Die Linke vor ihrem Bundesparteitag: „Wir haben den Schuss gehört“
Ines Schwerdtner und Jan van Aken wollen nächstes Wochenende neue Vorsitzende der Linkspartei werden. Ein Gespräch über neue Pläne und alte Konflikte.
taz: Frau Schwerdtner, stimmt es, dass Ihr Geschichtslehrer über Sie in der Abiturzeitung geschrieben hat: „Die wird mal Vorsitzende der neuen SED“?
Ines Schwerdtner,
35, wurde im sächsischen Werdau geboren, wuchs in Hamburg auf und studierte in Berlin sowie Frankfurt am Main. Von 2020 bis 2023 war sie Chefredakteurin des von ihr mitgegründeten linken Politmagazins Jacobin. Derzeit ist die Redakteurin des Podcastes „Hyperpolitik“ bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung beschäftigt.
Jan van Aken,
63, wurde im schleswig-holsteinischen Reinbek geboren. Nach dem Abitur machte er seinen Zivildienst in Hamburg, wo er auch studierte und bis heute lebt. Von 2004 bis 2006 war er Biowaffeninspekteur für die Vereinten Nationen. Von 2009 bis 2017 gehörte er dem Bundestag an. Auch er arbeitet für die Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Ines Schwerdtner (lacht): Woher wissen Sie das denn? Aber ja, das stimmt.
taz: Sehr vorausschauend, oder?
Schwerdtner: Wie man es nimmt. Er hat ebenso gesagt, er könne sich auch vorstellen, dass ich die Nachfolge von Anne Will antrete. Da hat er nicht so ganz richtig gelegen.
taz: Sie sind erst vor etwa einem Jahr in die Partei eingetreten, an deren Spitze Sie jetzt streben. Eine ganz schön schnelle Karriere, oder?
Schwerdtner: Einerseits ja, aber andererseits kenne ich die Partei, seit ich 17 bin und war ja selber als Journalistin in jedem Winkel, in jeder Strömung unterwegs. Insofern kenne ich sie vielleicht besser als manch andere, die schon länger Mitglied sind, aber sie eben nicht so in ihrem tiefsten Innern beobachtet haben.
taz: Was hat Sie denn davon abgehalten, früher einzutreten?
Schwerdtner: Auf der einen Seite mein Job als Journalistin, weil ich da die Distanz halten wollte. Auf der anderen Seite habe ich immer gesagt, wenn ich da reingehe, dann voll und ganz. Einfach ein inaktives Mitglied zu sein, kam für mich nicht in Frage.
taz: Also entweder Vorsitzende oder gar nichts?
Schwerdtner: Nein, aber für mich stand immer fest, dass wenn ich in die Linke eintrete, dann muss ich mich schon wirklich engagieren. Und das kollidierte vorher mit meinem Engagement in der Gewerkschaft oder meiner Arbeit als Chefredakteurin des Jacobin-Magazins. Jetzt passt es.
taz: Herr van Aken, Sie hingegen sind Mitglied seit 2007 und Sie waren auch schon einmal stellvertretender Parteivorsitzender. 2021 haben Sie sich aus dem Bundesvorstand zurückgezogen. Warum wollen Sie jetzt wieder zurückkehren?
Jan van Aken: Ich habe mich 2021 zurückgezogen, weil es diese absoluten Gegensätze zwischen Fraktion und Partei gab. Wir haben ja damals nicht nur nach außen das Bild abgegeben, dass wir zerstritten sind. Das war auch so. Damals habe ich keine Chance mehr für eine konstruktive Zusammenarbeit gesehen. Jetzt hat sich das BSW abgesplittert und ich glaube, es gibt wieder eine Möglichkeit, dass wir als als Team, als Kollektiv auftreten. Wir haben unsere Talsohle erreicht, aber wir können nun wieder aus ihr herauskommen.
taz: Neun Jahre gehörten Sie dem Bundesvorstand an. Tragen Sie da keine Mitverantwortung für den Niedergang der Linkspartei oder begann der aus Ihrer Sicht erst nach Ihrem Abgang?
van Aken: Da trage ich auf jeden Fall eine Mitverantwortung, das ist völlig klar. Ich habe schon vor Jahren gesagt, dass wir uns von dem Kreis um Wagenknecht trennen müssen, weil es inhaltlich nicht mehr zusammenpasst. Damit habe ich mich nicht durchgesetzt. Mein Fehler war, dass ich nicht noch stärker gedrängt habe, einen Schnitt zu machen.
taz: Frau Schwerdtner, teilen Sie die Einschätzung, dass es schon viel früher zum Bruch mit Wagenknecht & Co. hätte kommen sollen?
Schwerdtner: Ich glaube, dass der Erfurter Parteitag 2022 noch ein Moment gewesen wäre, Teile des Flügels um Wagenknecht einzubinden. Das ist leider nicht gelungen. Bei ihr selbst war wahrscheinlich die Messe bereits vorher gelesen.
taz: Was haben die amtierenden Parteivorsitzenden Janine Wissler und Martin Schirdewan falsch gemacht, was Sie nun besser machen wollen?
van Aken: Wenn Sie so fragen: nichts. Klar machen wir alle Fehler. Aber ich bin den beiden dankbar, dass sie die Linke durch die schlimmsten dreieinhalb Jahre seit ihrer Gründung gesteuert haben. Letztlich hatten sie keine Chance gegen die inneren Destruktionskräfte. Wenn die bekannteste Frau der Partei ein halbes Jahr vor der Bundestagswahl ein Buch veröffentlicht, wo sie schreibt, die Linke ist scheiße, was willst du da als Parteivorsitzende machen? Der Bruch mit Wagenknecht hätte schon vor ihrem Amtsantritt erfolgen müssen. Deswegen werden Sie von mir nichts Schlechtes über die beiden hören. Jetzt ist es gut, dass es einen Neuanfang gibt.
Schwerdtner: Wir haben eine andere Startposition. In der ganzen Breite der Partei scheinen inzwischen alle den Schuss gehört zu haben und bereit zur Zusammenarbeit zu sein. Das war in den vergangenen Jahren noch nicht so. Es gibt jetzt die Chance, dass wir innerhalb der Partei wieder miteinander so umgehen, wie wir es uns auch für die Gesellschaft wünschen. Ich würde das als revolutionäre Freundlichkeit bezeichnen. Mein Credo lautet: Hart zum politischen Gegner und gegenüber dem System, aber freundlich zu den Menschen.
taz: Glauben Sie wirklich, mit dem Austritt von Wagenknecht und der Gründung des BSW ist die Zeit des großen Streits vorbei?
van Aken: Ja, das glaube ich tatsächlich. Wenn ich mir die diversen Vorbereitungstreffen zu unserem Parteitag anschaue, dann herrschte da eine völlig andere Stimmung, als ich sie je in der Partei erlebt habe.
taz: Aber es gibt doch weiterhin große inhaltliche Konfliktpunkte, zum Beispiel in der Friedenspolitik.
van Aken: Also ich bin ja nun seit langem die Friedenstaube der Partei. Meine Position ist: Wir stehen eng an der Seite der Menschen in der Ukraine, gleichzeitig suchen wir nach nichtmilitärischen Lösungen und fordern sie ein. Das ist meines Erachtens innerhalb der Partei extrem mehrheitsfähig.
taz: In der stark aufgeheizten Frage, ob der Ukraine auch militärisch geholfen werden sollte, um der russischen Aggression standhalten zu können, besteht jedoch weiterhin keine Einigkeit.
van Aken: Ich bin gegen Waffenlieferungen, wie wohl auch eine große Mehrheit in der Partei. Dass es bei uns auch Leute gibt, die für Waffenlieferungen sind, damit kann ich leben. Nicht jeder, der dafür ist, ist gleich ein Kriegstreiber, wie auch nicht jede, die dagegen ist, gleich Putin-Freundin ist. Wenn wir uns eingestehen, dass es eine wirklich komplizierte Sachlage ist, dann wird es möglich, Argumente austauschen, ohne sich anzubrüllen. Die zentrale Frage ist doch gar nicht „Waffenlieferungen ja oder nein?“ Sondern: „Wie kommst du zu Friedensverhandlungen?“ Darum geht es und hinter dieser Frage lässt sich die Partei vereinen.
taz: Bis auf Thüringen und die Stadtstaaten kommt die Linke in keinem Bundesland mehr auch nur in die Nähe der 5-Prozent-Hürde. Ist es der Mut der Verzweiflung, der Sie hoffen lässt, dass Ihre Partei noch zu retten ist?
Schwerdtner: Nein, wir sind nicht naiv, sondern haben eine begründete Hoffnung. Es gibt eine paradoxe Situation: Wenn wir zu unseren Kreisverbänden fahren, dann erleben wir dort eine sehr engagierte Mitgliedschaft, die total aktiv ist. Und die wächst sogar und wird jünger. Aber das übersetzt sich derzeit nicht in Wahlergebnisse. Das heißt, wir haben einerseits viele Leute überzeugt, dass es die Linke braucht. Deswegen gewinnt die Linke Mitglieder hinzu, inzwischen sind wir wieder mehr als 52.000. Gleichzeitig haben wir aber Millionen Menschen verloren, die uns nicht mehr wählen, weil sie nicht mehr daran glauben, dass wir für sie in ihrem Leben etwas erreichen können. Diesen Glauben müssen wir ihnen zurückgeben. Alles, was wir zur Erneuerung unserer Partei brauchen, steckt schon in ihr drin. Nämlich in unseren vielen Mitgliedern, denen wir aber wieder eine politische Vision liefern müssen.
taz: Was meinen Sie denn, was Ihre Partei für die Menschen erreichen kann?
Schwerdtner: Egal, ob wir im Parlament sitzen oder nicht, können wir für die Menschen etwas erreichen. Davon bin ich überzeugt. Die Linke wird gebraucht als Partei, die sich vor Ort ganz konkret um die Alltagssorgen der Menschen kümmert und ihnen unbürokratisch hilft. Das geschieht ja auch bereits an etlichen Orten, wo wir eine Anlaufstelle für Menschen sind, die Unterstützung brauchen, und wo wir zum Beispiel Sozialsprechstunden oder Rechtshilfeberatung anbieten.
taz: Wollen Sie der Arbeiterwohlfahrt oder der Volkssolidarität Konkurrenz machen?
Schwerdtner: Wir sind eine sozialistische Partei, die auch den Anspruch hat, ganz nützlich zu sein im täglichen Leben. Das verstehe ich als politische Aufgabe. Ein konkretes Beispiel: Wenn, wie in München geschehen, mehrere 100 Leute mit Heizkostenabrechnungen zu uns kommen, die nicht stimmen, dann bringen wir das ins Parlament und sagen: Hier gibt es ein grundsätzliches Problem mit Vonovia. Das macht ja die Volkssolidarität nicht. Wir wollen den Menschen helfen, aber auch mit ihnen gemeinsam für Verbesserungen kämpfen.
taz: Bei den Wahlen in Sachsen und Brandenburg hat Ihre Partei Gregor Gysi großflächig mit dem Spruch plakatiert: „Mal unter uns, wir würden Ihnen doch sicher fehlen.“ Die Antworten waren 4,5 und 3 Prozent. Warum würde inzwischen so wenigen Menschen im Osten die Linke fehlen?
Schwerdtner: Offensichtlich gab es da einen Glaubwürdigkeitsverlust. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass man die Menschen auch wieder von uns überzeugen kann. Viele werden erkennen, was es bedeutet, wenn eine soziale Opposition im Landtag fehlt.
taz: Bei den Landtagswahlen im Osten sind einst treue PDS- und dann Linke-Wähler in Scharen zum BSW übergelaufen. Was macht die Wagenknecht-Partei besser?
van Aken: Ich glaube nicht, dass sie irgendetwas besser macht. Es gibt zwei große Problempunkte. Der erste ist hausgemacht: Seit Jahren wurden wir in der Öffentlichkeit nur noch über unsere Streitereien wahrgenommen. Wer wählt schon eine dauerstreitende Partei, von der man nicht mehr weiß, wofür sie eigentlich steht? Davon profitieren jetzt ausgerechnet die, die uns in diese Situation befördert haben. Der zweite Punkt ist ein gesellschaftlicher. Wir erleben gerade einen ganz schlimmen Ablenkungsdiskurs: Für alle Missstände und sozialen Verheerungen werden Migranten und Geflüchtete verantwortlich gemacht. Genau dieses Ressentiment bedient das BSW mit seinem sehr klar rassistischen Narrativ. Da wird nach unten getreten, statt nach oben. Als Linke müssen wir dagegenhalten. Wenn wir es schaffen, soziale Gerechtigkeit wieder zur zentralen Frage zu machen, dann wird sich da ganz viel verschieben.
taz: Hat Sie eigentlich der Erfolg des BSW überrascht?
van Aken: Nein, aber ich bin ganz gespannt, wie sich das BSW entwickelt. Wir hatten ja schon mal so eine Hypepartei. Aber wer erinnert sich heute noch an die Piraten?
taz: Wenn der Hype irgendwann vorbei ist, kann es für die Links allerdings schon zu spät sein.
van Aken: Das glaube ich nicht. Es gibt da draußen ein riesiges Bedürfnis nach einer klaren linken Position. Die Ampel legt uns jeden Tag einen Elfmeter auf dem Punkt. Wir müssen den nur noch reinmachen. Das ist mein Ausgangspunkt. Der erste Test ist Hamburg im März nächsten Jahres. Dann werden wir ja sehen, wie stark die Linke ist.
taz: In Ihrer Partei ist gerade viel von Neuanfang die Rede, manche sprechen gar von einer „Neugründung“. Aber was ist das wirklich Neue, außer Ihre Hoffnung, sich weniger zu streiten?
van Aken: Wieder mit einer Stimme zu sprechen, ist die halbe Miete. Zentral wird sein, dass wir uns in nächster Zeit auf ein oder zwei Forderungen fokussieren, für die wir auf allen Ebenen streiten. So haben wir bei Greenpeace, wo ich ja herkomme, immer gearbeitet – und das ziemlich erfolgreich. Da habe ich Kampagne gelernt. Einst hat die Linke gemeinsam mit Bündnispartnern den Mindestlohn mehrheitsfähig gemacht und durchgesetzt. Nun muss sie das beispielsweise für einen Mietendeckel machen.
taz: Und was wäre die zweite Forderung?
van Aken: Bevor wir uns festlegen, wollen wir ab November an hunderttausende Haustüren gehen, um die Menschen zu befragen, was für sie am meisten drängt. Wir wollen herausfinden, was ist eigentlich das, wo die Menschen sofort sagen: Ja, das das würde mein Leben sofort verbessern und ist machbar. Dann werden wir uns entscheiden. Das ist ein neuer Ansatz.
Schwerdtner: Das Problem bisher war, dass wir zunehmend Politik für die eigenen Freunde gemacht haben und weniger für die Menschen, mit denen man normalerweise nichts zu tun hat. Das war nicht unbedingt eine bewusste Entscheidung, sondern erfolgte vielfach unbewusst. Wie wir erfolgreich sein können, hat zum Beispiel die Landtagswahlkampagne von Nam Duy Nguyen in Leipzig gezeigt: gnadenlos mit Tausenden zu sprechen und überall hinzugehen, wo potenzielle Wähler, vor allem auch Nichtwähler, sind.
taz: Neu ist auch, dass Sie für eine Mandatszeitbegrenzung für Abgeordnete auf drei Wahlperioden plädieren. Heißt das, dass Gregor Gysi bei der nächsten Bundestagswahl nicht mehr antreten soll?
van Aken: Nein, das soll für die Listenplätze gelten, die sind das Entscheidende. Da sollten wir als gutes Beispiel vorangehen. Denn ich denke, dass das insgesamt ein Modell für den Bundestag und die Länderparlamente sein sollte, damit das Parlamentarierdasein kein Karriereziel mehr ist. Wenn man all diese verkrusteten und negativen Strukturen im Parlament aufheben will, muss das eigentlich für alle Parteien gelten. Aber wenn Leute vor Ort so verankert sind, dass sie ein Direktmandat holen, dann finde ich es völlig in Ordnung, wenn die das zwei, drei, vier- oder fünf Mal machen.
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