Die Höhlen von Lascaux: Im Tal des Menschen
Die Tiermalerei in Frankreichs berühmter Höhle beeindruckte auch Picasso. Die fantastischen Malereien waren 20.000 Jahre verschüttet.
Unfassbar, diese Malereien. Die Höhle von Lascaux ist ein verzaubertes Universum. Hunderte von Tieren um uns herum, an den Felswänden bis hoch zur Höhlendecke. Stiere, Kühe, Pferde, Hirsche. In Bewegung. Es sind kraftvolle, wilde Tiere. Lebensecht. Die Linienführungen genial, die Proportionen ausgewogen. Sie sind geschickt in die natürlichen Felsformationen eingearbeitet.
Wir stehen gedrängt im „Saal der Stiere“. Alle starren fasziniert auf diese Tierwelt. Viele Väter tragen ihre Kinder auf den Armen, die Kleinen sind ungewöhnlich still. Der größte Stier misst über 5 Meter. Daneben Gruppen kleinerer Tiere, vor allem Pferde. Einige der Malereien überlagern sich. Man ahnt, dass hier mehrere Künstlergenerationen am Werk waren.
Während wir uns langsam weiterbewegen, scheinen auch die Tiere wieder in Bewegung zu kommen, galoppierend, springend, gemächlich weiterziehend. Zum „Axialen Divertikel“ hin passieren wir wunderbar gearbeitete Hirsche. Der eine hat uns fest im Blick, sein linkes Auge scheint uns lange zu beobachten. Und dann wieder Pferde und nochmals Pferde. Ganze Herden unterwegs. Ein Pferd stürzt rücklings von einem Felsen.
Das Tal der Vezere: Es liegt nördlich der Dordogne und südöstlich von Perigueux und wird in Frankreich gern auch "Tal des Menschen" genannt. Die Unesco erklärte es zum Welterbe. Die Spuren der Prähistorie sind dicht und vielfältig und vor allem spektakulär. Und sie sind im Zentrum des Vallee, in Les Eyzies-de-Tayac-Sireuil, großartig aufbereitet.
Lascaux II: Das Faksimile der Originalhöhle gibt es seit 1983. Die echte Höhle wurde bereits 1963 wieder geschlossen. www.lascaux.culture.fr. Welterbe: whc.unesco.org. Über die frühzeitliche Malerei informiert Wikipedia, Stichwort: Frankokantabrische Höhlenkunst.
Buchtipps: Begleitband der Ausstellung "Eiszeit - Kunst und Kultur" 2009/10 in Stuttgart; Georges Bataille: "Die Höhlenbilder von Lascaux oder die Geburt der Kunst", Bildband (erstmals 1955), antiquarisch; Jean M. Auel: "Ayla und das Lied der Höhlen". Dieser letzte Band der großen Menschheitssaga thematisiert die ausgemalten Höhlen im Vallee Vezere und Umgebung. München 2011. Ein kundiger Reisebegleiter: Grüner Michelin-Band "Perigord Dordogne", 2012
Film: Werner Herzog: "Die Höhle der vergessenen Träume". 3-D-Film über die Malereien von Chauvet in der Ardeche, ein echtes Höhlenerlebnis, 2011.
Am Faszinierendsten aber ist der Raumeffekt, die Tiefenwirkung. Kaum zu glauben, wie die Künstler die unebenen Felswände mit ihren vielen Buchtungen und Nischen nutzten, um Plastizität und Raumgefühl zu erzeugen. Schraffierungen und Aussparungstechnik, etwa bei Gliedmaßen, unterstreichen den Tiefeneffekt der Malereien.
Kulturerbe der Menschheit
Wer bis heute dachte, dass erst Maler der Renaissance die Perspektive erfanden, wird hier eines Besseren belehrt. Rund 16.000 Jahre alt und älter sind die Malereien von Lascaux. Sie sind „Prähistorie“. Hat die Menschheit danach erst einmal „vergessen“, wie man richtig gut malt?
Viel zu schnell sind wir wieder im Freien. Alle zehn Minuten drängt eine neue Besuchergruppe nach. Lascaux II, das Faksimile, das uns heute offensteht, umfasst nur die beiden Hauptkammern der Originalhöhle. Die echte wurde bereits 1963 wieder geschlossen. 15 Jahre Öffentlichkeit hatten gereicht. Der Zustand der Malereien hatte sich zusehends verschlechtert. Ein Ersatz musste her. Denn Lascaux hatte massenhaft Besucher angelockt und das Weltbild vieler Menschen von den „dumpfen“ Steinzeitlern durcheinandergebracht. Kein Wunder, dass viele Menschen hinter Lascaux Künstler à la Picasso vermuteten, die sich einen Scherz erlaubt hatten. Natürlich besuchte Pablo Picasso Lascaux. Es wird berichtet, dass ihn die Malereien schwer erschütterten. Sein knapper Kommentar: „Wir haben nichts dazugelernt.“
Trotz der Besuchermassen geht es im Eichenwäldchen auf dem Hügel von Lascaux beschaulich zu. Die Tickets müssen bereits in der Ortschaft Montignac gekauft werden, die Gruppen werden vorher eingeteilt. Wir schlendern einige hundert Meter weiter zur echten Höhle. Das Gelände ist umzäunt, ein Schild der Unesco weist auf dieses „Kulturerbe der Menschheit“ hin.
Vallee Vezere strotzt vor Prähistorie
Vier Jugendliche hatten es 1940 entdeckt. Sie suchten ihren Hund, er war in dem verschütteten Höhleneingang abgerutscht. Was unter den Jugendlichen eigentlich ein Geheimnis bleiben sollte, machte dann aber schnell als sensationelle Entdeckung die Runde, als „Sixtinische Kapelle der Vorgeschichte“. Neben Altamira an der kantabrischen Küste (Spanien) und Font de Gaume, gut 50 Kilometer entfernt bei Les Eyzies, ist Lascaux die einzig bekannte multichrome Höhle. Das heißt, dass die Künstler vielfarbig arbeiteten. Sie benutzten Schwarz, Weiß und vor allem Rot, Gelb und Braun. Auch ihre Technik war vielfältig, sie arbeiteten mit Händen und Fingern, mit Pinseln, Stiften und Farbblöcken und pusteten auch die Farbe auf, entweder mit Hilfe von Röhrchen oder direkt mit dem Mund. Für Ritzzeichnungen und Reliefs, die sich vor allem in anderen Höhlen dieser Region befinden, standen ihnen effiziente Steinwerkzeuge zur Verfügung. Und damit erschufen sie Tiere, immer nur Tiere. Mammuts, Pferde, Bisons, Rinder, Hirsche, Steinböcke, aber auch Löwen, Panther, Hyänen und Fische und viele andere.
Das Vallee Vezere strotzt vor Prähistorie. Zwischen Lascaux und Les Eyzies, dem Zentrum, liegen rund 50 Kilometer. Eine sehr reizvolle Flusslandschaft. Wir befinden uns im Perigord, nördlich der Dordogne. Hohe Kalkfelsen säumen die Vezere und ihre Zuflüsse. Für die vielen Kanuten, die auf dem Wasser unterwegs sind, ist es ein großartiges Ambiente. Die Felsen bergen zahllose Höhlen, von denen viele ausgemalt sind. Vor allem große Felsüberhänge, die Abris, sind für diese Felsen charakteristisch. Viele prähistorische Stätten sind der Öffentlichkeit nicht oder nicht mehr zugänglich, andere dagegen sind freizeitgerecht und für die Bedürfnisse von Familien mit Kindern aufbereitet. In der „Höhle der hundert Mammuts“, Rouffinac, fährt sogar ein Elektrobähnchen.
Les Eyzies selbst, das Zentrum, punktet mit einem hervorragenden prähistorischen Museum, mit Ausgrabungsstätten und anderen wissenschaftlichen und Besuchereinrichtungen. Eine interessante Region, in der man sich, historischen Spuren folgend, wochenlang aufhalten kann. Damals allerdings, zu Zeiten der Steinzeitmaler, war diese Ferienregion ein überlebensnotwendiger Lebensraum. Ohne schützende Höhlen, ohne die Nischen und die Abris hätte der Cro-Magnon-Mensch schwerlich Fuß fassen können im heutigen Europa. Die Kälte der letzten Eiszeit, die entsetzlich langen Winter machten Schutz nötig.
Ausdruck der Menschwerdung
Auf halber Strecke nach Les Eyzies machen wir einen Abstecher zum Roque Saint-Christophe, zu einem dieser vorteilhaften Abris, wo man so gut leben konnte. Und wieder überbietet die Anschauung jede Vorstellung. Über 300 Meter lang ist der größte Abri, eine überdachte Plattform auf halber Höhe des Felsens. Als hätte eine Riesenmaschine den Fels gefräst, exakt auf Raumhöhe. Hinzu kommen weitere Abris und Höhlen auf insgesamt fünf Ebenen. Zahllose Besucher flanieren auf der großen Terrasse wie beim Sonntagsausflug auf dem Frankfurter Flughafen. Das Interesse der meisten gilt mittelalterlichen Siedlungsresten. Zum Schutz vor den Normannen wurde dieser Fels einst zu einer befestigten Stadt ausgebaut. In einer kleineren Höhle ist eine wilde Szene unter Neandertalern am Feuer nachgestellt, den ersten, die hier siedelten.
Lebten die Maler von Lascaux vielleicht auch im Schutz dieser Felsen? Welche herausragende Bedeutung hatte der Roque Saint-Christophe vor zwanzigtausend Jahren? Immerhin ist er die größte europäische Höhlenanlage. War er damals vielleicht „weltberühmt“? Vielleicht wussten die Leute aus dem Vallee Vezere, der Ardeche, aus Spanien, Italien, Deutschland, Osteuropa voneinander. Die fantastischen Höhlenmalereien von Chauvet im Tal der Ardeche etwa, erst 1994 entdeckt (die Höhle war über 20.000 Jahre lang verschüttet), sind ebenso alt wie die plastischen Kunstwerke von der Schwäbischen Alb (35.000 Jahre). Und sie sind genauso vital und perfekt wie die späteren (beziehungsweise jüngeren) aus Lascaux. Ob Tausende von Jahren früher oder später und egal wo, die Steinzeitkünstler malten und formten dieselben Motive.
Tatsächlich befördert die Vorzeit Fantasie und Spekulationen. Als sicher gilt, dass den Steinzeitlern ihre ausgemalten Höhlen „heilig“ waren, dass sie sie nur zu besonderen Anlässen aufsuchten. Gelebt und gewohnt wurde vorzugsweise im Freien. Aber warum sie immer nur Tiere malten, ist nach wie vor erklärungsbedürftig. Vermutlich war Jagdzauber mit im Spiel, doch die durch und durch friedlichen Szenen aus der Tierwelt sprechen eher dagegen. Derzeit spricht man gern vom Schamanismus.
Noch 1955 feierte der französische Philosoph Georges Bataille die Malereien in seinem Lascaux-Buch ungeniert als Ausdruck der „vollendeten Menschwerdung“ unserer eigenen Spezies. Werkzeuge herzustellen, den Homo faber zu geben, das konnte auch schon der Neandertaler, meinte Bataille. Erst die Kunst mache den Unterschied. „Es kann keine vollkommenere, menschlichere Erfindung geben als diese Felsmalereien, mit denen, sozusagen, unser Leben beginnt.“ Die Entstehung der Kunst sieht er im direkten Zusammenhang mit dem Werden von Religion.
Die Vergöttlichung der Tierwelt zeige das Sehnen nach einer ursprünglichen, animalischen Empfindung, nach einer Archaik, von der sich Homo sapiens sapiens wegen seiner biologischen Sonderentwicklung entfernt habe und immer weiter entfernen müsse. Wie „Wasser im Wasser“, so beschreibt Bataille dieses „In-der-Welt-Sein“ der Tiere, ein Zustand der „Immanenz“, ungeschieden, gleitend – und überaus faszinierend.
Gut möglich, dass die ausgemalten Höhlen Kultstätten waren, an denen rituell die Versöhnung mit der ursprünglichen Animalität gesucht wurde. Dass die Steinzeitler großen Respekt vor Tieren hatten, liegt auf der Hand. Sie waren eine Minderheit im Verhältnis zur Zahl größerer, vor allem räuberischer, fleischfressender Tiere.
Eine Soezies unter anderen
Zehntausende von Jahren lang gab es immer nur vergleichsweise wenige Lebewesen ihrer Gattung. Einige tausend Jahre lang lebten sie außerdem noch in Kooperation (oder im Kampf?) mit Neandertalern. Sie lebten in mehr oder weniger großen Gruppen, aber verstreut über riesige Gebiete. Nirgends ein Zentrum, keine übergeordnete Instanz. Sie waren nur eine Spezies unter anderen. Ihre Erfahrungs- und Lebensgrundlage muss gänzlich anders gewesen sein als heute. Es gab jedenfalls keinen Grund, sich stolz und anmaßend als Krone der Schöpfung zu empfinden.
Font-de-Gaume bei Les Eyzies ist mit den 14.000 Jahren alten Malereien die aus heutiger Sicht jüngste der ausgemalten Höhlen. Die Höhle wirkt intim und zeitlos schön, von ihrer Höhlenform her bis hin zu einigen der berühmtesten Tierszenen der Malerei. Es hätte so weitergehen können, aber nach Font-de-Gaume war Schluss. Nach über 20.000 Jahren großartiger Kunst. Das Ende der Höhlenmalerei fiel mit der „neolithischen Wende“ zusammen. Die Menschheit wurde sesshaft. Statt Tiere zu malen, wurden sie domestiziert. Nicht unbedingt schön, was da seinen Anfang nahm, aber sehr ökonomisch.
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