachzudenken, kann man etwas bewirken“

Ich war noch ziemlich unerfahren, hatte Sozialpädagogik an der FU studiert. Beim Wannseeheim für Jugendarbeit, heute Wannsee-Forum, hatte ich eine engagierte Kollegin kennengelernt, mit der habe ich dann das Madonna aufgebaut. Die Kollegin hörte den Jugendlichen wirklich zu, begegnete ihnen auf Augenhöhe – nicht so wie die meisten Pädagogen. Dieses Dogmatische hat mich schon an der Uni nicht interessiert. Ich war zwar links, aber eher Hippie, nicht so K-Gruppen-orientiert. Darum interessierte mich auch Neukölln mehr als Kreuzberg, wo es schon viele Projekte gab, in denen mir aber zu viel über die richtige Linie diskutiert wurde – und zu wenig praktisch gearbeitet. Ich wollte ein Feld haben, das mir fremd war und in dem ich meine eigenen Grenzen als Pädagogin erfahren konnte.

Haben Sie ein Beispiel?

Einmal haben wir mit den Mädchen im Madonna etwas zu Gewalt gegen Frauen machen wollen und ein Frauenhaus besucht. Anschließend haben die Mädchen erzählt, wie es bei ihnen zu Hause zugeht. Da kamen schlimme Sachen von Gewalt und sexuellem Missbrauch auf den Tisch, was damals ein totales Tabu war. Auch ich hatte keine Ahnung, hatte zwar jede Menge Marx und Psychoanalyse studiert, wusste aber nicht, wie man damit jetzt umgeht. Diese krassen Erlebnisse der Kids haben mich schnell motiviert, tiefer in die Arbeit einzusteigen. Wenn man solche Dinge anvertraut bekommt, kann man ja nicht einfach sagen: Jetzt habe ich Feierabend. Dann hat man Verantwortung.

Sie haben gesagt, Sie seien ein Hippie gewesen. Wie sind Sie aufgewachsen?

Ich bin in Bremen geboren. Als ich neun Jahre alt war, zogen wir nach Köln. Dort kam ich in eine Klasse, wo mein Vater der Einzige war, der studiert hatte. Das war nicht einfach für mich, zumal ich auch sehr norddeutsch über den „spitzen Stein“ stolperte – die Klasse hat mich nur verarscht. Zudem hielten sie mich zuerst für eingebildet, weil ich Bücher las. Aber am Ende hatte ich es doch geschafft, mich mit ein paar Kindern anzufreunden.

Wie haben Sie 68 erlebt?

Das gefiel mir sehr, das Provokative, dieser Aufbruch. Ich kam damals gerade in die Pubertät. Ich ging mit meiner Freundin auf Partys, und wir gaben viel vor Mitschülerinnen an, dass wir Erfahrungen mit Jungs machen wollen. Das hörte eine unserer Lehrerinnen, die uns zur Rede stellte – damals war Köln noch sehr katholisch. Mein Vater machte einen Aufstand an der Schule – weswegen meine Freundin und ich im Sommer 1967 von der Schule fliegen sollten. Mein Vater drohte mit einer Klage, und so konnte ich zurück an die Schule – als Außenseiterin. Später bin ich zum „Aktionskreis unabhängiger sozialistischer Schüler“ gegangen. Meinen Eltern gefiel das gar nicht: „Du und deinesgleichen“ hieß es zu den 68ern, es eskalierte immer öfter zu Hause. Ich habe mit Kiffen angefangen, bin noch als Schülerin ausgezogen in eine WG. Aber das war auch schwierig, es gab immer sexuelle Avancen. Und natürlich bin ich zum Studium 1972 nach Berlin gegangen – schon weil meine Eltern dagegen waren.

Zurück zur Gegenwart: Neukölln hat sich durch die Gentrifizierung in den letzten zehn Jahren verändert. Wie wirkt sich das auf Ihre Arbeit aus?

Gabriele Heinemann über ihre Arbeit: „Einmal haben die Mädchen erzählt, wie es bei ihnen zu Hause zugeht. Diese krassen Erlebnisse haben mich schnell motiviert, tiefer in die Arbeit einzusteigen“

Ganz klar, die Gentrifizierung ist ein Problem für viele hier. 2014 hatten wir fünf drohende Zwangsräumungen von Familien – mehr als in den 30 Jahren davor. Man kann sich heute nicht mehr vorstellen, wie verwahrlost das Viertel in den 90er Jahren war. Damals spielte es keine Rolle, wenn du deine Miete zu spät gezahlt hast – hier wollte niemand leben. Und plötzlich werden solche Dinge als Gelegenheit genommen, die Leute rauszuschmeißen. Manche sagen dann: „Diese Studenten nehmen uns alles weg.“ Andererseits sehen unsere Mädchen die Aufwertung auch positiv. Es ist schön, dass man jetzt aus einem weltweit als cool angesehenen Stadtteil kommt. Aber die Eltern, die mit uns arbeiten, sind meist auch solche, die ihre Mietverhältnisse geregelt bekommen. Ich habe ja schon die Mütter von unseren heutigen Mädchen betreut. Und diese Familien haben sich im Laufe dieser langen Kommunikation mit den hiesigen Verhältnissen vertraut gemacht. Manche Väter gehen sogar arbeiten – was in diesem Viertel noch immer eine Besonderheit ist.

Ihre Bilanz nach 34 Jahren Arbeit im Kiez?

Der Fortschritt ist, dass unsere Mädchen ihre Cousins erst nach dem Abi heiraten und sie selber wählen. Schon das erfordert viel Arbeit, Reden und Überzeugen unsererseits. Die Großfamilie und die Community bleiben der Hauptorientierungspunkt.

Was würde helfen? Mehr Geld?

Das hilft natürlich immer. Aber kennen Sie das Buch „Generation Allah“ von Ahmad Mansour? Er hat recht, dass völlig anders ins Bildungssystem investiert werden müsste. Ganztagsschulen wie Campus Rütli sind schön, reichen aber nicht. Wir brauchen an allen Schulen Leute, die dort interkulturell reingehen und vor allem Demokratie und Beteiligung realisieren. Denn wenn deine Eltern Analphabeten sind, können die dir gar nicht mit der Schule helfen. Und dann müsste man sich viel mehr auf die Kids und ihre Eltern einlassen, man müsste auf Augenhöhe reden, sich aktiv mit dem Fundamentalismus und den Frauenrechten befassen. Nicht umsonst hat Neukölln jetzt eine Anlaufstelle gegen Rassismus für Kids bekommen. Es ist dieser alltägliche Rassismus, der die Spaltung zementiert.

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