Deutschlands desaströse Umweltbilanz: Verpasst oder verschoben

Von Artenvielfalt bis Klimaschutz: 2020 sollen in der EU und in Deutschland viele Umweltziele erreicht werden. Aber die Aussichten sind düster.

Kahle Bäume von unten Richtung Himmel fotografiert

Auch beim Waldschutz hinkt die Politik hinterher: statt 5 nur 3 Prozent Wildnis Foto: dpa

BERLIN taz | „Es ist nicht immer alles schlecht“, schrieb Bundesumweltministerin Svenja Schulze (SPD) kurz vor Jahresende 2019 auf Twitter. Und präsentierte „Erfolge in der Umweltpolitik“, darunter das Klimaschutzgesetz, das Verbot von Plastiktüten, den CO2-Preis, den Wildnisfonds oder das Aktionsprogramm Insektenschutz. Ihr Fazit: „In den vergangenen zwölf Monaten haben wir in der Umweltpolitik viel erreicht.“

Der Blick nach vorn ist deutlich trüber. Denn 2020 wird zeigen, dass viele offizielle Ökoziele in Deutschland verpasst, verschoben oder vergessen werden. Beim Klimaschutz, der Artenvielfalt, beim Ressourcenverbrauch und dem Schutz von Luft, Wasser und Boden werden die offiziellen Ziele reihenweise nicht erreicht, ergibt eine taz-Übersicht. Zwar wird offiziell erst am Ende des Jahres abgerechnet, aber schon jetzt ist deutlich: 2020 leistet die Bundesrepublik Deutschland einen umweltpolitischen Offenbarungseid.

Dabei sieht die deutsche Ökobilanz auf den ersten Blick gar nicht so schlecht aus. Manche Ziele für 2020 werden erreicht oder gar übertroffen: Der Anteil des Ökostroms an der Elektrizität sollte nach Regierungsplänen bei 35 Prozent liegen, 2019 waren es im Schnitt etwa 43 Prozent. Die EU erfüllt ihre Klimaziele für 2020, und Deutschland hat einen großen Anteil daran. Und zum ersten Mal hält die Bundesrepublik den EU-Grenzwert für Feinstaub in der Luft ein – der allerdings schon seit 2005 verpflichtend ist.

Das zeigt das Problem. Denn Ziele wurden und werden gern niedrig angesetzt (das EU-Klimaziel liegt bei nur 20 Prozent Reduktion der CO2-Emissionen). Bleiben sie ehrgeizig, werden sie oft nur mit großer Verzögerung erreicht – oder gleich nach hinten verschoben.

Zeitliche Zielmarke wird verschoben

So wie beim wohl bekanntesten verpassten Versprechen: Dem deutschen Klimaziel: 40 Prozent weniger Treibhausgase als 1990 sollten 2020 aus deutschen Schornsteinen und Auspuffrohren kommen, haben alle Bundesregierungen seit 2007 versichert. Erst der Koalitionsvertrag der Großen Koalition von 2018 gab zu, was ExpertInnen schon lange sagten: Das Ziel wird verfehlt. Nun werden die Klimagas­emissionen Ende 2020 nur um 35 Prozent gesunken sein werden, lauten seriöse Schätzungen. Das Klimapaket der Bundesregierung soll dafür sorgen, dass wenigstens die Ziele bis 2030 (minus 55 Prozent) erreicht werden. Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte bei der Vorstellung des „Klimapakets“ im September: „Wir glauben daran, dass wir die Ziele erreichen können.“

Werden Ziele nicht eingehalten, werden sie gern zeitlich gestreckt. So passiert beim Biolandbau: 2000 versprach die grüne Agrarministerin Renate Künast, bis 2020 würden 20 Prozent der deutschen Ackerfläche nach biologischen Kriterien bearbeitet. Spätere Regierungen kassierten die Jahreszahl, als 2020 bedrohlich näher rückte. Bislang – Stand 2018 – werden 9,1 Prozent der deutschen Äcker im Biobetrieb geführt, heißt es vom Bund ökologische Lebensmittelwirtschaft BÖLW. Und die 20 Prozent tauchten im Koalitionsvertrag von Schwarz-Rot wieder auf – allerdings mit der Zielmarke 2030.

Von 13 Zielen werden nur zwei erreicht

Ein Jahrzehnt mehr Zeit, diesen Großmut gönnen sich die Regierenden gern, wenn es um die Lösung eigentlich drängender Umweltfragen geht. 2010 verschob die EU-Kommission ihr eigenes Ziel von 2001, den Verlust der biologischen Vielfalt bis 2010 zu stoppen mal eben auf 2020. Nun sind zehn Jahre vergangen. Und die Umweltbehörde der EU bilanziert bitter in einem aktuellen Bericht „Zustand der Umwelt in Europa“: „Der Schutz von Artenvielfalt und Natur bleibt das größte Gebiet von entmutigendem Fortschritt. Von den 13 Zielen für 2020 werden nur zwei wahrscheinlich erreicht. Wenn diese Trends bis 2030 weitergehen, wird sich der Zustand der Natur weiter verschlechtern und die Verschmutzung von Luft, Wasser und Boden fortschreiten.“

Für Deutschland formuliert es die „nationale Biodiversitäts-Strategie“ (NBS) so: Bis 2020 solle „die Biodiversität in Agrar-Ökosystemen deutlich erhöht sein“. Die Realität sieht ganz anders aus: Auf deutschen Äckern zeigten Untersuchungen in den letzten Jahren einen rapiden Schwund von Tier- und Pflanzenarten. Die NBS selbst listet auf, wo die Umweltschützer an ihren eigenen Vorgaben scheitern: Schon bis 2015 sollten 19 Prozent aller Äcker einen „hohen Naturwert“ haben, es waren aber nur 11,4 Prozent; drei Viertel der Bevölkerung sollten bis 2015 über die Bedrohung der Arten aufgeklärt sein, es war aber nur ein Viertel; 100 Prozent aller Flüsse und Seen sollten 2015 in „gutem oder sehr gutem ökologischen Zustand“ sein, aber es waren nur ganze 8 Prozent. Und bis 2030 soll die Artenvielfalt, gemessen am Bestand von 51 heimischen Vogelarten, auf einem definierten Stand erreicht werden. Bei der letzten Zählung 2013 erreichte die Vielfalt aber nur 68 Prozent des geplanten Werts.

Auch beim Waldschutz wird das Ziel weit verfehlt

Auch beim Waldschutz bleibt die Bundesrepublik hinter ihren eigenen Umweltzielen zurück. Schon 2007 hatte die Strategie zur biologischen Vielfalt gefordert, bis 2020 insgesamt 5 Prozent der Waldfläche als „Naturwald“ frei von menschlichen Einflüssen zu sichern. Nun rechnet das zuständige Bundesamt für Naturschutz laut einer Antwort auf eine kleine Anfrage der grünen Fraktion nur mit 3 Prozent, die in diesem Jahr erreicht werden.

In den heftigen Debatten der letzten Monate um Fahrverbote für Diesel und die Gülledüngung durch Landwirte ist fast untergegangen, dass auch hier seit Jahren Gesetze missachtet werden: Schon seit 2010 gilt verbindlich die EU-Obergrenze von 40 Mikrogramm Stickstoffdioxid (NOx) pro Kubikmeter Luft im Jahresmittel. An 39 Prozent aller Messstellen in deutschen Städten wurden diese Grenzen 2018 laut Umweltbundesamt überschritten.

Zu hohe Nitratwerte

Auch beim Nitrat im Grundwasser gelten Gesetze wenig. Bereits seit 2008 schreibt eine EU-Regelung vor, dass Grundwasser nicht mit mehr als 50 Milligramm pro Liter belastet sein darf. Mehr als ein Jahrzehnt später zeigen sich trotzdem an jeder fünften Messstelle in Deutschland Überschreitungen, die die Gesundheit gefährden können. Der Europäische Gerichtshof hat Deutschland deshalb verurteilt. Gegen die neue Düngeverordnung, die EU-Recht durchsetzt, laufen Landwirte Sturm.

Auch beim Kampf gegen den Flächenverlust verwässert die Regierungen ihre eigenen Ziele. Noch 2002 gab die „nationale Nachhaltigkeitsstrategie“ der rot-grünen Bundesregierung an, bis 2020 solle die Bebauung von freiem Land mit neuen Häusern, Gewerben oder Straßen drastisch reduziert werden: Von knapp 130 Hektar am Tag, 180 Fußballfeldern, auf nur noch 30 Hektar in 2020. Tatsächlich ist es gelungen, den Flächenverbrauch von damals praktisch auf etwa 58 Hektar zu halbieren. Aber das neue Ziel der Regierung gilt nun für 2030. Und wird auch schon wieder torpediert: Mit einer Änderung des Baugesetzbuches will die Groko das „Bauen im Außenbereich“ noch einmal drei Jahre erleichtern – und damit den Verlust von Flächen weiter ankurbeln, wie der BUND moniert.

Dieser Widerspruch zeigt sich auch bei der offiziellen Haltung. 2018 erklärte die Bundesregierung, mit der neuen Nachhaltigkeitsstrategie zeige sie, „dass es ihr wichtig ist, den Nachhaltigkeitsgedanken in allen Politikfeldern weiter zu stärken“. Zwei Jahre zuvor hatte die offiziellen Bilanz dieser Strategie allerdings gezeigt, dass vor allem bei vielen Öko-Indikatoren wie Meeresschutz, Energieverbrauch, Verkehr oder Nitrat die Trends in die falsche Richtung gehen oder weit entfernt vom Ziel liegen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.