Deutschlands maue Debattenkultur: Das Intellektuellendilemma
Nach dem Krieg sprach der Intellektuelle über Schuld. Heute hat er ein Problem: Nichts polarisiert wie die Vergangenheit. Worüber also reden?
„Pinscher“ nannte Bundeskanzler Ludwig Erhard mit liebevoller Verachtung die deutschen Intellektuellen. Er konnte sich des Beifalls der Mehrheitsgesellschaft sicher sein. Das war 1965. Wenige Jahre später wendete sich das Blatt.
1968, im Jahr der Revolte, veränderte sich auch das Verhältnis der Republik zu ihren Vordenkern. In der Folge wurden neue Bezeichnungen für jene ausprobiert, die sich, ohne politisches Amt, in die Belange der Politik einmischten, um Missstände anzuprangern. Die Pinscher mauserten sich zu Verteidigern der Freiheit und streitbaren Demokraten.
Damals entstand das Vokabular, das wir jetzt wortgetreu in den Nachrufen auf jene erste Generation von „unbequemen“ Zeitgenossen der zweiten deutschen Republik wiederfinden. „Intellektueller“ wurde in Deutschland der neue Übername für engagierte Menschen, die von ihrem Verstand öffentlichen Gebrauch machten.
Aus eben diesem Jahr 1968 stammt eine Art Definitionsversuch, der dem Intellektuellen bescheinigt, nicht das Partikulare, sondern das Allgemeine im Blick zu haben: so sehr, dass er selbst die eigene Besonderheit auslöschen will.
Wo sind bloß unsere Intellektuellen? Die Titelgeschichte „Auf der Suche nach Adorno“ lesen Sie in der taz.am wochenende vom 29./30. Juni 2013. Darin außerdem: „Die verneinte Idylle“: Eine Fotoreportage über sterbende Dörfer. Und der Streit der Woche zur Frage: "Stuttgart, Rio, Istanbul: Schafft Wohlstand Protest?" Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Der Grundkonsens war „Antifaschismus“
Nur wer bereit sei, „im Namen des Allgemeinen das Besondere in ihm selbst und damit überall zu bekämpfen, ist ein Intellektueller,“ meinte Jean-Paul Sartre, der französische Großintellektuelle des 20. Jahrhunderts. Offenbar beflügelt vom Zeitgeist, fand er Grund und Mut, diesen definitorischen Trompetenstoß um den Fundamentalsatz zu erweitern, „daß kein Intellektueller existiert, der nicht ’links‘ ist“. So sieht man es seither vor allem in Deutschland, während sich Frankreich, das Mutterland der Intellektuellen, längst von solcher politischen Einäugigkeit verabschiedet hat.
Blicken wir zurück. Nachdem aus dem Volk der Dichter und Denker im NS-Staat das der Richter und Henker geworden war, konnte kritisches Denken in der neuen Republik nur ein Ziel haben. Der exemplarische deutsche Intellektuelle der Nachkriegszeit, Theodor W. Adorno, fasste es in den kategorischen Imperativ, alles sei dafür zu tun, „daß Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts ähnliches geschehe“.
Und er ließ keinen Zweifel daran, dass eine Wiederholung nur auszuschließen sei, wenn die weiter existierenden gesellschaftlichen – sprich: kapitalistischen – Grundlagen radikal verändert würden: „Die Gefahr ist objektiv; nicht primär in den Menschen gelegen.“ Diese antikapitalistische, ganz im Sartre’schen Sinne linke Perspektive war in Westdeutschland vor 1968 die einer kleinen Minderheit, die nahezu ein Monopol auf Kritik innehatte.
Christian Schneider, 62, ist Sozialpsychologe. Er lehrte an den Universitäten Hannover und Kassel und forschte zur Generationengeschichte des Nationalsozialismus. Zuletzt hat Schneider für die sonntaz die nächste Politikergeneration porträtiert. Von Boris Palmer bis Ilse Aigner finden sich seine Texte unter taz.de/diagnose1 bis taz.de/diagnose6
Die richtige und die falsche Seite
Mochten in Staat, Wirtschaft, Politik und Verwaltung noch alte Nazis zuhauf wichtige Funktionen innehaben: Der „Geist“ hatte, Schreckschussgewehr bei Fuß, links zu stehen. „Antifaschismus“ hieß, über die politischen Systemgrenzen hinweg, der Grundkonsensus der kritischen Intelligenzija. Mit Blick auf die Geschichtskatastrophe war es unverrückbares Programm und Gebot jedes Intellektuellen, dem Adorno’schen Imperativ zu folgen. Der Parole „Nie wieder“ war der Gestus der Mahnung eingeschrieben, eine Wiederholungsphobie, die die alte „welthistorische Alternative“ von Faschismus und Sozialismus wiederaufleben ließ.
Damals, in den zwanziger und dreißiger Jahren, gab es scheinbar glasklar eine richtige und eine falsche Seite samt der moralisch fordernden Frage „Which side are you on?“ Diese schöne Dichotomie war nun der viel unklareren Ost-West-Konfrontation mit ihren vielgestaltigen Ambivalenzen gewichen. Ja, wo stand man nun eigentlich als letztlich pro-westlicher Kapitalismuskritiker in einem geteilten Land und einer durch und durch antikommunistischen Gesellschaft?
„Der Intellektuelle in unserer Zeit ist ein politischer Neurotiker“, konstatierte der Schriftsteller und Exkommunist Arthur Koestler 1953. „Er trägt einen eigenen Eisernen Vorhang in seinem Schädel.“ Die westdeutschen Intellektuellen lebten in einer schizophrenen Situation. Ihr aus dem Antifaschismus erwachsender Anti-Antikommunismus, damals eine durchaus ehrenwerte Option, machte viele auf dem linken Auge blind. Gerade nach 68 wurde es deutlich. Während sich in Frankreich spätestens Mitte der siebziger Jahre mit dem durch Solschenizyn ausgelösten Gulag-Schock der Blick der Intellektuellen auf den Kommunismus und die UdSSR radikal wandelte, war in Deutschland keine Rede davon: Man blieb linientreu.
„Der deutsche Intellektuelle“, so schrieb im Herbst des Staatssozialismus der ostdeutsche Dichter Rainer Kunze, „hat einen besonderen Hang zu in sich geschlossenen Denksystemen, und in denen hält er stand wie ein Zinnsoldat, der auch dann nicht schmilzt, wenn die Wirklichkeit außerhalb seines Denksystems die Hölle ist.“
Nichts beweist das mehr als das Epochenjahr 1989. Dass der Ereigniszusammenhang, für den „89“ steht, noch wenig begriffen, ja kaum in die deutsche Denkgeschichte integriert ist, hat viel mit der intellektuellen Tradition des Anti-Antikommunismus und der Fixierung auf die rechte Vergangenheit zu tun. Sie impliziert eine bis heute wirkende, an die Altershierarchie des Vatikans erinnernde Fixierung auf bestimmte Leitfiguren.
Es muss nachdenklich machen, dass nach wie vor Günter Grass die Rolle des Topintellektuellen der Bundesrepublik besetzen kann. Er baute sich seinen moralischen Denkmalsockel durch furiose Anklagen gegen alte Nazis, wortreiche Attacken gegen das Verschweigen der NS-Vergangenheit. Dass das Amt des Klägers auch den Sinn haben kann, ihm selber Immunität zu verschaffen, gehört zur Geschichte der deutschen Intellektuellen nach 1945.
Bezahlt wird mit Aufmerksamkeit
Es ist mehr als bittere Ironie, dass einige aus der alten Garde intellektueller Chefankläger mittlerweile als Nazimitläufer (oder mehr) geoutet sind: Es ist ein Symptom. Die rigorosesten Moralattacken pflegen gerne von denen zu kommen, die damit ein eigenes Schuldproblem bewältigen wollen. Auch wenn diese Problematik sich, aus biologischen Gründen, mittlerweile bald erledigt haben wird – aufgearbeitet ist sie bei weitem nicht.
Derzeit erleben wir wenn nicht das Ende, so doch einen Funktionswandel der alten „Nie-wieder“-Mahnkultur. Das Paradigma verliert an moralischer Bindungskraft, der erigierte Zeigefinger stochert immer häufiger hilflos in der Luft.
Wofür ereifern sich Intellektuelle heute? Mit welchem Grund, welcher Legitimation? Gibt es noch Themen, die ähnlich polarisieren, ähnlich moralisierbar sind wie die aufregend mörderische Vergangenheit? Und die Währung garantieren, in der Intellektuelle sich bezahlen lassen: öffentliche Aufmerksamkeit?
Denn das vergaß Sartre zu sagen: So sehr sein idealisierter Intellektueller das Allgemeine im Blick haben mag – er tut es nicht zuletzt zur Pflege seiner höchstpersönlichen Besonderheit, die er angeblich bekämpft.
Nicht dass man es unbedingt kritisieren muss. Aber man könnte darüber nachdenken.
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