Deutschland und der Krieg in der Ukraine: Ziemlich viel Irritation
Drei Exil-Chinesen tauschen sich aus über die Politik Berlins und den Krieg. Aus New York, aus Stockholm und vom Weg nach Berlin aus.
D rei Chinesen mit dem Kontrabass, standen auf der Straße und erzählten sich was …“ Seit ich in Deutschland lebe, höre ich immer wieder die Kinderreime, die fünf Vokale spielerisch variieren, damit die Jüngsten irgendwann Deutsch, das wichtigste Kommunikationsmittel hierzulande, richtig beherrschen. Die gesungene Geschichte ist freilich fiktiv, beliebig. Die folgende ist es nicht.
Der eine Chinese in dieser Geschichte lebt in New York, die zweite in Stockholm, der dritte bin ich. Irgendwann im Juni kommen wir drei, nicht auf der Straße stehend, sondern im Internet ins Gespräch.
„Also ich verstehe nicht, was ihr Deutschen so treibt“, sagt der New Yorker. „Erst 5.000 Stahlhelme an die Ukraine schicken, mit Verspätung, wohl um nicht in Kampfhandlungen involviert zu werden? Dann sechs Haubitzen schenken, damit die Ukrainer sich mal richtig gegen die Russen verteidigen können. Erst in aller Entschlossenheit ankündigen, die deutsche Gas-Abhängigkeit von Moskau radikal zu reduzieren. Es sei technisch gut machbar, habe ich gelesen. Dann erhalten die Russen aus deutscher Kasse doch so viele Devisen. Der Rubel steigt, anstatt in den Keller zu rauschen. Was führt ihr Deutschen im Schilde?“
Daraufhin die „Stockholmerin“: „Pazifistisch sind auch wir Schweden, nicht nur ihr Deutschen. Aber wenn es um unsere nationale Verteidigung geht, dann haben wir auch als Sozialdemokraten kein Problem, Zähne zu zeigen. Wenn unsere eigenen Zähne nicht reichen, dann eben auch die der Nato, der wir beitreten – Neutralität hin oder her, und ob unser Beitritt schon einen Weltkrieg auslösen könnte oder nicht. Wer nicht zimperlich mit der Drohung uns gegenüber ist, dem geben wir zurück, genauso wenig zimperlich. Vielleicht ist es bei euch in Deutschland deshalb anders, weil ihr einen Gerhard Schröder habt. Vergiss nicht, wir hier hatten einen Olof Palme. Friedensliebender ging es da kaum noch.“
ist 1957 in Peking geboren, lebt seit 1989 in Deutschland und arbeitet dort als freier Autor. In seinen Texten setzt er sich mit dem politischen Geschehen und der gesellschaftlichen Entwicklung in seiner Heimat auseinander.
Zum Schluss kam ich, der ich gerade mit dem Zug von Trier nach Berlin unterwegs war, an die Reihe: „Tu doch nicht so, als wärt Ihr Amis so konsequent. Hat nicht Joe Biden von Anfang an gesagt, die Nato greift nicht in den Krieg ein? Genau das passiert aber mit amerikanischen Waffen. Jeden Tag mehr. Wirtschaftssanktionen brauchen Zeit, um zu wirken, das wisst ihr so gut wie ich. Die Abhängigkeit nicht nur Deutschlands, sondern auch Europas ging und geht zurück. Nicht schnell, aber deutlich genug.
Und was den Pazifismus in deinem Schweden angeht: Im Zweiten Weltkrieg ist Schweden niemals Aggressor gewesen, Deutschland schon. Schweden hat die früheren Sowjetstaaten im Krieg nie angegriffen und schwer zerstört. Deutschland schon. Auch und gerade in der sowjetischen Ukraine wütete die Wehrmacht und später die SS. Schweden war nie zweigeteilt, um – mit Zustimmung aus Moskau – wieder vereinigt zu werden. Deutschland schon. Im Kalten Krieg war Schweden nie Frontstaat, Deutschland schon, Ost wie West, wo Pershing 2 versus SS 20 niedergehen könnten. Jederzeit.
Ihr beide habt lauter Fragen an mich über Deutschland. Die kann ich nicht beantworten. Und ich habe noch viele mehr von der Sorte. Möchte einer von euch es mal versuchen?“ Wir drei Chinesen erzählen uns noch eine ganze Weile was. Es kommt keine Polizei, auch keine Internetpolizei, niemand fragt: Ach, was ist denn das? Und was mich am meisten berührt: der Kontrabass, Akademiker würden ihn als „Bezugsrahmen“ für uns drei postulieren. Der ist, was äußerst selten vorkommt, ein zwiespältiges Deutschland, das nichts in seiner Politik leicht variieren kann. Irgendwie so frustrierend wie tröstlich.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind