Die Insel vor der Festivalstadt Cannes: Endlich Ruhe
Die Festivalstadt Cannes hat zwei Gesichter. Hier der mondäne Boulevard de la Croisette, dort die Klosterinsel Saint-Honorat.
Es sollte der Höhepunkt eines einwöchigen Trips an die Côte d’Azur werden: in den Herbstferien ein bisschen Mittelmeerflair inhalieren und als Krönung zwei Tage in einer der altehrwürdigen Hotellegenden von Cannes verbringen, wo Hollywoodstars wie Scarlett Johansson, Diane Kruger oder Robert de Niro absteigen. Über 400 Zimmer und Suiten, Privatstrand, ein Zweisternerestaurant Palme d’Or und jedweder Luxus.
Wir – meine noch schulpflichtige Tochter und ich – hatten bereits die Parfümstadt Grasse im Hinterland der Küste besucht, uns in den Manufakturen an unzähligen Düften durchgeschnuppert, nun sollte es ans Meer gehen. Und zwar direkt an den legendären Boulevard de la Croisette, der von Palmen gesäumten Flaniermeile, an der die filmreifen Nobelherbergen des letzten Jahrhunderts stehen.
Es dauerte eine Weile, bis ich mich in dem Gewirr aus Einbahnstraßen zurechtgefunden hatte. Aber irgendwann standen wir vor einem riesigen weißen Palast. Auf den ersten Blick hatte sein Anblick etwas Einschüchterndes. Während unsere Augen an der Fassade im Art-déco-Stil mit schmiedeeisernen Balkönchen hochglitten, eilten schon zwei livrierte Hotelangestellte mit einem Gepäckwagen herbei, um unsere Koffer entgegenzunehmen.
Sie ließen sich nichts anmerken, als aus dem kleinen Leihwagen lediglich zwei Bordköfferchen zum Vorschein kamen, mit denen wir problemlos selbst fertigwerden konnten. Ich weiß nicht mehr, ob sie dennoch mit ersuchter Höflichkeit darauf bestanden, sie uns abzunehmen. Auf jeden Fall nahmen sie mir den Autoschlüssel ab, um das Auto einzuparken.
Das Hotel meinte es wirklich gut mit uns und quartierte uns, da Nebensaison war, statt in einem „einfachen“ Doppelzimmer in einer opulenten Suite ein. Ein geräumiges Zimmer mit Terrasse, in dem wir ohne Weiteres eine Cocktailparty hätten feiern können. Allein das Badezimmer dürfte größer gewesen sein als so manches Miniapartment in der Stadt.
Auf einem Tisch stand eine Schale mit Konfekt und einem Willkommensgruß des Managers. Meine Tochter steckte sich gleich ein Praliné nach dem anderen in den Mund. Ich war derweil mindestens eine halbe Stunde damit beschäftigt, mich mit den vielen Schaltern neben meinem Bett vertraut zu machen. Mal ging automatisch eine Jalousie runter, mal setzte eine geräuschvolle Lüftung ein. Aber wo war nun der Knopf für die Nachttischlampe? Ich habe es bis zu unserer Abreise nicht geschafft, auf Anhieb das Deckenlicht ein- oder auszuschalten. Es gibt Schlimmeres.
Dienstbare Geister
Da wie gesagt Nebensaison war, machten die Celebrities einen Bogen um Cannes. Meine Tochter bedauerte das. Sie hatte gehofft, Penelope Cruz zu treffen. Ich dagegen fand, dass das Städtchen gerade in dieser Zeit einen besonderen Charme entwickelt, wenn man ganz unbehelligt durch die Gassen schlendern konnte, die Anwohner wieder Zeit haben, auf dem Markt oder in den umliegenden Bars bei einem Pastis einen Plausch zu halten. Doch im Hotel war man entschieden auf mehr Betrieb eingestellt, und so stürzte sich das dienstbeflissene Personal auf jeden verfügbaren Gast.
Kaum hatte ich mir am endlosen Frühstücksbuffet ein paar Stückchen Obst aufgetan, stand schon ein dienstbarer Geist neben mir, der sich anschickte, mir den Teller abzunehmen und zu meinem Platz zu tragen. Durchquerten wir die Hotelhalle, um nach draußen zu gehen, ertönte es von allen Seiten: Bonjour Madame, bonjour Mademoiselle. Und mindestens drei Personen wünschten uns einen schönen, einen exzellenten oder einen fantastischen Tag. Puh. In was für einen Film waren wir hier geraten? Es blieb uns nichts anderes übrig, als mitzuspielen.
Andere mögen das genießen. Wir – und darin waren wir uns einig – fanden es eher anstrengend. Wir fühlten uns wie Kinder, die von der übergroßen Liebe und Fürsorge ihrer Mutter geradezu erstickt werden. Auf jeden Fall waren wir nach zwei Tagen reif für die Insel. Die zum Glück nur ein paar hundert Meter entfernt war.
Direkt vor der Croisette liegen die Îles de Lérins, eine Gruppe von vier kleinen Inseln im Mittelmeer. Die größte von ihnen, Sainte Marguerite, war früher Gefängnis und ist heute mit ihrem Fort und einem Meeresmuseum Ziel unzähliger Tagesbesucher. Dann sind da noch Saint Ferréol, die Île de la Tradelière – und Saint-Honorat, wo wir noch mal zwei Tage verbringen wollten.
Wir ließen das Auto am Hafen stehen und sagten dem mondänen Leben von Cannes adé. Zwanzig Minuten tuckerte der kleine Dampfer über die Wellen. Die Croisette rückte in immer weitere Ferne, indessen rückte das Inselchen immer näher, wo wir kurz darauf von Bord gingen. Das Erste, was ich wahrnahm, war der würzige Duft von Rosmarinsträuchern und Pinien.
Ruhe und Abgeschiedenheit
Knorrige Steineichen und Aleppokiefern, die der Wind in die Knie gezwungen hatte, neigten sich über felsige Ufer. An manchen Stellen sah es ziemlich wild aus. In der Inselmitte standen stattdessen jede Menge Weinstöcke in Reih und Glied, sorgsam gepflegt und gehegt. Wie wir später erfuhren, werden aus Chardonnay, Syrah, Pinot Noir und Clairette edle Tropfen gekeltert, die auf dem hart umkämpften Weinmarkt Höchstpreise erzielen und auch schon mal bei Staatsdiners im Pariser Élyséepalast ausgeschenkt werden.
1,5 Kilometer lang und bis zu 600 Meter breit, ist Saint-Honorat nahezu unbebaut. Der einzige Gebäudekomplex neben einem Café-Restaurant bei dem Anlegesteg ist die Abbaye de Lérins mit einer neoromanischen Kirche und mehreren Kapellen. Das Kloster wurde zwischen 400 und 410 von Honoratus von Arles begründet und besteht noch heute. Im fünften und sechsten Jahrhundert sollen berühmte Bischöfe aus ihm hervorgegangen sein. Später wurde es mehrfach von Seeräubern zerstört, 1787 aufgelöst und im 19. Jahrhundert von Zisterziensermönchen vom Festland wiederbelebt.
Heute leben hier noch etwa zwei Dutzend von ihnen nach strengem Ritus. Sie legen großen Wert auf die Ruhe in der Abgeschiedenheit. Wer das respektiert, darf sich für ein paar Tage zu ihnen gesellen. Vorher muss man sich etwas umständlich anmelden, was mir gelungen war.
Nach zehn Minuten Fußweg empfing uns der freundliche Mönch, der für Public Relations zuständig war. Der Check-in bestand darin, dass er uns ein Formular ausfüllen ließ und uns über die Regeln im Kloster aufklärte. Dann zeigte er uns unsere Zelle. Und die Besenkammer. Denn abgesehen davon, dass jeder Bettzeug und Handtücher mitzubringen hat, muss er auch sein Zimmer vor dem Verlassen putzen. Was allerdings schnell gemacht ist.
Anders als unsere Hotelsuite gab es hier nicht viel mehr als zwei Betten mit einem freundlichen hellen Bettüberwurf. Von der Größe her hätte die Zelle mindestens zweimal in das Badezimmer im Grand Hotel gepasst. Statt einer langen Leiste von Schaltern gab es hier nur zwei Lichtschalter und zwei Steckdosen. Statt Luxus also spartanische Einfachheit.
Was uns keineswegs enttäuschte. Im Gegenteil. „Guck mal“, rief meine Tochter ganz aufgeregt, als sie aus dem Fenster sah. Direkt davor hingen dicke rote Granatäpfel an einem Baum. Zum Greifen nah. Weiter hinten entdeckten wir Kakis und kleine Orangen. Dazu Olivenbäume und Palmen. Ein Paradiesgarten! Wir atmeten tief durch. Auf einmal fiel die ganze Anspannung des Hotelaufenthalts von uns ab.
Keine Autos, keine Reklametafeln
Gleich machten wir uns auf, die Insel zu erkunden. Liefen am Meer entlang, an Olivenhainen und Weinreben vorbei, hielten mal einen Fuß ins Wasser, das zum Baden leider schon zu kalt war. Als die Sonne unterging, verweilten wir lange bei der Ruine des alten Klosters aus dem 5. Jahrhundert, an dem der Zahn der Zeit, Piraten und Unwetter genagt hatten. Von dem festungsartigen Bau war nur der geheimnisvolle Torso eines Turms übriggeblieben, an dem sich die Wellen brachen.
Ein Natur- und Architekturschauspiel, das durch nichts, was Cannes und die ganze Côte d’Azur zu bieten hatten, zu toppen war. Und mir wurde mit einem Mal klar, dass der wahre Luxus darin bestand, dass wir dieses einzigartige Stück Mittelmeer ganz für uns allein hatten. Keine Autos, keine Reklametafeln, keine Touristenströme und keine Instagramer. Es war, als wäre die Insel aus dem 21. Jahrhundert gefallen. Und wir mit ihr.
„Es gibt in der klösterlichen Gemeinschaft Höhen und Tiefen wie in einer Ehe. Mir hilft auch immer wieder die Schönheit der Landschaft“
Dazu passten auch die Mahlzeiten im Kreis der ein bis zwei Dutzend anderen Besucher, die schweigend eingenommen wurden. Gewiss, es war erst mal komisch und meine Tochter musste ein Glucksen unterdrücken, als wir uns mit Gesten zu verstehen gaben, dass wir gern noch mal von der Zucchinicreme, dem Gemüsegratin oder – ja, das gab es auch – von der köstlichen Mousse au Chocolat nachnehmen wollten.
Erst bei dem anschließenden gemeinsamen Abwasch durfte das Schweigen gebrochen werden. Und jetzt waren alle doch sichtlich erleichtert, beim Abtrocknen der Gläser ein bisschen smalltalken zu dürfen. Unter den Gästen war auch eine Holländerin, doch das Gros bestand aus mehr oder weniger strenggläubigen Franzosen, die häufiger zu Einkehrtagen auf Saint-Honorat kamen.
Bei den Andachten und Messen war es dann wieder ganz still. Keiner wurde dazu gezwungen, teilzunehmen. Und wir waren froh, uns nicht am frühen Morgen für die Vigilmesse aus dem Bett quälen zu müssen. Doch zu den Kompleten, den feierlichen Nachtgebeten, setzten auch wir uns in die spärlich beleuchtete Kirche und verfolgten gebannt, wie die Mönche in ihren weißen Gewändern auf den vorderen Bänken Platz nahmen und einer von ihnen mit stark südfranzösisch eingefärbtem Akzent einen Bibeltext vorlas.
Ich bekam jedes Mal eine Gänsehaut, wenn sie zwischen den Gebeten ihre gregorianischen Gesänge anstimmten. Ein Mittelalterfilm? Wie kommt man dazu, so ein Leben zu führen? Und das Kloster aufrechtzuerhalten, wenn gleich um die Ecke Hochburgen des mondänen Lebens und der Hochfinanz wie Cannes oder Monaco liegen?
Inselkoller inklusive
Frère Gilles, der damals Prior, somit nach dem Abt der zweite Mann in der Gemeinschaft war, hatte auf alle unsere Fragen eine Antwort. Er lebte bereits seit einigen Jahrzehnten auf Saint-Honorat und erzählte uns von der langen Geschichte des Klosters und seiner heutigen Organisation. Dass sich die Gemeinschaft durch den Weinanbau und die Produktion von Olivenöl finanziert und jeder eine bestimmte Aufgabe übernimmt, wobei sie auch mit externen Mitarbeitern zusammenarbeiten.
Er berichtete von der Gefahr durch die vielen Tagesbesucher im Sommer, die Yachten, die im Umkreis der Insel vor Anker gehen und nicht nur die Ruhe der Ordensbrüder stören, sondern auch das ökologische Gleichgewicht des idyllischen Eilands.
Im Verlauf des Gesprächs wurde der Geistliche dann immer persönlicher und stellte sich ganz uneitel den teils naiven Fragen meiner Tochter. Ob die Mönche auch Freizeit hätten und im Meer baden dürfen? „Natürlich dürfen sie das, wenn zwischen Arbeit und Gebeten Zeit dafür ist“, gab er zur Antwort.
„Aber fühlt man sich nicht manchmal eingesperrt hier und bekommt einen Inselkoller?“, insistierte das Kind. Da musste Bruder Gilles länger ausholen. „Zunächst basiert hier alles auf Freiwilligkeit“, meinte er. Und es habe durchaus Mönche gegeben, die sich mit der Zeit für ein anderes Leben entschieden hätten und ausgestiegen seien. Er selbst stammte aus einem christlichen Elternhaus, hatte sich aber in der Zeit um 1968 weit von der Kirche entfernt. „Heute weiß ich, dass mich Gott durch bestimmte Menschen wieder zu sich zurückgeholt hat.“
Aber auch wenn man sich zu den Ordensregeln bekannt habe, mache man immer wieder Krisen durch. „Es gibt in der klösterlichen Gemeinschaft Höhen und Tiefen wie in einer Ehe“, sagte er. Nur dürfen die nicht zu lange dauern. „Mir hilft auch immer wieder die Schönheit der Landschaft. Drüben in Cannes zahlen die Menschen für den Meerblick viele Tausend Euro. Wir haben ihn hier umsonst. 365 Tage im Jahr.“
Seine Worte hallten noch lange in mir nach, als wir wieder auf dem Festland angekommen waren, auf der Küstenstraße im Stau standen und uns mühsam einen Weg durch verbaute Vorstadtsiedlungen bahnten…