Die Kunst der Woche: Körper, Teile, Stoffe

Textiles am Rosa-Luxemburg-Platz: Bei BQ stülpt Leda Bourgogne ihr Inneres nach außen. Bei Mountains zieht Sophia Domagała Raster aus Linien und Fäden.

Ein per Hand mit schwarzem Fineliner beschriebener Rückspiegel ragt ins Bild. Dahinter ist rosa und grau changierend bemalter Stoff zu sehen.

Leda Bourgogne, „No Authority“ (Detail) Foto: Roman März; Courtesy BQ, Berlin und die Künstlerin

Der präfrontale Cortex befindet sich an der Stirnseite des Gehirns. Er ist Teil des Frontallappens der Großhirnrinde und dort verantwortlich für höhere kognitive Prozesse und individuelle emotionale Zustände. Zu seinen Funktionen gehören die Planung zukünftiger Handlungen, das Lösen von Problemen, die Regulation von Emotionen, die Steuerung von Risiken und Angst, moralische Bewertungen und Empathie. Cortex, lateinisch für Rinde, ist eigentlich nicht zu verwechseln mit Vortex, lateinisch für Wirbel, ein Begriff, der kreisförmige Strudelbewegungen von Flüssigkeiten beschreibt oder von Luft oder auch jene inneren Strudel, die Gefühle und Gedanken ineinander wirbeln lassen.

Leda Bourgogne tut es trotzdem. „Prefrontal Vortex“ hat sie ihre aktuelle Einzelausstellung bei BQ genannt. Wie das zu verstehen ist, erklärt die Künstlerin auf einem der vielen kleinen Rückspiegel, die sie in der Galerie verteilt hat: Mit „my prefrontal cortex is a vortex that expands outwards and pulls everything in and spits it out again“ beginnt einer der Textabschnitte, die sie darauf mit Fineliner geschrieben hat. Ihr präfrontaler Cortex also sei ein Strudel, der sich nach außen ausdehnt, alles anzieht und wieder ausspuckt. Ihre Ausstellung führt mitten hinein in dieses Chaos, unter die Haut, in die innere Gedanken- und Gefühlslandschaft der Künstlerin.

Mit samtigem Stoff ausgekleidet hat sie die Galerieräume und in MRT-Grau besprüht. Verteilt darin hängen malerische Arbeiten auf oder mit Stoffen, gebleichter Samt mit Reißverschlüssen, Acryl- und Sprühfarbe auf Leder und Spitze. Ganz genau muss man hinschauen bei einer der textilen Malereien, wie bei Kippbildern, die je nach Betrachtungswinkel eine junge oder alte Frau darstellen, Hase oder Ente. Hat man sie einmal entdeckt die beiden angedeuteten Gesichter im Profil, die sich Rauch in den Mund zu pusten scheinen, kann man sie nicht mehr nicht sehen, aufgemalt auf eine jener Tischdecken, die Großmütter früher an Feiertagen frisch gestärkt auf die Kaffeetafel legten.

Leda Bourgogne: Prefrontal Vortex. BQ, bis 10. Februar (Winterpause: 22. 12.–8. 1. 2024), Di.–Sa. 11–18 Uhr, Weydingestr. 10

Sophia Domagała: LIBERTÉ (être belle), MOUNTAINS, bis 13. Januar (Winterpause: 24. 12.–7. 1. 2024), Mi.–Sa. 12–18 Uhr + nach Vereinbarung, Weydinger­str. 6

Aber auch klassische Leinwände sind dabei, auf diese hat Bourgogne mit Acrylfarbe Körperteile gemalt, ausschnitthafte Einblicke in zärtliche Begegnungen zwischen Menschen oder auch Mensch und Tier. Auf einer weiteren Leinwand hat sie auf strudelig aufgetragene Farbe kleine Plastikorgane wie aus einem Miniatur-Anatomiebaukasten geklebt. Mitten hinein in den Gehirnlappen geht es dann im größten der Räume, in dem Borgogne ein begehbares Spiegelkabinett ausgestattet mit einer Vielzahl weiterer kleiner (Spiegel-)Arbeiten im Inneren aufgebaut hat – oder handelt es sich um ein Spiegelneuronenkabinett?

Um Körper, Sinne, Gefühle und das Fühlen an sich geht es in jedem einzelnen Objekt, wie bei einer Anamnese geben sie Hinweise zu physischen und mentalen Zuständen, die sich aber durchaus auch widersprechen. Der konkrete Befund muss ausbleiben.

Liniert Richtung Freiheit

Seit einiger Zeit schon gehören Streifen und Linien in zumeist vertikaler Richtung aufgetragen zu Sophia Domagałas bevorzugtem malerischen Vokabular. Ganz fremd waren sie ihr als Malerin freilich auch früher schon nicht, als ihre Bilder noch wilder waren, seit guten drei Jahren aber stehen sie bei ihr im Fokus. Die Künstlerin reiht sich damit ein in die kunsthistorische Tradition von Daniel Buren etwa oder Barnett New­man. Erklären lässt sich diese Umorientierung der malerischen Praxis auch mit der ­Coronapandemie, die ja bei allen auf die eine oder andere Weise Lebens- und Arbeitsrhythmen und Blickrichtungen verschoben hat.

Neu bei den Arbeiten, die aktuell bei Mountains hängen, ist nun, dass Domagała diese Streifen nicht mehr malt, sondern näht. Motive überzieht die Künstlerin so mit einem Raster, fügt sie in ihr System ein. Sie benutzt dafür Stoffe, die so dünn sind, dass man durch sie hindurchgucken kann, dass das, was darunter liegt, zart durchscheint. Sie inszeniert dieses neu und anders, bringt Teilaspekte nach vorn, setzt andere zurück, verbirgt und enthüllt zugleich, setzt Dinge hinter Gitter und bringt sie in Form.

Textilarbeit in hellen Rot-, Weiß- und Grautönen. Unter der weißen Schicht scheinen Fotografien hervor.

„Lines and Flowers on Sieverding“, 2022 Foto: Julie Becquart; Courtesy the artist and Mountains

Auch Arbeiten anderer Künst­le­r*in­nen verwendet sie dafür. Bei „Lines and Flowers on Sieverding“ liegen die Nahtlinien etwa über Reproduktionen einer Serie fotografischer Selbstporträts von Katharina Sieverding. Für ihre Serie „Newton Drawings“ benutzt sie Seiten aus einem Band mit Arbeiten des Fotografen Helmut Newton, Auszüge aus Fotostrecken in Magazinen vor allem, die Domagała mit Textmarkern liniert.

Auch die Zeichnungen der kleinen Tochter der Künstlerin sind hier zu nennen, die von Domagała ebenfalls in ihre Arbeiten integriert werden. Ähnlich wie bei Leda Bourgogne spielt die Haptik eine Rolle, auch Körperlichkeit, nicht nur durch die Motive, sondern auch durch das Textile, die Nähte, die zweifellos an Kleidungsstücke erinnern. Frausein, Muttersein, Schönsein sind Themen, die man beim Betrachten der Arbeiten assoziieren könnte. Auf Letzteres weist auch der Ausstellungstitel hin – „LIBERTÉ (être belle)“ – wobei offenbleibt, in welchem Verhältnis sie denn nun zusammenstehen, die Freiheit und das Schönsein.

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Redakteurin für Berlin Kultur, freie Kulturjournalistin und Autorin. Für die taz schreibt sie vor allem über zeitgenössische Kunst, Musik und Mode. Für den taz Plan beobachtet sie als Kunstkolumnistin das Geschehen in den Berliner Galerien und Projekträumen.

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