Deutschland im EM-Viertelfinale: Übermächtige Instanzen
In den Gewalten von Gewitter und VAR-Eingriffen hat Deutschland das Viertelfinale erreicht. Nagelsmanns zartes Pflänzchen zeigt sich unberechenbar.
Unberechenbare Kräfte haben in diese so bedeutungsvolle Partie der Deutschen eingegriffen. Nach all den Pleiten der vergangenen Turniere war der Druck nicht gerade gering. Die offensichtlichsten waren dabei nicht einmal die entscheidenden. Die zackigen Blitze, die dem unmittelbaren Donnergrollen nach in bedrohlicher Nähe waren, sorgten für eine über zwanzigminütige Spielunterbrechung in der ersten Hälfte. Angehalten wurde die Partie obendrein durch den Videobeweis, der zwei Entscheidungen des Schiedsrichters zugunsten des DFB-Teams drehte. Ein Treffer des Dänen Joachim Andersen wurde im Nachhinein aberkannt, sein Handspiel nur wenige Minuten später im eigenen Strafraum dafür nachträglich mit einem Elfmeterpfiff geahndet.
„Bizarr“ nannte später Torhüter Manuel Neuer diese Minuten, in denen sich Naturgewalt und die übermächtige Videoschiedsrichterinstanz meldeten. Einer der Begünstigten, Kapitän İlkay Gündoğan, räumte gerade bei der Bewertung von natürlichen und unnatürlichen Handbewegung per Videoanalyse seine grundsätzlichen Bedenken ein. „Das ist sehr subjektiv. Da wird versucht, gewisse Regeln zu machen.“
Was den Viertelfinaleinzug gegen Dänemark aber so kompliziert machte, hatte letztlich viel mit der eigenen Unberechenbarkeit zu tun. Dieses Team kann viel Wucht erzeugen und hat im nächsten Moment mit Unwuchten der eigenen Balance zu kämpfen. „Ein insgesamt wildes Spiel“ hatte Bundestrainer Julian Nagelsmann gesehen. Die ersten 15 Minuten hob er hervor, als er gefragt wurde, wie weit seine Elf denn von seinen Idealvorstellungen entfernt sei. In der Anfangsphase stimmte abgesehen vom erfolgreichen Torabschluss fast alles. Dem rasanten Passspiel der Deutschen waren die Dänen nicht gewachsen.
Die dann plötzlich schwindende Gefährlichkeit und wachsende Fehlerzahl im Spiel gegen den Ball erklärte Nagelsmann mit zu großem Eifer. „Wenn wir dann jeden Ball in die Mitte knallen, Risikopässe spielen, sind wir oft nicht gestaffelt genug.“
Duo namens Schlottiger
Die erstmals bei dieser EM zusammenspielenden Innenverteidiger Antonio Rüdiger und Nico Schlotterbeck mussten schon nahe am Optimum spielen, um die gefährlichen dänischen Konter zu entschärfen. Und auch Manuel Neuer hatte seinen Anteil daran. Nach dem Duo Wusiala wäre in Dortmund womöglich eines namens Schlottiger aus der Taufe gehoben worden, wenn es sich nur nicht so doof anhören würde. Nagelsmann wird sich mit dem „Luxusproblem“, wie er sagte, herumschlagen müssen, wen er bei der nächsten Partie aufstellen wird, wenn der gelb gesperrte Jonathan Tah zurückkehrt. Der Dortmunder Schlotterbeck konnte vor heimischer Kulisse sogar mit einer Offensivaktion glänzen. Sein wunderbar weiter Pass in den Lauf von Jamal Musiala ermöglichte erst den zweiten Treffer. Die Uefa kürte Rüdiger zum „most valuable player“ dieser Partie. Manuel Neuer ernannte Schlotterbeck zum „heimlichen MVP“. Seinen Patzer kurz vor Halbzeitpfiff, als er Rasmus Höjlund durch eine Unaufmerksamkeit in Szene setzte, sah er ihm offenbar nach.
Als „zartes Pflänzchen“ hatte Nagelsmann sein Team Mitte Mai bezeichnet, um es bei all den großen Erwartungen unter einen gewissen „Naturschutz“ zu stellen. Dieses Pflänzchen hätte am Samstagabend trotz aller keimenden Triebe jämmerlich auf dem Abräumtisch dastehen können. Es brauchte nicht viel Fantasie, um sich das vorzustellen. Mit dem EM-Viertelfinaleinzug kann der Wachstumsprozess nun schon unter gesicherteren Rahmenbedingungen garantiert werden.
Mangelnde Effizienz
Neben der fehlenden Balance bleibt ein weiteres Problem die mangelnde Effizienz. Kai Havertz allein hatte aus dem Spiel heraus drei prächtige Chancen für einen Treffer. Immerhin erzielte er in der 53. Minute sein zweites Elfmtertor in diesem Turnier, was das deutsche Spiel ungemein beruhigte. Die Debatte, ob nicht besser Niclas Füllkrug von Anfang an spielen würde, hat aber weiter neue Nahrung bekommen. Nicht wenige hatten mit ihm in der Startelf gerechnet, stattdessen überraschte Nagelsmann mit Leroy Sané, der seine Schnelligkeit auf dem rechten Flügel jedoch weit weniger ausspielen konnte als erhofft.
Nagelsmann ist weiter intensiv damit befasst, sein Pflänzchen weiter aufzupäppeln. Sané, lobte er, habe es in der zweiten Halbzeit dann viel besser gemacht. Mit den Einwechslungen von Benjamin Henrichs und Waldemar Anton ist nun Robin Koch im 26-köpfigen EM-Kader der einzige Feldspieler, der noch nicht zum Einsatz kam. Und für die Zuschauer hatte der Trainer wie bereits in den vergangenen Partien viele lobende Worte übrig.
„Ein super Gespür“ hätten sie gehabt. „Das hat uns gepusht.“ Julian Nagelsmann, der als Vereinstrainer häufig auf seine Arbeit als Taktiknerd verkürzt wurde, beweist sich in diesen Tagen als Rundumbetreuer. Besonderes Augenmerk legt er bei all den Wackeligkeiten auf die psychische Komponente. Sein Fazit nach dem Achtelfinale lautete: „Das haben sie sich verdient, dass sie langsam die alte Festplatte gelöscht kriegen und sehen, wie gut sie eigentlich sind.“
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