Die Jahresendgeschichte: Rosemaries Cousinen
Zu Silvester kommen die Cousinen zu Besuch. Sie sind alt geworden, nur eine von ihnen irritierenderweise nicht.
D er Wind fegt um das Haus und wirbelt faulige, braune Blätter auf. Es ist schon fast dunkel, obwohl es erst drei Uhr am Nachmittag ist. Ein Eichhörnchen hockt am moosigen Stamm, Augen wie Glasknöpfe, hypnotisiert, erstarrt, von Rosemaries Bewegung. Rosemarie schüttelt das Schlüsselbund, schon ist es weg. Eichhörnchen sind zu schnell für Rosemaries alte Augen.
„Na schön“, sagt sie zu sich selbst und startet den Wagen. Umständlich zieht sie den Gurt um ihren dicken Mantel. Dabei rutscht ihr die Mütze über die Augen.
„Herrgott!“
Sie zieht die Mütze vom Kopf und legt sie auf den Beifahrersitz.
Der kleine Parkplatz beim Bahnhof ist voll. Sie quetscht sich zwischen einen dieser winzigen Zweisitzer und die Böschung zur Straße hin. Halb steht sie jetzt mit den Rädern auf der Böschung, und als sie mühsam herausgekrochen ist, starrt sie einen Moment auf ihr schräg stehendes Auto. Sie zieht sich sorgfältig wieder die Mütze über ihr spärliches Haar und blinzelt zur Bahnhofsuhr hinüber. Zu früh. Die Hände in den Manteltaschen vergraben, schlendert sie auf dem Parkplatz herum.
„Rosemarie!“
Frieda winkt ihr von der Straße her zu, sie zieht einen karierten Einkaufstrolley hinter sich her, und winkt mit einer vollen Tasche an ihrer anderen Hand, die dabei schwer hin- und her schlägt. Rosemarie winkt zurück.
„Schöne Feiertage gehabt?“, ruft Rosemarie, „Wir sehen uns ja gar nicht. Gestern muss es bald elf gewesen sein“, während Frieda keuchend die Böschung hinabsteigt.
Frieda nickt.
„Viertel nach“, keucht sie, „ Ich war fix und fertig. Bin froh, dass es bald vorbei ist. Es ist ja nicht so, dass man wirklich zu Besuch ist.“ Sie legt vertraulich ihre Hand auf Rosemaries Oberarm und flüstert, als könnte sie jemand belauschen, „Und die Kinder sind doch sehr laut. In unserem Alter …“
„Schrecklich!“, sagt Rosemarie.
„Silvester noch, und dann ist es wieder geschafft.“
Rosemarie nickt.
„Und, Heiligabend im Club?“
Rosemarie zuckt mit den Schultern.
„Die Ente war zäh, aber über den Rest kann man nichts sagen. Der Rotkohl war sogar ganz gut. Und sie hatten einen hübschen Baum, Ingrid Kritzer hat ihn geschmückt, sie hat wirklich Geschmack, wie wir wissen.“ Sie zwinkert. „Ich war zufrieden. Keine Arbeit und nichts. Man geht nach Hause, das war's.“
„Schön den Fernseher an“, sagt Frieda. „Gemütlich.“
Rosemarie nickt.
„Und, mein Gott, du hattest den Kamin an?“
„Die Schornsteinfegerin – glaubt man so was, es war eine junge Frau! – sie sagt, ich kann ihn jetzt ohne Probleme nutzen.“
Rosemaries Augen sind beim Bahnhof, der Zug ist angekommen und einige Menschen verlassen schon die Eingangshalle.
„Da sind sie ja!“
„Eine Schornsteinfegerin?“, sagt Frieda Glanz.
„Da sind sie ja!“, ruft Rosemarie, während sie läuft, so schnell sie eben kann.
„Rosie!“, schreit Roswitha.
„Rosie!“, schreit Rosemarie.
Es ist immer derselbe Scherz, jedes Jahr, am selben Tag, an derselben Stelle. Sie sprechen sich nicht ab, aber es ist immer wieder derselbe Scherz. Kann einen so etwas nicht zutiefst mit Befriedigung erfüllen?
Beide Frauen stellen ihre Koffer ab und umarmen Rosemarie. Cousine Roswitha ist kräftig, aber recht schlank, sie hat ein langes Gesicht, fast wie ein Pferd. Ihre Augen sind immer halb geschlossen, sie sieht die Welt sehr streng, mit diesen halb geschlossenen Augen, und sie ist eine erbitterte Kopfschüttlerin. Sie trägt einem langen, grauen Mantel und ein dickes, mit silbrigen Fäden durchzogenes Tuch darüber. Cousine Laura ist klein und dick, und sie zwitschert wie ein Vogel, meist dummes Zeug, aber niemand nimmt ihr das übel, sie hat ein hübsches, rosiges Gesicht, rötliche Locken, früher echt, heute gefärbt, sie trägt einen roten Anorak und kleine, dick gefütterte Stiefelchen.
Gemeinsam wuchten sie die Koffer in Rosemaries Kofferraum.
„Du parkst etwas eigenwillig“, sagt Roswitha.
„Rosemarie findet überall einen Parkplatz“, sagt Laura.
Vor dem Supermarkt kramen sie jede in ihrer Handtasche nach ihrer Einkaufsliste. Drei Einkaufslisten voller Zutaten müssen sie in den Einkaufswagen packen.
„Es ist wirklich ein Glück, dass du so einen großen Wagen hast“, sagt Laura.
„Ich brauche ihn sonst gar nicht“, sagt Rosemarie. „Wirklich, er steht das ganze Jahr herum. Ich nehme immer den Bus.“
„Ich hoffe, du kannst noch fahren“, sagt Roswitha.
„Natürlich kann sie fahren“, sagt Laura.
„Nicht mehr so gut wie früher“, sagt Rosemarie. „Im Dunkeln fahre ich gar nicht mehr gerne. Ich fahre dann ganz langsam, sehr langsam, sie hupen mich an, ihr werdet es sehen.“
„Na, um mich ist es nicht schade …“, sagt Roswitha. Sie lässt einen Wirsingkohl in den Einkaufswagen fallen.
„Jetzt fängt sie wieder so an“, sagt Laura. „Um dich ist es nicht schade, Roswitha? Um dich ist es nicht schade? Was soll das denn heißen, frage ich mich?“
„Was es eben heißt“, sagt Roswitha. „Wen schert es, ob ich altes Weib morgen noch da bin oder nicht.“
„Mich schert es“, sagt Laura. Sie ist ganz rot im Gesicht, sie hat ganz rote Wangen.
„Sie sagt das doch nur so, um uns zu provozieren“, sagt Rosemarie. „Sie möchte einfach, dass ihr jemand sagt, dass sie toll ist.“
„Ich bin toll“, sagt Roswitha.
„Sie ist auch toll“, sagt Laura fast gleichzeitig, „Sie ist ganz sicher toll. Seht doch mal, wie hübsch sie sich angezogen hat. So ein hübscher Rock!“
Auch andere Gäste des Supermarktes betrachten Roswithas violetten, plissierten Wollrock. Ein Star im weißen Licht des Kühlregals vor den Milchprodukten!
Laura schluchzt: „Ach Gott, ich freue mich so!“
Sie müssen die Einkäufe in Rosemaries unzählige Einkaufstaschen packen, und es sind so viele Taschen, dass sie auch noch Taschen auf den Sitzen und auf ihrem Schoß transportieren müssen, bis sie vor Rosemaries Haus halten. Die grüne kleine Lampe am Fenster des Wohnzimmers streut wenig Licht im neblig düsteren Garten. Vögel flattern vom Futterhaus auf.
„Mein Gott!“, stöhnt Laura, lässt die Einkaufstasche auf den Weg plumpsen und drückt die Hand an ihr Herz, wo es unter ihrem Anorak und dem Busen vielleicht sein könnte.
„Es sind doch nur Vögel“, sagt Rosemarie.
„Ich hab' mich eben erschreckt.“
Im Wohnzimmer bleiben Roswitha und Laura in der Tür stehen.
„Das war die Schornsteinfegerin. Stellt euch vor, eine wunderbare junge Frau, sie hat gesagt, ich kann ihn jetzt ohne Probleme nutzen.“
Ein Widerschein leuchtet auf ihren alten, vom Wind und von der Anstrengung des Einkaufens ohnehin geröteten Gesichtern. Ihre Augen sind allesamt schon etwas klein und gelblich, mit Tränensäcken und vielen Falten drumherum, aber sie glänzen, und Rosemaries Augen funkeln sogar. Denn sie hat dieses prächtige Feuer ganz allein angezündet.
Am Abend gibt es Rosenkohlauflauf und Grießpudding. Sie sitzen in der großen Küche zusammen und sehen sich dabei einen Film an. Rosemarie hat Fernseher in jedem Raum installieren lassen, sie hat sogar einen kleinen Fernseher im Badezimmer aufgestellt.
„Unerträglich“, kommentiert Roswitha, kaut und schüttelt den Kopf.
„Ich kann es nicht mit ansehen, wenn sie so etwas tun“, sagt Laura und legt die Gabel empört neben den Teller. Sie nimmt sie gleich wieder auf und isst weiter.
„Ich bin wirklich froh, dass man mit euch so etwas machen kann“, sagt Rosemarie, „essen und fernsehen.“ „Manche Leute halten das für unkultiviert. Sie sagen, dass man sich unterhalten soll. Und es soll auch ungesund sein.“
„Ich finde es wundervoll“, sagt Laura. „Mir wäre es egal, was die Leute sagen.“
„Dir ist es noch nie egal gewesen, was die Leute sagen“, sagt Roswitha.
„Da muss ich Roswitha leider zustimmen“, sagt Rosemarie.
„Es ist mir vielleicht nicht egal, aber es sollte mir egal sein.“
Sie nicken alle drei, während sie essen und halbherzig dem Film folgen, in dem es um eine Frau geht, die ein Restaurant aufmacht, und der sich allerhand unterhaltsame Hindernisse in den Weg stellen.
„Ich würde kein Restaurant aufmachen“, sagt Rosemarie.
„Himmel, ich auch nicht“, sagt Laura.
„Es ist viel zu viel Arbeit“, sagt Roswitha.
„Aber du könntest es doch, du hast doch so lange in einem gearbeitet“, sagt Laura zu Roswitha.
„Hör mir auf! Neununddreißig Jahre. Meine Füße sehen aus wie Wurzeln, so hässliche Füße hast du noch nicht gesehen, wie alte Wurzeln, den Rest meines Lebens will ich nur noch sitzen.“
„Da sagen sie immer, Laufen soll besser sein als Sitzen.“, sagt Rosemarie.
„Ach hör mir auf!“
Roswitha und Laura sitzen auf mit dunkelgrünem Samt bezogenen Cocktail-Sesseln, die Rosemarie vor vier Jahren auf der Haushaltsauflösung des Pionteck-Hauses ersteigert hat. Die verstorbene Wilma Pionteck war eine wohlhabende Frau und die Möbel allesamt sehr hochwertig gewesen, Rosemarie hätte gern auch noch das wunderbare Esszimmerbuffet erworben, aber dazu hatte ihr Geld nicht gereicht. Rosemarie selbst sitzt auf einem ihrer weniger schönen Esstischstühle und streckt ihre immer kalten Füße dem Feuer entgegen.
„Ich kann es nicht sehen, dass du da auf diesem Stuhl sitzt“, sagt Laura, „willst du nicht lieber den Sessel nehmen, Rosie? Mir macht es nichts aus, auf einem Stuhl zu sitzen, es ist gut für meine Haltung.“
„Ich sitze gut, und wenn du da mit deinem Hintern nicht sitzen bleibst, dann werde ich sofort ins Bett gehen.“
Das Feuer knackt und zischt und kleine Glühpunkte taumeln schwerelos durch das dunkle Zimmer, wie Glühwürmchen im August.
„Warst du denn schon mal draußen?“, fragt Roswitha.
„Was denkst du?“, sagt Rosemarie, „saubergemacht habe ich, obwohl es ja keine Rolle spielt.“
Sie schütteln die zwei weißen und den einen rötlichen Kopf. Es spielt keine Rolle.
„Aber wenn du dir schon die Mühe gemacht hast, und hast alles so schön sauber gemacht …“, sagt Laura.
„Ihr wollt mal gucken?“
Roswitha zuckt mit den Schultern. Sie schweigen und beobachten die Scheite, wie sie glühen und wie sie irgendwann schwarz werden, wie Rosemarie weitere Scheite auflegt, wie die Scheite anbrennen, und ganz neue, heitere frische Flammen ihnen die Gesichter erhellen.
„Es ist ja noch nicht so weit.“
„Natürlich nicht.“
„Aber ein bisschen frische Luft …?“
Eilig springen sie auf, eilig ziehen sie ihre Mäntel und Jacken an.
Es weht immer noch ein scharfer Wind, der einen eisigen Regenschleier vor sich her treibt. Ihre Gesichter sind sofort nass, ihre empfindlichen Augen tränen und sie verkriechen sich tief in ihre Mäntel, die Hände in den Taschen. Die Gerüche sind alt und überwältigend, Rauch, nasse Erde, Moder und Kälte. Winter.
„Die Kartoffeln sind noch gar nicht alle raus“, sagt Rosemarie, „ich habe es einfach nicht geschafft, dieses Jahr. Der Garten sieht gar nicht gut aus.“
„Hilft dir denn Frieda nicht?“, fragt Roswitha.
„Sie hilft mir schon, aber sie ist ja so beschäftigt, das arme Ding. Sie nutzen sie richtig aus.“
Sie umkreisen die Pfützen auf dem hinteren Hof. Rosemarie holt einen großen, alten Schlüssel aus ihrer Tasche und schließt den Schuppen auf. Es ist ein wundervoller Schuppen, groß und stabil, ein richtiges Gartenhaus. Sie klopfen sich an der Schwelle die Stiefel ab. Rosemarie schaltet das Licht an, das nur eine Glühbirne ist, die an einem Kabel hängt. Alles ist hübsch sauber und aufgeräumt. Am großen, in kleine Quadrate unterteilten Fenster steht ein bauchhohes Pflanzregal. Gegenüber ist eine grün gestrichene Holzbank, ein mit Wachstuch bedeckter Tisch, ein Haufen ineinander gestapelter Plastikstühle und an der der Tür gegenüberliegenden Wand steht ein bis an die niedrige Decke reichendes Regal, voll mit Stapeln alter Zeitschriften, Blumentöpfen, Plastiksäcken voller Erde, Holzkisten, gefüllt mir Werkzeug und Holz- und Blechstücken, Drahtspulen, Hammern, kleinere Blechdosen mit Schrauben und Nägeln.
Eine Weile gucken sie in diesen Raum hinein, dann verlassen sie ihn wieder, stapfen über den Hof, durch den Garten, an den ungeernteten Kartoffeln vorbei, in das warme Haus zurück.
„Es ist eben noch nicht soweit“, sagt Rosemarie und holt eine Flasche Weinbrand hinter der Glastür des Wohnzimmerschrankes hervor. Sie schiebt Non Stop Dancing 9 von James Last in die Stereoanlage.
Sie wiegen sich, sie trinken Weinbrand aus goldumrandeten Weinbrandschwenkern und Unmengen heißen Kaffees. Sie essen Pralinen, die Laura auf einem großen, silbernen Teller kunstvoll zu einer Schnecke aufgereiht hat.
Gegen Elf steht Frieda Glanz in der Tür: „Gott, was für eine Energie!“
Sie reibt sich die Augen mit dem Handrücken, als wollte sie sie vollkommen aus ihrem Kopf entfernen. „Ich könnte tot umfallen.“
Aber sie zwingen auch sie zu Weinbrand, Kaffee und Pralinen, und schließlich fährt auch in Frieda Glanz das alte Feuer hinein. Sie dreht die Hüften und wirft die Arme ruckartig nach links und nach rechts. Sie hat einen breiten und ganz flachen, schlaffen Hintern, der unter diesen Bewegungen Wellen wirft wie ein wassergefülltes Kissen. Lauras dicke Brüste tanzen unter ihrer weiten seidigen Bluse wie zwei schwere Bälle, die keinen Halt mehr haben, als eben ein bisschen alte Haut und ein Stück Stoff. Ihre Gesichter verzerren sich, ihre schlaffe Haut wird hin- und hergeschleudert, der Lippenstift auf ihren Mündern, der Lidschatten, das sorgfältig aufgetragene Make-up, es verläuft zu feinen Rinnsalen, bildet ganz neue Muster in den Falten ihrer Gesichter, das dünne gefärbte oder auch nur frisierte Haar ist jetzt zerknittert und flattert zart im Zug zwischen dem undichten Fenster und der undichten Haustür, die Kopfhaut darunter ist verschwitzt, und zittrige Hände verteilen immer wieder, bei jeder Bemühung des Glättens und Zurechtlegens, mit oder ohne Kamm, diesen Schweiß in das dünne Haar. So aufgewühlt und verwildert gebärden sie sich. Tanzen und amüsieren sich, obwohl es nicht einmal ein Feiertag ist.
Bald sind sie zu Tode erschöpft, aber sie waschen und pflegen sich wie gewohnt (solange sie noch am Leben sind!), und gehen erst dann in ihr jeweiliges Bett. Laura schläft bei Rosemarie, Roswitha schläft auf dem Sofa und Frieda Glanz schläft bei sich, in ihrem eigenen Teil des Hauses.
„Noch einen Abend halte ich das nicht durch“, sagt Roswitha beim Frühstück.
Um zwanzig Uhr reiht Laura die Pralinen zu einer Schnecke auf. Da ist noch nichts dabei. Um zwanzig Uhr siebzehn öffnet Rosemarie die Glastür im Wohnzimmerschrank. Um Zwanzig siebenundzwanzig nickt Roswitha im Sessel ein, ihr Kopf fällt zur Seite, und ein krächzendes Geräusch dringt aus ihrem offen stehendem Mund. Sie springt aus ihrem Sessel auf.
„Ich glaube es nicht. Bin ich das gewesen?“
Die anderen beiden lächeln sie an.
„Das ist ganz normal. Das kann jedem passieren“, sagt Laura.
Mit zusammengepressten Lippen, Augen klein wie Schlitze, starrt Roswitha vor sich hin. Dann geht sie zum CD-Player und sucht Non Stop Dancing 8 heraus.
So feiern sie sich bis an den Silvestertag heran. Tagsüber dösen sie in ihren Cocktail-Sesseln, auf dem Sofa, liegen lange im Bett herum. Sie umrunden das Haus, spazieren die Straße auf und ab. Sie hacken Holz. Roswitha hackt Holz. Die anderen sehen ehrfürchtig zu. Roswitha kann mit der Axt umgehen. Sie stellt das Stück Holz auf dem Hackklotz auf, sie kneift die Augen zusammen, legt den Kopf schief, sie spaltet es schon vor dem Spalten, ganz in ihrem Kopf, sie unterwirft es alles ihrem Willen, und dann – Zack – mit Kraft und Eleganz!
Am Silvesterabend ziehen sie sich ihre Kleider an. Rosemarie hat ihr neues Kleid bereits im Club getragen, sie hat sehr darauf geachtet und beim Essen gleich mehrere Servierten über sich ausgelegt. Es ist aus hellgrauer Wolle und hat einen breiten schwarzen Wildleder-Gürtel, in den sie leider mit einem dicken Nagel und einem Hammer ein Loch hinzufügen musste.
Laura trägt ein schwarzes Kleid, das aussieht wie ein langer Pullover, dazu eine Kette aus sehr großen, roten Perlen und goldene Ohrringe, Roswitha trägt einen grünen Rock und eine grüne Jacke, darunter eine dunkelblaue Seidenbluse, und alle tragen sie Feinstrumpfhosen und warme Hausschuhe an ihren Füßen. Sie sitzen ordentlich gekleidet im Wohnzimmer, sie reden wenig. Sie falten die Hände und lauschen in den Abend hinein. Ab und zu steht eine von ihnen auf und geht ans Fenster. Dann sehen die anderen auf, und dann schüttelt die Aufgestandene den Kopf.
„Vielleicht kommt sie gar nicht“, sagt Roswitha.
„Aber Roswitha!“, sagt Laura.
„Ich möchte wissen, warum sie zwölf ist? Sie war sechsundsiebzig“, sagt Rosemarie, die anderen zucken mit den Schultern.
Dicke nasse Flocken schlagen platschend gegen die Scheiben.
„Vielleicht sollten wir den Fernseher anschalten.“
„Mir ist nicht nach fernsehen“, sagt Laura.
Roswitha verdreht die Augen.
„Ist dir denn nach fernsehen? Wenn dir so ist, Roswitha, bitteschön, ich habe nichts dagegen.“
„Und ob du etwas dagegen hast.“
„Das Licht ist angegangen“, sagt Rosemarie. Sie steht am Fenster und hält sich am Fensterbrett fest, als wäre ihr schwindlig geworden.
„Und du wolltest fernsehen“, sagt Laura.
„Das habe ich nicht einmal gesagt!“, sagt Roswitha.
Sie ziehen sich Mäntel und Mützen und Stiefel an und verlassen das Haus.
Warmes Licht strahlt hell durch das Schuppenfenster, und die Pfützen liegen wie kleine, goldene Seen auf dem Hof, umgeben von zart gezackten, in der Kälte erstarrten Schlammgebirgen.
„Mein Gott!“, flüstert Laura.
Vor der Schuppentür bleiben sie stehen. Rosemaries Herz klopft hart in ihrer Brust, und sie ist sich sicher, das ebenso harte Klopfen der Herzen ihrer beider Cousinen zu hören, sie keuchen leise, und ihr warmer Atem steigt als eine ein bisschen goldene Wolke aus ihren Mündern, und einzelne Haarsträhnen von ihren Ponys kleben als Muster auf ihren nassen Stirnen. Es ist wichtig, dass sie sich beruhigen, bevor sie die Tür öffnen, denn sie sind nun mal nicht mehr die Jüngsten.
Sie sind sofort geblendet, aber sie fürchten sich nicht. Alles ist ihnen sofort auf eine Weise vertraut, wie nur das Altbekannte einem vertraut sein kann. Altbekannt schon von Anfang an, als sie, zum ersten Mal, am ersten dieser Silvesterabende, den Schuppen betraten, aus dem Grund, dass er hell erleuchtet war, so wie jetzt. Er ist nicht nur hell erleuchtet, er ist auch warm. Und die Wärme ist keine Wärme einer Heizung, es ist die Wärme des Frühsommers, sie ist gleichmäßig und natürlich, und das Licht kommt auch von keiner Lampe, es ist einfach da, es ist die Sonne, auch wenn die Sonne an sich gar nicht da ist, nicht sichtbar, nur ihr Licht ist da, und ihre Wärme. Es duftet nach frisch gebackenem Brot, und das liegt daran, dass in dem Regal mit den Kisten und der Blumenerde frisch gebackenes Brot liegt. Frischgebackene Brote und einige Brötchen und auch Kuchenstücke, Mohnzöpfe und eckige, dunkle Vollkornbrote auf weißen Baumwolltüchern. Auf der Gartenbank liegen bestickte, alte Kissen, um den Tisch sind die Plastikstühle aufgestellt, und der Tisch ist mit blau-goldenem Porzellan gedeckt. Auf dem Pflanzenregal am Fenster stehen kleine Töpfe, frisch gefüllt mit schwarzer Erde, in denen kleine Pflänzchen stecken. Vor dem Regal aber, in Gummistiefeln, eine Schürze vor dem Bauch und mit Gartenhandschuhen an den zarten Armen, ist ein Mädchen mit dem Pflanzen beschäftigt. Es dreht sich eben um, als sie eingetreten sind, hebt beide schmutzigen Handschuhflächen ihnen entgegen und sagt, „Gott, was seht ihr alt aus! Ich weiß nicht, ob ich mich irgendwann mal dran gewöhnen kann.“
Das Mädchen ist ein ganz gewöhnliches Mädchen, dünn, mit langen Armen und Beinen, sie hat einen großen Mund, schmale Lippen und eine große Nase. Die hellen Augen stehen etwas zu weit auseinander, sie huschen hin und her, sie ist kein ausgeglichenes Kind, ganz und gar nicht, das ist sie nun mal nie gewesen. Ihr Haar ist nicht dunkel und nicht hell, es ist ein mitteldunkles oder mittelhelles Haar, sie hat es schlampig zu einem strähnigen Zopf zusammengebunden, an ihrer Wange klebt Erde, an der Schürze klebt Erde, überall klebt Erde, auch an ihrem zerknitterten hellblauen Baumwollkleid.
„Wir sind nun mal alt, und wir haben uns – Gottseidank – daran ganz gut gewöhnt.“, sagt Rosemarie und küsst Moira auf die rechte Wange.
„Ich werd' mich nie dran gewöhnen“, sagt Roswitha, und küsst Moira auf die rechte und die linke Wange.
„Du bist so hübsch, mein Engel“, sagt Laura und drückt Moira an ihren dicken Busen.
„Ich wünschte, ich könnte mit weniger alten Leuten verkehren“, sagt Moira und zieht sich missmutig die Handschuhe aus und wirft sie auf das Pflanzenregal.
„Wir haben uns wirklich hübsch gemacht“, sagt Rosemarie.
„Das sehe ich“, sagt Moira und verdreht die Augen.
„Du bist ein widerliches, kleines Aas“, sagt Roswitha.
Moira verzieht ihren großen Mund und lacht, so wie zwölfjährige, widerliche Aase nun mal lachen, egal, wie widerlich es ist, es ist auch wunderschön und glockenklar, es ist nur so, dass diese Aase in diesem Alter kaum etwas über solche Dinge wissen, zum Glück, kann man da nur sagen, denn sonst würden sie sich darauf auch noch was einbilden.
Es wird ihnen gemütlich. Sie verteilen sich auf die Gartenbank und die Gartenstühle, betten ihre alten Hintern auf die bestickten Kissen, und kaum haben sie es sich bequem gemacht, tauchen die ersten Schmetterlinge aus den Ecken und Ritzen und Winkeln auf und flattern, was das Zeug hält. Die Wärme, die Schmetterlinge, die Kissen, es macht sie weich und ein wenig müde. Moira schenkt ihnen saure Limonade aus einem Glaskrug ein. Sie trinken, und ihre Körper richten sich auf, als wären sie Ballons, und als würde jemand etwas mehr Luft in sie geblasen haben, sie sitzen gerader, sie spüren keine Arthritis, alles erscheint ihnen frisch und hell. Von nirgendwoher droht Gefahr, nicht vom Alter und nicht von der Welt. Es gibt kein Außen mehr, nur noch ein Innen, voller Schönheit, und das Innen ist ein Schuppen, es ist ein recht großzügiges Innen.
„Wie geht es dir?“, fragt Laura Moira. Sie lachen, willenlos, es lässt sich nicht verhindern. Es fängt im Bauch an, blubbernd, blasenartig, es steigt empor und trägt sie, sie schweben über ihren bestickten Kissen, in Wohlbefinden und mit Leichtigkeit. Kein Unterton, kein Missklang dabei, das reine Glück.
„Mir geht es immer gleich“, sagt Moira und faltet die Hände über ihrem kurzen und beschmutzten Kleid. Ihre Haut ist so jung, ihre Beine wie aus Marzipan. „Und wie geht es euch, ihr alten Cousinen?“
Sie erzählen, jede ihr eigenes Jahr, denn es führt ja jede ein eigenes Leben in ihrer eigenen Stadt. Jede bemüht sich, nicht zu viel zu sagen und auch nichts wegzulassen. Laura erzählt es alles ein bisschen zu schön, schöner als die Wirklichkeit, aber kann man das sagen, wenn es für Laura doch so ist, wenn sie zumindest will, dass es so ist? Ist nicht Lauras Wille auch eine Wirklichkeit?
Roswitha hat manchmal eine etwas zynische Sicht auf die Dinge, aber Moira kennt sie gut und kann es alles sehr gut einschätzen, was Roswitha erzählt und kann sagen, „Ich verstehe, Roswitha, ich verstehe sehr gut, was du damit sagen willst.“ Moira hat nämlich einen ähnlichen Charakter.
Rosemarie sagt, „Es war ein stilles Jahr, und es ist so gut wie nichts passiert, es ist natürlich sehr viel passiert, aber es sind mehr so Dinge, die man am selben Tag ganz gut erzählen kann, am nächsten vielleicht auch noch so halbwegs, aber später dann eigentlich nicht mehr. Zusammenfassend und im Nachhinein kann man nur sagen, es ist so gut wie nichts passiert, auch wenn nichts nicht nichts ist. Sondern einiges.“
Sie trinken immer mehr von der Limonade, die mit jedem Glas, das sie trinken, besser schmeckt, würziger, heller, kitzelnder. Sie lachen, bis ihnen die Bäuche schmerzen, und sie schweben. Schwebend reichen sie sich frisches Brot, und das Brot ist natürlich köstlich. Alles ist köstlich. Auch sie selbst, mit ihren Körpern und ihren Gedanken, sie sind köstlich. Es ist eine durch und durch köstliche Zeit, die sie in diesem Schuppen verbringen.
„Was ich mich frage“, sagt Laura, „was hast du gestern gemacht?“ „Gestern warst du nicht da. Und vorgestern auch nicht. Wir haben nachgesehen. Und das ganze Jahr, was machst du da wohl? Nicht, dass es mich etwas angeht, aber ich frage mich das nun mal, und ich wollte es einfach auch mal sagen, dass ich mich das frage. Es ist einfach so, dass ich es auch sagen muss, wenn ich mich etwas frage, es ist eine Angewohnheit.“
„Ich bin da“, sagt Moira. „Ich habe keine Ahnung von deinem Gestern und von deinem Woanders. Ich bin da. Wenn ich nämlich nicht da bin, wie soll ich dann wissen, wo ich bin, wenn ich nicht da bin? Das geht doch gar nicht. Das ist doch Unsinn! Laura!“
„Aber früher warst du doch woanders, Moira. Wir waren in Karlsdorf beim Kartoffelfest, du und Wilma und Annette Friedrichs. Wir waren doch sogar in Holland, bei dem Kleiderschneider Santje, der deiner Tante Emma-Hertha den Hosenanzug geschneidert hat. Und wo wir überall waren. Das war immer woanders.“
„Denkst du, ich bin blöd?“, Moira zeigt Laura einen Vogel, „Das war doch nicht woanders. Das war immer da. Wir waren nicht woanders, wir waren da.“
Moira springt auf und dreht sich, ihren Porzellankörper, Haut wie aus Marzipan. Sie dreht sich immer schneller, wirbelt herum, bis sie nur noch ein Wirbel ist, eine Täuschung, ein Sausen und Brausen, eine Spule, eine weiße, feurige, Spule – und bremst sich plötzlich ab.
„Immer da“, sagt sie. „Ich bin immer da.“
„Dann hoffe ich, dass es dir hier gefällt, in Rosemaries Schuppen“, sagt Roswitha.
„Das Wetter scheint immer ganz gut zu sein“, sagt Laura.
„Nehmt doch noch einen Schluck Limonade, ihr alten Weiber!“, sagt Moira.
Sie trinken. Sie trinken.
„Ich glaube, ich werde verrückt vor Glück!“, sagt Rosemarie. Ihr Herz klopft. Sie reißt die Augen auf. Sie schwebt unter dem Dach des Schuppens, sie muss den Kopf einziehen. Schmetterlinge wie sie, klein und bunt, tänzeln um sie herum, sie beißt in einen knusprigen Kanten Brot (Und es geht! Es geht. Nichts von schmerzender Halbprothese!), dass die Kantensplitter nur so fliegen.
„Das Leben kann auch schön sein“, sagt Roswitha nach einer Weile.
„Alles können wir haben, alles!“, sagt Laura mit glühendem Kopf und aufgerissenen Augen.
Moira dreht sich und sie wirbelt wieder, so schnell, dass es ihnen schwindelt, ihr zuzusehen, sie dreht sich und dreht sich, die Spule, das Aas, dann wird sie langsamer, trudelt sich aus, wie ein Kreisel, ermattet, ermüdet, kommt langsam zur Ruhe, zum Stillstand, lümmelt sich an das Pflanzenregal, zieht die Handschuhe wieder an ihre kleinen Hände und setzt das Pflanzen fort.
„Ihr seid alt“, sagt sie, ohne sich umzudrehen, „Euch tut alles weh, und zwei von euch werden leider, leider, auf recht schmerzhafte Weise sterben, und sonst, nun ja, macht halt die Augen auf, seht euch nur um, die Leute sind gierig, vor allem aber dumm, sie sind so dumm, so dumm, sie machen alles kaputt, Herrgott, die Welt, wie ihr sie kennt, die Welt ist längst am Arsch. Die Welt ist am Arsch, und es gibt nicht mal ein Aber. Es gibt kein Aber. Nur in dummen Filmen gibt es ein Aber. Dies ist alles Fantasie: Der Wunsch. Die Schönheit. Alles, was wir besitzen. Au revoir.“
Alles ist verschwunden, Moira, das Licht, die Brote, die Wärme. Und natürlich die Schmetterlinge.
„Sie wird jedes Jahr gehässiger“, sagt Roswitha, als sie durch den Garten zurückstapfen.
„Ach nein, sie kam mir nur etwas niedergeschlagen vor“, sagt Laura.
„Ich habe mich so fantastisch gefühlt!“, sagt Rosemarie, „so fantastisch! Ich leg' uns noch einmal Holz auf.“
Roswitha nickt. „Und wir hatten noch nicht Non Stop Dancing 65!“
Katrin Seddig ist Schriftstellerin in Hamburg, ihr besonderes Interesse gilt dem Fremden im Eigenen. Ihr jüngster Roman „Das Dorf“ ist bei Rowohlt Berlin erschienen.
Imke Staats lebt als Illustratorin auf St. Pauli und zeichnet am liebsten Konzerte.
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