Die Filme von Klaus Lemke: Sylvie auf dem World Trade Center
Seine Filme verbanden Punkenergie mit Passion. Oft drehte er ohne Drehbuch und mit Laien. Gerade das macht den Charme des Werks von Klaus Lemke aus.
So einen Gast bedienen die Kellner des piekfeinen Etablissements ungern: Sylvie (Sylvie Winter), ein Fotomodell Anfang 20, bestellt sich Ketchup zu ihren Schnecken, dazu eine Flasche Champagner. „Haben Sie bei dem Champagner einen besonderen Wunsch?“, fragt der Ober. „Eine volle Flasche“, antwortet Sylvie.
Nach der zweiten stützen die Kellner die junge Frau beim Verlassen des Restaurants, und setzen sie in das Taxi von Paul (Paul Lys). So kommt es zu einer folgenschweren Begegnung: Das Model, um dessen Hand kurz zuvor ein reicher, älterer Herr angehalten hatte, und der Tagedieb-Taxifahrer, der eigentlich Seemann ist, tauschen brennende Blicke. Doch ihre Gespräche, stark eingetrübt von zunächst Sylvies, später Pauls Alkohollevel, sind banales Geplänkel. Wie das eben so ist. Denn für das Leben gibt es kein Drehbuch.
In den Jahren 1972, 1973 und 1974 hat Klaus Lemke drei wunderschöne, knallharte und weitgehend drehbuchfreie Fernsehfilme gedreht: In „Rocker“ rächt ein Hamburger Rocker den Tod eines jungen Kleinkriminellen (Paul Lys); in „Sylvie“ entscheidet sich die Protagonistin für den Seemann, der sie am Ende betrunken verlässt; und in „Paul“ torkelt der auch wieder von Paul Lys gespielte Namensgeber als die Welt nicht mehr begreifender Ex-Knasti durch einen von Schnaps angefeuerten Gewalt-Binge.
Die Dialekte der Improvisation
Lange bevor „Dogma“-Filme auf Authentizität setzten, ließ Lemke, der am 8. Juli mit 81 Jahren starb, seine Laiendarsteller:innen improvisieren. Ihre Dialekte (Lys kam aus Hamburg, die Lemke-Schauspielerin Cleo Kretschmer, mit der der Regisseur zeitweilig liiert war, hört man den bayerischen Hintergrund an) gestalteten die Figuren mit, meist waren die „echten“ Leben der Darsteller:innen eh die Grundlage für die Filmideen: Sylvie Winter arbeitete als Model, Paul Lys war angeblich bei einigen Szenen in „Paul“ so betrunken, dass der Regisseur ihn buchstäblich vor die Kamera schubsen musste.
Vor allem aus Lemkes Werk der 70er Jahre spricht trotz der vielen bitteren Story-Aspekte eine jugendliche Unverfrorenheit und Leichtigkeit, die davor höchstens in der Nouvelle Vague oder in dem überschaubaren Werk von May Spils zu finden war. Dazu bewies Lemke in genauen, nahen Milieuporträts seine Hingabe an die Authentizität; seine Liebe zum Genre zeigte sich in seinen Story(skizzen), die ihn mit Regisseuren wie Roland Klick oder Rudolf Thome verband.
Lemkes Figuren sind Getriebene – aber sie lassen sich gern treiben. In „Sylvie“ fährt Paul das vor der Hochzeit geflohene Model auf dem Weg zum Fotoshooting in New York zum Flughafen, und spinnt dabei unablässig belangloses Seemannsgarn. Kurz vor dem Boarding-Aufruf küsst er sie plötzlich. Sie lässt es geschehen, und antwortet auf seine Frage, ob sie wiederkommt, mit „Nein“.
Lemkes Editor Peter Przygodda (der auch fast alle Wim-Wenders-Filme schnitt) hat eine beeindruckende Totale des World Trade Center angeschlossen: Die aus einem Hubschrauber filmende Kamera schraubt sich langsam an den im Sonnenlicht gelblich glänzenden Türmen hinauf, die bei den Dreharbeiten noch nicht offiziell eröffnet waren – Lemke hatte in Kamikazemanier ohne Genehmigung gefilmt.
Hoch oben auf dem Dach des einen Twin Tower sieht man, erst als kleinen Punkt, dann näher, wie eine Frau wild herumhüpft, sich dreht, und ein Fotograf sie dabei knipst. Es ist Sylvie, die später in 415 Metern Höhe auf einer Balustrade herumlungert und von ihrem Flirt mit dem Taxifahrer zu Hause in München berichtet. „Jetzt will ich doch wieder zurück“, sinniert sie. Darunter hat Lemke die spannungsvoll-rhythmischen Anfangstakte von „Masterpiece“, einem Song der Temptations gelegt. Zusammen ergibt all das eine eindrucksvolle, ikonische Szenerie, für die man gehörig Traute braucht.
Ein Selfmade-Macho
Obwohl Lemke wohl eher „Eier“ gesagt hätte. Der 1940 im heutigen Polen geborene und in Düsseldorf aufgewachsene Underground-Regisseur gab leidenschaftlich gern den trockenen Selfmade-Macho. 2015 sagte er zu einem Fernsehreporter: „Meine Markenzeichen sind meine Mütze, meine Kurzsichtigkeit, und das dritte: Ich tu zweimal täglich onanieren.“ Er steht dabei lässig in Jeans und T-Shirt neben dem konsternierten Journalisten, der das Gespräch schnell auf Lemkes Entwicklung als Regisseur umschwenkt.
„Ich war hässlich und bin nicht an die Mädchen rangekommen“, das sei der Grund für seine Berufswahl gewesen, erzählt Lemke. Nach einem abgebrochenen Philosophiestudium und ein paar Erfahrungen als Regieassistent am Theater begann er mit 25 Jahren, Filme zu machen, seinem 1967 entstandenen schwarz-weißen Langfilmdebüt „48 Stunden bis Acapulco“ hört man die Genre-Action bereits im Titel an: Um reich zu werden, versucht ein junger Mann, in Mexiko einen Coup durchzuziehen. Er gerät dabei an die falschen Leute, die seine Lebenszeit verkürzen wollen.
Der stark stilisierte Film wurde mit geschulten Schauspieler:innen produziert – was Lemke anscheinend im Ergebnis nicht überzeugte: Er habe nie Skrupel gehabt, Leute aus seiner direkten Umgebung zu nutzen, erzählte er 2015 dem Fernsehreporter. „Damals war ich mit so ner kleinen Schlampe aus Hamburg zusammen, die hieß Iris Berben“, sagt er, während der Journalist sein seriöses Interview endgültig in weite Ferne rücken sieht.
Über den mit starkem Akzent sprechenden Schauspieler Wolfgang Fierek, den Lemke in den rührenden Tragikomödien „Idole“, „Arabische Nächte“ und „Amore“ besetzte (Letzterer 1979 mit einem Grimme-Preis ausgezeichnet) sagt er: „Das ist fabelhaft, dass den niemand versteht, denn dann weiß auch niemand, was für einen Unsinn er redet“.
Liebeskomödien mit Ex-Freundinnen
Und doch steckte hinter der ausgestellt-coolen Bad-Boy-Attitüde eine riesengroße und dringliche Filmliebe und eine starke Haltung: Lemke teilte vor allem in Richtung Filmförderung und Mainstream aus, und war – mit zunehmendem Alter wuchs auch seine Ignoranz – sicher, dass Filme durch ein höheres Budget nur schlechter werden können. Darum blieb er bei Liebeskomödien mit Ex-Freund:innen und nannte seine Werke bedeutungsschwanger „Undercover Ibiza“ oder „Das Flittchen und der Totengräber“.
Berlin fand der Wahl-Schwabinger, der fast ausschließlich Fernsehfilme inszenierte (und diese aufgrund der speziellen Urheberrechtssituation somit durch Songs der Rolling Stones oder Elvis Presley verschönern konnte) erst nach dem Jahr 2000 frei, wild und jung genug für ein paar Berlinfilme mit neuen, authentischen (beziehungsweise Laien-) Darsteller:innen wie Saralisa Volm und Henning Gronkowski. Beide sind übrigens inzwischen Regisseur:innen geworden – Lemke nutzte Talente „aus der Umgebung“ also nicht nur, sondern weckte nachhaltig etwas in ihnen.
Dass Lemkes Ideen, seine Rollenzuschreibungen und auch seine Filmsprache nicht ohne Genderklischees blieben – normschöne, junge Frauen tanzen in seinen Filmen gern mit geschlossenen Augen in Bikinis herum und sind ohnehin stets Sklavinnen ihrer Sentimente –, verwurzelte sein Schaffen, das in diesem Jahr nochmal ausgiebig beim Münchner Filmfest gewürdigt wurde, in einer bestimmten Zeit. Doch zur Provokation der Angepassten gehörte für den von allen Normen und Konformismen emanzipierten Lemke auch, die „politisch Korrekten“ zu provozieren. Seine Filme verbanden Punkenergie mit Passion. Und machten ihn so zu einem echten Freigeist.
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