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Die Grippe ist daImpfen ist die Zärtlichkeit der Völker

Die Deutschen sind Impfmuffel – auch, was die grassierende Grippe angeht. Dabei ist der Piks nicht nur für den Einzelnen gut, sondern für alle.

Ein kleiner Piks für dich, ein wichtiger für alle Foto: Fabian Sommer/dpa

Die Grippewelle ist da, und sie droht heftiger auszufallen als in den Jahren zuvor. Grund ist unter anderem ein neu aufgetauchter Subtyp, der Mutationen an der Hülle aufweist und dadurch dem Immunsystem besser zu entfliehen in der Lage ist. Ob diese neuen Mutationen auch zu schwereren Verläufen führen, ist aktuell noch nicht klar.

Influenza ist keineswegs ein simpler grippaler Infekt, sondern eine schwere Erkrankung, die in sanfteren Jahren in Deutschland an die 10.000 Todesopfer fordert; in heftigeren Jahren an die 25.000. Gefährlich ist sie vor allem für ältere Menschen und für Vorerkrankte. Für sie ist entsprechend auch die Impfung empfohlen. Sie schützt zwar nicht vor Erkrankung, sehr wohl aber vor einem schweren Verlauf: Bei älteren Menschen sinkt die durchschnittliche Wahrscheinlichkeit, nach Ansteckung ins Krankenhaus eingewiesen werden zu müssen, um 32 Prozent; bei jüngeren Erwachsenen sind es 66, bei Kindern sogar 73 Prozent.

Trotzdem lassen sich selbst Risikogruppen immer seltener impfen. Die Quote bei Ü60-jährigen liegt aktuell gerade einmal bei 38 Prozent. In Baden-Württemberg haben sich laut AOK nur 10 Prozent der Menschen gegen Influenza impfen lassen – ein neuer Tiefstand.

Deutschland ist traditionell ein sehr impfkritisches Land. Das hängt auch mit der zögerlichen Haltung der Ständigen Impfkommission (Stiko) zusammen, die anders als in anderen Ländern sich sehr schwertut, Impfungen zu empfehlen. Während die WHO die Influenza-Impfung für alle Menschen ab sechs Monaten empfiehlt, hat die Stiko sich zu diesem Schritt trotz intensiver Appelle aus der Notfall- und Intensivmedizin immer noch nicht durchringen können.

Impfskepsis der Deutschen

Es liegt auch nahe, die Impfskepsis der Deutschen als Ausdruck eines falschen Learnings aus der Covid19-Pandemie zu deuten. Laut dem Marktforschungsunternehmen Ipsos befürworten nur noch 49 Prozent der Deutschen eine Impfpflicht bei ernsthaften Infektionserkrankungen: 2018 lag der Anteil noch bei 62 Prozent.

Die intensiven Debatten über Nutzen und mögliche Schäden der Covid-Impfung haben vermutlich zu einer allgemeinen Verunsicherung geführt. Grund dafür war sicher auch die Kampagnenfähigkeit deutscher Impfskeptiker*innen, die zu einer wahren Flut von vermeintlichen Post-Vac-Syndromen hierzulande führten: Bis Ende März 2023 kamen fast die Hälfte aller weltweiten Verdachtsfälle auf Impfschäden nach Covid19-Impfung aus Deutschland. Das waren zu dem Zeitpunkt für Deutschland 1.452 Meldungen – das steht in keinem Verhältnis zu der Aufmerksamkeit, die dem Post-Vac-Syndrom zuteilwird.

Angesichts der immer wieder geforderten Aufarbeitung der Covid-Pandemie stellt sich die Frage, inwiefern die Perspektiven von Ex­per­t*in­nen und Gesellschaft hier immer weiter auseinanderfallen. Es ist nicht so, als wäre aus der Pandemie überhaupt nichts gelernt worden: in der Enquete-Kommission des Bundestages beispielsweise werden aktuell – unterbrochen von den hanebüchenen Ausführungen einiger AfD-Abgeordneten – konkrete Verbesserungen in Vorbereitung für kommende Herausforderungen diskutiert, insbesondere eine bessere Ausstattung der Gesundheitsämter, bessere Datenflüsse und die Herstellung und Vorhaltung medizinischer Schutzausrüstung vor Ort.

Was in diesem Gremium aber nicht diskutiert wird, sind die gesellschaftlichen Auswirkungen der Pandemie. Der Versuch, auf soziale Fragen technologische Antworten zu finden, setzt sich auch hier fort.

Das bedeutet für gesundheitlich gefährdete Gruppen eine fortdauernde Individualisierung der Risiken: ein Trend, der gerade insgesamt den Gesundheitsdiskurs durchzieht. Insofern ist eine Impfung auch eine Art persönliche Gegenwehr gegen die anhaltenden Entsolidarisierungstendenzen: einer schwereren Erkrankung vorzubeugen heißt eben auch, im Notfall weniger auf eine verrohende Gesellschaft angewiesen zu sein. Die umgreifende Ideologisierung der Impfdebatten hat dazu geführt, dass solche – traurigen, aber ganz praktischen – Überlegungen für immer weniger Deutsche eine Rolle zu spielen scheinen.

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