Die 68er als ödipale Revolte gegen die Väter: Ikonen, wieder verflüssigt
"Wer wenn nicht wir" von Andres Veiel ist ein kluger Spielfilm über die Radikalisierung der 68er (Wettbewerb) und die Geburt des linken Terrorismus in Westdeutschland.
Es beginnt wie ein subtiler Horrorfilm. Eine Katze frisst einen Jungvogel. Ein kleiner Junge, Besitzer der Katze, versteckt sie im Schuppen. Abends sieht er, wie der Vater mit einer Flinte im Schuppen verschwindet. Man hört einen Schuss. Dann sitzen Vater und Sohn im Wohnzimmer. Der Vater sagt "Katzen gehören nicht zu uns. Sie sind die Juden unter den Tieren". Der Vater sagt dies nicht bösartig, eher im milden Ton pädagogischer Belehrung. Der Junge sieht aus wie jemand, der an etwas schuld ist.
In dieser Szene steckt das ganze Drama von Bernward Vesper, dessen Romanfragment "Die Reise" in den späten 70er Jahren als Generationsroman gelesen wurde. Sein Vater Will war ein Blut-und-Boden-Dichter, der Sohn erst ein entschlossener Verteidiger des NS-Vaters, dann ein radikaler 68er. Bernward Vesper (von August Diehl überzeugend zwischen Jungschriftsteller-Arroganz und Depression dargestellt) ist ein ewiger, tragischer Sohn. Egal, was er tut, er entkommt dem Bann des Vaters nicht. Nicht als rechter Rebell, nicht als linker Rebell. "Wer wenn nicht wir" erzählt die Geburt des linken Terrorismus im Westdeutschland der Sechzigerjahre als Familienroman. Bei Vesper mündet die Revolte in der Selbstzerstörung, bei Gudrun Ensslin in der Militanz.
Andres Veiel ist Dokumentarfilmer. Manche seiner dokumentarischen Arbeiten sehen aus wie Spielfilme. Da werden Unfälle nachinszeniert, gewaltige Banktürme per Kamera vom Helikopter fotografiert wie in Hollywood-Filmen. So wie "Black Box BRD" mitunter wie eine Fiktion wirkte, so erscheint "Wer wenn nicht wir" halb dokumentarisch.
18. 2., 12 und 23 Uhr, Friedrichstadtpalast; 18.30 Uhr, Eva Lichtspiele; 19. 2., 17.30 Uhr, Urania.
Veiel nähert sich den Figuren mit einer Art fast skrupulöser Loyalität. Nur keine Klischees. Gudrun Ensslin (Lena Lauzemis) schrumpft nicht zur fanatischen Moralistin. Sie ist eine komplexe Figur, mal suchend, mal liebend, verletzlich und schroff. Nur Andreas Baader (Alexander Fehling) ist, wie in fast allen RAF-Filmen, nicht viel mehr als eine Ansammlung extremer Gesten, mal androgyn, mal brutal. Dass Baader blass und bloß zeichenhaft bleibt, ist kein Wunder. Anders als Vesper und Ensslin fehlt ihm in "Wer wenn nicht wir" die familiäre Verortung. So ist er in diesem Familienroman der Fremde, der die Katastrophe beschleunigt.
Vespers Leben und Sterben ist längst zum Beweis für die These geronnen, dass 1968 eine ödipale Revolte gegen die Väter war, Ensslin zum Beweis, dass der Terrorismus in dem strengen Moralismus schwäbischer Pfarrhäuser wurzelte. Diese Deutungsmuster hat Gerd Koenen 2003 in der Studie "Vesper, Ensslin, Baader" klug in Anführungszeichen gesetzt und Vesper und Ensslin als verzweifeltes Liebespaar geschildert. Wie Koenen gelingt es Veiel die zu Ikonen erstarrten Ensslin und Vesper wieder zu verflüssigen - jedenfalls bis die Revolte beginnt. Veiel glücken die psychologische Skizze, die mit feinem Strich gesetzten Andeutungen familiärer Verkettungen, auch die kammerspielartige Darstellung der Dreiecksbeziehung zwischen Vesper, Ensslin und einer Freundin Anfang der 60er Jahre.
Mag sein, dass sich diese Stärke, die nuancierte Inszenierung von Beziehungsgeflechten, erst in einer längeren Fassung entfaltet. Doch dieser vorsichtige, bedächtige Stil taugt für mittlere Gefühlslagen - nicht für die Revolte, Entgrenzung und Selbstzerstörung. Gerade feierten Ensslin und Vesper noch adrett im Anzug ihre Verlobung, kurz darauf brennen Kaufhäuser.
Für diese Beschleunigung, das Rasen der Zeit 1968, findet Veiel keine eigenen Bilder. Vespers von Drogen beförderte Schizophrenie wirkt plakativ inszeniert, Ensslins selbstzerstörerische Neigung ebenso. "Wer wenn nicht wir" ist ein geschichtspolitisch kluger Film, fern von billiger moralischer Verurteilung, fern von dem Action-Naturalismus von "Der Baader Meinhof Komplex". Vernünftig, durchdacht, meist genau inszeniert. Was fehlt, sind Bilder für das Abgründige, Groteske. Und der leise Horror der ersten Szene bleibt ein uneingelöstes Versprechen.
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