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Die Leiden der Brotspinne

Im Mittelpunkt fürsorgender Aufmerksamkeit der Medien steht eine Göttinger Ex-Geisel

G. K. Chestertons Father Brown, jener leider weitgehend vergessene Detektiv bürgerlicher Befindlichkeiten, empfahl bei der Beurteilung der Frage, ob jemand wirklich ein guter Mensch sei, einen Blick zu tun auf dessen unmittelbare Angehörige: Geht es auch denen wirklich gut? Oder zeigt sich an ihnen, dass sie in Wahrheit den Nimbus der Hauptperson auszubaden und zu ertragen hätten, die – sei es aus Mangel an Antidepressiva, sei es aus gewohnheitsmäßigem Egoismus – genau dann durchdreht, wenn es sich zu bewähren gälte?

Das ist mein einziger Trost, denn seit einiger Zeit leide ich an Wahrnehmungsstörungen: Alle Welt blickt auf die Leiden einer entführten Flöten- und Handarbeitslehrerin, vorbildliche Mutter und Gattin aus deutschen Landen – und ich vermag nichts anderes zu sehen als eine egoistische alte Brotspinne, gewohnt, stets im Mittelpunkt einer fürsorgenden Aufmerksamkeit zu stehen, die im Falle dieser Entführung eine Bewährung stets behaupteter Qualitäten deutlich verweigert.

Diese Auffassung ist selbstverständlich falsch, so werde ich belehrt. Meine Hinweise, dass eine Frau, die sich (Hochzeitstag hin oder her) von ihrem gefangenen Mann trennen lässt und früher schon ihren daheim gebliebenen Sohn ebenfalls im Kreise der Entführten um sich wünschte, vielleicht doch nicht ganz so handelt, wie man es gemeinhin unter selbstlos versteht, ernten wütende Proteste und deutliche Zweifel an meiner sozialen Zuverlässigkeit.

Andererseits stammen wir aus einer Kultur, in deren Märchen der Wolf sich nur mit Mehl bestäuben und ein wenig Kreide fressen muss, um als liebe Mutter durchzugehen, und so bin ich es, der immer misstrauischer wird, was die Wahrnehmungsfähigkeit meiner Landsleute betrifft.

Das zeigt sich gerade angesichts des entfesselten Medienrummels. Wenn in Nordkorea oder sonstwo irgendein Dackelgesicht uns als der weiseste aller Führer von allen Wänden entgegengrinst, ist das die an diesem Ort durchgeführte Operation, dem Kaiser Kleider anzudichten, die es gar nicht gibt. Die Deutschland entsprechende Maßnahme ist es möglicherweise, den Typus Renate Wallert in einem Akt pauschaler Kollektivblindheit zur Mater dolorosa zu erklären. Denn solche Frauen sind es, die zu Hunderttausenden unter uns sind und genau diese Lüge ihrer Umgebung abfordern, damit der Schein ihrer Selbstlosigkeit sich nicht in Luft auflöst: die Mutter, die nicht loslassen kann; die Frau, die nur noch Objekt selbstloser Fürsorge ihres Mannes sein möchte (der dann seine eigenen Bedürfnisse in Handarbeit erledigen darf); das alt gewordene und ewig unzufriedene Mädel – alle diese Bilder (die, auf die konkrete Person Wallert bezogen, unzutreffend sein mögen) sind kollektiv präsent und müssen daher mit großem Getöse zum Schweigen gebracht werden.

Eine andere Ambivalenz bleibt dabei leider unbemerkt – die deutliche Botschaft an alle Geiselnehmer dieser Welt: In jeder Touristenpopulation von mehr als zwanzig Personen befindet sich eine Lehrerin mit vielleicht genau diesen Eigenschaften. Finger weg also von deutschen Reisegruppen!

BERNHARD BECKER

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