Deutschlands Energie-Gemeinde: Zwischen Reaktor, Gas und Meer
Lubmin ist klein, aber in aller Munde. Hier enden die Gas-Pipelines. Hier stand mal ein AKW. Und hier soll bald Flüssiggas ankommen.
E in dunkelblaues Tor trennt den Lubminer Yachthafen vom Industriehafen. Der 56-jährige Bürgermeister Axel Vogt öffnet es für den grauen Opel von Stefan Barthel. Der parkt direkt hinter dem Baucontainer, in dem Vogt eines seiner Büros unterhält, denn der Bürgermeister leitet auch den Hafen. Die beiden Männer stehen auf Betonboden und präsentieren den Industriehafen. Der gleicht einem Kanal, der in das flache Küstengewässer des Greifswalder Boddens führt.
Dieser Kanal beginnt bei den Lagerhallen um den letzten Reaktor des längst abgeschalteten Atomkraftwerks, das hier bis zur Wende den Strom produzierte. Auf der Uferseite, dort wo die Männer stehen, verlaufen Bahngleise. Auf der anderen Seite liegt ein Schiff. Dort übernachten die Arbeiter der nahen Windparks au hoher See. Hinter dem Schiff schimmern silberne Rohre in der Sonne: Das ist Nord Stream 1, die Gasleitung aus Russland, die derzeit nur zu 20 Prozent ausgelastet ist. Nord Stream 2 befindet sich ein paar hundert Meter hinter den Männern.
An diesem Augustmorgen unterhalten sich Barthel und Vogt über Sport und Energie. Zwischen ihnen liegt ein Altersunterschied von 23 Jahren. Gemeinsam haben sie einige Quadrathlons in der Gegend organisiert. Das sind Triathlons mit zusätzlichem Kanurennen. Das passt gut in die Gegend, denn Lubmin liegt in Mecklenburg-Vorpommern an der Ostsee, am Greifswalder Bodden, zwischen den Inseln Rügen und Usedom. Die Hanse- und Universitätsstadt Greifswald ist eine 30-minütige Autofahrt entfernt. Doch das große Weltinteresse ist auf das Gewässer gerichtet, an dem Barthel und Vogt stehen und reden.
Hier an dem Kanal, am Industriehafen, kommen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft von Lubmin zusammen. Zu DDR-Zeiten lief in dem Kanal das Kühlwasser des Atomkraftwerks in die Ostsee. Direkt daneben ragen heute die Rohre von Nord Stream 1 und Nord Stream 2 aus der Erde. Sie sind zum Sinnbild geworden für eine verfehlte Energiepolitik, für die gescheiterte Hoffnung, dass Frieden durch Handel zu erreichen ist. Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine liegt Nord Stream 2 brach. Und wie lang durch Nord Stream 1 noch russisches Gas fließt, ist mehr als ungewiss.
Seit Kurzem steht fest, dass es in Lubmin trotzdem weitergeht mit dem Gasgeschäft, nur eben nicht mehr mit dem russischen. Zwei Flüssigerdgasterminals sollen hier in der nächsten Zeit entstehen. Eines baut der Bund, das andere ein privater Investor.
Der Bürgermeister setzt auf Wasserstoff
Der parteilose Bürgermeister Axel Vogt sitzt jetzt in dem Baucontainer an einem Besprechungstisch, hinter ihm das Wasser im Hafenbecken. Er glaubt nicht, dass Gas ein zukunftsträchtiges Geschäft für Lubmin wird. „Die Zukunft Lubmins liegt im Wasserstoff“, erklärt Vogt. Hier sei der perfekte Standort, denn mit drei Offshore-Windparks gebe es genug überschüssige erneuerbare Energie, die sich einspeichern lassen könnte.
Die produzierte, aber nicht benutzte Windenergie kann per Elektrolyse in Wasserstoff umgewandelt und gespeichert werden. Bei Bedarf lässt sich dieser Wasserstoff in Energie zurückverwandeln. Wasserstoffstofftechnologie gilt als nachhaltig, aber vor allem als weniger skandalträchtig als der Import von russischem Gas.
An Lubmin bestand schon lange internationales Interesse. In Vogts Amtszeit als Bürgermeister zeigte sich das nach dem Reaktorunfall in Fukushima im Jahr 2011, in dessen Folge die Bundesregierung beschloss, aus der Atomenergie auszusteigen. Das AKW in der Kleinstadt ist schon 1990 abgeschaltet worden. Das Zwischenlager ist übrig geblieben. Und das Know-how.
„Die Experten aus Japan, aber auch aus Spanien und Frankreich kamen her, um zu sehen, wie man so ein großes Kernkraftwerk zurückbaut“, erzählt Vogt. Insbesondere die Weiternutzung des Energiestandorts fanden viele spannend. In Lubmin seien viele verschiedene kleine Firmen tätig. Neben dem Energiesektor gibt es noch ein Klärwerk und einen Produzenten für Rapsöl. Der Bürgermeister erklärt: „Wir arbeiten hier granular. Den einen großen Player mit vielen Arbeitsplätzen, den gibt es hier nicht mehr.“ Das Netzwerk am Industriestandort Lubminer Heide funktioniere gut.
Nord Stream und die Lubminer
Was mit Nord Stream dazu kam, was die Bevölkerung und der Bürgermeister von Lubmin bis dato nicht kannten, das waren die Skandale. „Die Leute sind einfach nur noch genervt“, erklärt Vogt die Stimmung im Ort. „Erstens von der politischen Diskussion.“ Nord Stream 1 sei schließlich 2011 fertiggestellt worden und das stolze Projekt der alten Bundesregierung in der Kooperation mit Russland. Für Lubmin hießen das jährlich zwischen 1,5 und 2 Millionen Euro Gewerbesteuereinnahmen.
Der Bürgermeister erklärt, warum die Lubminer nicht mehr über Nord Stream reden wollen: „Zweitens waren sie genervt von dem, was die Amerikaner dort angedroht haben.“ In einem Brief forderten US-amerikanische Abgeordnete 2020 den Baustopp von Nord Stream 2. Sie drohten mit Sanktionen gegen den Hafen Sassnitz-Mukran auf Rügen, nicht weit von Lubmin entfernt. „Und drittens“, führt Vogt die Aufzählung zu Ende, „sind die Anwohner natürlich von der Medienpräsenz genervt.“ Im Ort heißt es, zu Energiefragen solle man den Bürgermeister sprechen. Die Menschen haben keine Lust mehr, man will seine Ruhe haben.
In Lubmin hat man Nord Stream 1 und 2 im letzten Jahrzehnt als technische Projekte zur Energieversorgung betrachtet, als Einnahmequelle und als positive wirtschaftliche Entwicklung für das ganze Bundesland. Umso größer ist der Frust, dass Nord Stream 2 nicht in Betrieb genommen wird. „Wir haben das Projekt Nord Stream 1 schon einmal erfolgreich gesehen, da ist es quasi reibungslos gelaufen“, erklärt Vogt. „Sowohl die Planungen als auch die Genehmigungsverfahren, der Bau, Ablauf und die Inbetriebnahme selbst.“ Und nun, da die Gaslieferung durch Nord Stream 1 immer geringer ausfallen und die Menschen in ganz Deutschland die Höhe der Gasrechnungen im kommenden Winter fürchten, wird immer wieder die Forderung laut, Nord Stream 2 wenigstens vorübergehend in Betrieb zu nehmen, zuletzt vom früheren Bundeskanzler und Putin-Freund Gerhard Schröder.
Schwimmende Terminals für Lubmin
Das lehnt die Bundesregierung strikt ab. Unabhängig von russischem Gas soll in Zukunft geheizt werden. Als Zwischenlösung auf dem Weg dazu gelten LNG-Flüssiggasterminals. LNG steht für Liquified Natural, das heißt verflüssigtes Erdgas. Diese Form von Erdgas soll aus aller Welt nach Deutschland transportiert werden, um hier genutzt werden zu können. Dafür braucht es Terminals in Hafennähe, in denen das Flüssiggas wieder gasförmig gemacht werden kann. Zwei schwimmende Terminals sollen vor Lubmin gebaut werden, ein staatlich gefördertes und eines durch die Privatfirma ReGas.
Die Terminals selbst können nicht direkt vor Lubmin ankern, der Bodden ist hier zu flach. Mit sogenannten Shuttle-Schiffen könnte das flüssige Gas aber von den Ankerplätzen in der Ostsee in den Industriehafen gebracht werden, um hier verflüssigt zu werden. Der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland Mecklenburg-Vorpommern (BUND) kritisiert dieses Vorhaben im Greifswalder Bodden: „Es kommt zu einem höheren Schiffsaufkommen und damit zu mehr Unterwasserlärm und Sichtstörungen.“ Insbesondere der Schutz von vulnerablen Vogelarten, die hier brüten, wäre durch den Lärm nicht mehr gewehrleistet.
Die LNG-Terminals sollen in Lubmin entstehen, weil hier die notwendige Infrastruktur zur Verteilung des Gases schon vorhanden ist. Hier gibt es die Pipelines OPAL und EUGAL, die in den Süden abgehen, und NEL in den Westen. Das sind die Leitungen, die eigentlich das russische Gas von Nord Stream nach Deutschland und Europa bringen sollen. Diese Infrastruktur könnte nun für LNG genutzt werden. Diese Gasleitungen sind unabhängig von Gazprom und anderem russischen Einfluss.
Die Pipelines gehören Gascade, einer deutschen Firma mit Sitz in Kassel. Bürgermeister Vogt erklärt, warum das geht: „Jede Anlage besteht aus zwei Betriebsteilen, die technisch, wirtschaftlich und rechtlich voneinander getrennt sind und unabhängig voneinander betrieben werden können.“ Der Bürgermeister nimmt sich ein Blatt mit IHL-Aufdruck, der für „Industriehafen Lubmin“ steht, und zeichnet zwei Vierecke auf. Das kleinere ist Nord Stream, das größere Gascade. Dort, wo sich die beiden Vierecke treffen, malt er einen Kreis auf und betont die Grenze: „Hier ist für die Russen Schluss.“ So erklärt Vogt, warum die Infrastruktur auch ohne Nord Stream genutzt werden kann. Das solle aber nur eine Übergangslösung sein.
Vor allem die nächsten Winter sollen die LNG-Terminals überbrücken helfen. Doch noch ist von den Terminals nichts zu sehen im Industriehafen in Lubmin. Der private Investor ReGas hatte geplant, schon am 1. Dezember 2022 in Betrieb zu gehen. Aber noch ist kein Antrag in der Landeshauptstadt Schwerin für das Projekt eingegangen. Und die Prüfung könnte über das Datum hinaus dauern. Die Firma ist außerdem neu im Energiegeschäft. Die beiden Gesellschafter waren eher für Beratertätigkeiten und Immobilien bekannt.
Wieder einmal steht Lubmin also im Mittelpunkt der Energiefragen Deutschlands. Nord Stream war nicht der erste Energiesektor, der Aufmerksamkeit mit sich brachte, und LNG wird nicht der letzte sein. Wenn man Stefan Barthel zuhört, wird klar: Das ist eine lange Geschichte.
Das stillgelegte Atomkraftwerk
Im Jahr 1967 begann der Bau des Atomkraftwerks, 1974 war es schrittweise fertiggestellt. In diesem Jahr kam auch Stefan Barthel nach Lubmin. Der gebürtige Sachse wuchs in Chemnitz auf, beim Sprechen klingt das „ei“ manchmal eher nach Doppel-e.
Bis 1990 war Stefan Barthel Koordin ator für die Instandhaltung. Um sieben Uhr morgens fing die Normalschicht mit einem Rapport über die Wechselsprechanlage an und endete um 15.30 Uhr mit der Vergabe der Tages- oder Schichtaufgaben. Nach der Wende wurden die aktiven Blöcke eins bis vier des AKWs schrittweise vom Netz genommen. Barthel avancierte bis zu seinem Renteneintritt 2006 zum Abteilungsleiter beim Demontageservice.
Er fährt mit seinem grauen Opel zum Informationszentrum des stillgelegten Atomkraftwerks, zeigt auf die Ecke eines Gebäudes und sagt: „Da wo das Fenster nach außen gekippt ist, da war mein letztes Büro.“ Wenn man ihn fragt, was er vom damaligen Abschalten des AKWs hält, sagt er: „Ich stehe hinter der Entscheidung, dass die Blöcke eins bis vier abgeschaltet wurden. Aber dass die fast fertigen Blöcke fünf und sechs nicht in Betrieb gegangen sind, verstehe ich nicht.“
Block sechs war komplett fertig gebaut. Den Komplex können Besucher:innen heute besichtigen. Ab Block fünf wurde mit einem höheren Sicherheitsniveau gebaut als bei den älteren Reaktorteilen. Solche Anlagen laufen heute immer noch in Tschechien, in der Slowakei, in Ungarn und Bulgarien. Sie wurden durch Technik von Siemens nachgerüstet. Dass trotzdem auch diese Reaktoren abgeschaltet wurden, erklärt sich Barthel so: „Ein KKW russischen Typs will in der westdeutschen Wirtschaft keiner haben. Das Gefühl hatte ich aber nicht allein.“
Stefan Barthel stellt sich eine sinnvolle gesamtdeutsche Energieversorgung so vor: „Ein ordentlicher Energiemix, bestehend aus Kernkraftwerken, Gas- und befristet Kohlekraftwerken, Gas aus Biomasse sowie Solar- und Windenergie in einem noch zu bestimmenden Verhältnis muss sein. Solar- und Windenergie allein sind nicht grundlastfähig.“
Der gebürtige Sachse lacht immer wieder, wenn er redet. Er weiß, dass er mit seiner Meinung nicht zum Mainstream gehört, vor allem, wenn es um Atomkraft geht. Wenn er einen Punkt setzen will, zieht er die Augenbrauen über der Brille zusammen und lächelt manchmal zwischen den Sätzen.
Die andere Seite der Gemeinde
Auch 32 Jahre nach der Wende ist Lubmin einer der wichtigsten Energiestandorte des Landes geblieben. Feuerwehrmann Karsten Mäder erzählt: „Der Ort wächst und die Aufgaben werden mehr.“ In den letzten 30 Jahren ist die Einwohnerzahl von knapp 1.500 auf immerhin 2.100 gewachsen. Das ist eher ungewöhnlich für Orte in der ehemaligen DDR. Ein Grund dafür könnte die ungewöhnliche Aufteilung von Lubmin als Industrieort und Wohnort sein. Mäder erklärt: „Bei uns gehörte das schon immer zusammen: die Industrie und das See- und Strandbad.“
Axel Vogt, Bürgermeister
Dieses Strandbad liegt nur ein paar Kilometer vom Industriehafen entfernt. Von dort aus sieht man von der Industrie kaum mehr etwas. Zwischen den ungleichen Teilen Lubmins liegt ein Wald. Bürgermeister Vogt bezeichnet den Forst als „grüne Lunge“ des Ortes: „Diesen Wald haben wir vom Landwirtschaftsminister unter Schutz stellen lassen.“ So soll verhindert werden, dass Firmen in das Gebiet zwischen Seebad und Industriestandort ziehen. Das mache wiederum Lubmin attraktiv, sagt Vogt: „Wir haben hier einen Ort, der Ruhe ausstrahlt. Auf der einen Seite ist der Ort, in dem man sich erholen kann, in dem man wohnen kann. Und auf der anderen Seite des Waldes kommt das Industriegebiet.“
Der Strandblick ist von der 350 Meter langen Seebrücke geprägt. Am Sandstrand tummeln sich Tourist:innen und Einheimische. Eine Frau ruft einem Kind zu: „Nackig darfst du hier nicht baden, Axel schickt dich weg!“ Mit dem „Axel“ ist der Bürgermeister gemeint. Gerade saß er noch in dunkelblauem Poloshirt am Besprechungstisch, jetzt läuft er in lachsfarbener Badehose ins Wasser hinein. Seine neue Rolle: ehrenamtlicher Rettungsschwimmer.
Der Ostseeort Lubmin ist vor allem unter Gästen aus Ostdeutschland beliebt. Das ist Lubmin eben auch: Ausflugsziel, Erholung. Am Strand spielen junge Menschen Volleyball, Kinder keschern im flachen Wasser. Der Bodden ist sehr flach, Hunderte Meter kann man hineinlaufen, bis er tief genug zum Schwimmen ist.
An der Strandpromenade stehen Schilder, die für Stand-up-Paddling werben. Kurz vor dem Strandaufgang bieten drei Stände Burger, Pommes, Getränke und Fischbrötchen an. Die selbstgemachten laminierten Schilder werben mit „Summer-Feeling Eistee“, der nach Hibiskus und Ananas schmecken soll. Es sind Sommerferien in Mecklenburg-Vorpommern. In der Kurverwaltung heißt es, momentan seien die Ferienwohnungen „brechend voll“. Erst ab September sei wieder etwas buchbar.
Lubmin, der Ferienort, will nicht auf Lubmin, den Energiestandort, angesprochen werden. Man habe sich geeinigt, in Energiefragen auf den Bürgermeister zu verweisen, erklärt Feuerwehrmann Mäder. Die Leute wollen ihre Ruhe. Vor allem jetzt. Vor der Tür, nur einige Meter weiter, hinter dem Wald stehen die Anlagen von Nord Stream 1 und 2, die eine fast, die andere gänzlich still. Und die Gaspreise in Deutschland bewegen sich steil nach oben.
Der Bundestagsabgeordnete Erik von Malottki (SPD) besucht seinen Wahlkreis um Lubmin häufig. Er versteht den Frust: „Günstige Energieversorgung ist in Mecklenburg-Vorpommern, wo ein hoher Anteil der Menschen im Niedriglohnsektor arbeiten muss, sehr wichtig.“ Und natürlich spielt die jahrelange Nähe zur Sowjetunion eine Rolle. „Die Sozialisierung fördert das Bild von Russland natürlich mit. In der ehemaligen DDR wurde es immer eher als Freund gesehen und im Westen eher als Gegner“, erklärt sich Malottki die Haltung der Bewohner:innen. „Auch deshalb trifft Nord Stream hier auf mehr Zustimmung.“
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