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■ Die Grass-Rede hat ein Manko gezeigt: Der engagierte Intellektuelle ist von der Bühne abgetreten. Hierzulande ist er meist BildungsbeamterOhne Worte

Der Verfall einer politischen Kultur läßt sich auch an ihren Wortblasen erkennen. So hat eine Floskel inzwischen Karriere gemacht, die wir landauf, landab auch von grünen Politikern hören oder lesen müssen: „Ich kann nur davor warnen...“ Gewarnt werden: die Öffentlichkeit vor der Stimmung an irgendeiner Basis, Funktionäre vor Einbrüchen bei Wahlen, die Politik vor allgemeinem Realitätsverlust. Mit dieser wichtigtuerischen Formel geben sich die Redner als weitsichtige Diagnostiker ihrer Zeit zu erkennen, die etwas so Unzeitgemäßes wie Moral erst gar nicht mehr bemühen müssen, sondern gleich an den aufgeklärten Egoismus ihrer Adressaten appellieren. Dieser arg auf den Hund gekommenen „Verantwortungsethik“ entspricht dort, wo die Kinder der Freiheit deutsch, aber glücklich sein sollen, die knappe Sprache der Zweiwortsätze. Mit ihnen kann man alles, was sich überhaupt noch sagen läßt, unterbieten. Der Rest ist Schweigen. Der beruhigenden oder frustrierten Feststellung, daß „alles klar“ sei, folgt auf erwartungswidrige Nachfragen allemal die beruhigende Bestätigung: „Kein Thema!“ Sollte sich aber doch noch jemand entrüsten wollen, so reicht es gerade zu einem atemlosen „Ohne Worte!“.

Die politischen Chefs warnen, und keiner hört zu; die umworbene Jugend verstummt und geht ihrem Stiefel nach. Das sind schlechte Zeiten für eine intellektuelle Kultur, die ja auf nichts anderes bauen kann als auf eine präzise, reiche Sprache und sprachbegabte, ja sprachmächtige einzelne, die den unversöhnlichen Streit dem lauen Konsens der Demokraten vorziehen und die Wahrheit stärker lieben als die bis zum Verschleiß beschworene Verantwortung.

Die Auseinandersetzung um Günter Grass hat offenbart, daß die „Individualisierung“ das exakte Gegenteil dessen bedeutet, was einmal – zugegebenermaßen vage – als „Individuum“ bezeichnet wurde. Ein Schriftsteller, eine einzelne, unteilbare Person, gewiß eitel, gewiß verletzlich, hat es gewagt, den Kopf herauszustecken und lediglich zu wiederholen, was vor fünf Jahren noch Hunderttausende bei Protestdemonstrationen wußten und sagten. Das alles ist vergessen, verdrängt und verstummt. Den deutschen Intellektuellen – die französische Öffentlichkeit hat es ebenso bemerkt wie einige hiesige Kommentatoren – ist die Sprache abhanden gekommen, Ulrich Beck ist ihr Nachtänzer, Günter Grass ihr Dinosaurier. Wo sind sie also geblieben, die Intellektuellen – wo sind wir geblieben? Bei der täglichen Soap und der Eigentumswohnung, den Malaisen der mittleren Jahre und dem Wunsch, die Buchmesse heil zu überstehen? Das alte Lied von Korruption und Verrat, wachsender Indolenz und zunehmender Weisheit – was ungefähr auf dasselbe hinausläuft?

Der Vergleich mit Frankreich zeigt, daß biographische Erklärungen dieser Art zu kurz greifen: Eigentumswohnungen, Eitelkeiten und Midlife-crisis finden sich unter der dortigen Intelligenzija mindestens so häufig wie hierzulande. Die Gründe dürften tiefer, in der hiesigen Sozialstruktur und politischen Kultur liegen. Die deutschen Intellektuellen sind verstummt, weil sie, weil wir – anders als in Frankreich – oft Bildungsbeamte sind und damit in das Dreieck von Bildungsreform, Beamtenstatus und Parteien bzw. Verbandskorporatismus verflochten sind.

Mit der Bildungsreform und der damit einhergehenden Verbreiterung und Verbreitung sozialkritischen Wissens von der Professorin bis zum Sozialarbeiter ist der Typus des Intellektuellen als eines herausgehobenen einzelnen inflationiert, ohne daß das gesellschaftliche Ausdrucksvermögen Schritt halten konnte. Da zudem zweitens viele Ex-68er Bildungsbeamte – sprich Professoren oder Lehrer – geworden sind, haben sich die sozialen Bedingungen für reflektiertes Engagement verknappt. Die Spannung zwischen beamtenrechtlich geschütztem Radikalismus à la GEW hier und den Reputationsanforderungen des akademischen Betriebs dort läßt wenig Raum für ein Denken, das, ganz der Sache hingegeben, ohne Rücksichten, im Risiko des Scheiterns, Position bezieht. Diese Rolle ist inzwischen von Dichtern wie Botho Strauß und Peter Handke übernommen worden, die sich von den Intellektuellen des klassischen Typs mindestens dadurch unterscheiden, daß sie sich von jedem Fortschrittsgedanken – auch einem dialektisch gewendeten – abgekehrt haben.

Jene aber, die dem Zeitgeist zum Trotz einem moderaten Fortschrittsstreben anhängen, haben sich in den Fängen des bundesdeutschen Korporatismus verstrickt. Ob sie ihre Einsichten kirchlichen Kammern, soliden NGOs oder Parteien zur Verfügung stellen, ändert daran nichts. Wer früher für Bürgerrechte einstand, nun aber ehrgeizig das schlüssige Modell einer „bürgerfreundlichen“ Verwaltung entwirft, hat die klassische Rolle jedenfalls aufgegeben.

Die klassische Intellektuellenrolle, jenes in diesem Jahrhundert – von Jean Paul Sartre und Simone de Beauvoir, von Albert Camus und Simone Weil, von Theodor W. Adorno und der frühen Ulrike Meinhof, von Antonio Gramsci und Emma Goldmann, von Heinrich Böll und Alexander Solschenyzin, von Rosa Luxemburg und Hannah Arendt – gelebte Ensemble aus moralischer Leidenschaft, dem Bemühen um gesellschaftskritische Analyse und dem Willen zum Engagement, zielte stets auf Befreiung durch Erkenntnis. Sie setzte den Glauben an etwas voraus, was nach Einsicht der systemtheoretischen Sozialwissenschaft unmöglich ist: an ein umfassendes, auf einem privilegierten Beobachterstatus beruhendes Verständnis der Gesellschaft.

Freilich, Günter Grass, der kein Beamter ist und dennoch lange Jahre den Willen zu konstruktiver Mitarbeit im korporatistischen System aufbrachte, hat gezeigt, daß es darum gar nicht geht. Es reicht, das, was tagtäglich in der Zeitung steht, öffentlich, richtig adressiert und mit jenen moralischen Maßstäben vorzutragen, die einem – sofern nicht alles klar oder kein Thema ist – noch verfügbar sind. Für das, was hierzulande an den „Schüblingen“ und in Kurdistan verbrochen wird, lassen sich nämlich sehr wohl Worte finden. Günter Grass gab an, sich für Deutschland zu schämen. Scham aber ist das moralische Gefühl par excellence. Scham über die nationalsozialistische deutsche Vergangenheit war einer der Motoren der Revolte von 1968. Wo aber das glückliche Bewußtsein an die Stelle dieses moralischen Gefühls tritt, schließt sich der Spielraum jeder Politik, und die Welt wird eindimensional. Micha Brumlik

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