Deutscher Buchpreis 2019: Guter Stoff und Marketingtool
Saša Stanišić' Buch „Herkunft“ hat es verdient, viele Leser zu finden: Multikulti ist für den Autor längst die Identität der Mehrheit.
Eigentlich wird der Deutsche Buchpreis an den „deutschsprachigen Roman des Jahres“ verliehen. Mit „Herkunft“ von Saša Stanišić wurde dieses Jahr ein Werk prämiert, das zwar mit fiktiven Elementen spielt, aber in erster Linie ein autobiografisches Buch ist, das versucht, die Herkunft des Autors erzählerisch zu reflektieren. Das der Frage nachgeht, in welchem Verhältnis die Wahrheit des Erfundenen zu der angeblichen Authentizität des Tatsächlichen steht. Ein Roman ist es jedoch nicht.
Warum also wurde „Herkunft“ ausgewählt? Eine Antwort lässt sich vielleicht in der Kontroverse um die Buchpreis-Jury vor der Preisvergabe finden. Petra Hartlieb, Jurorin, Buchhändlerin und Autorin, hatte sich in der Wiener Tageszeitung Die Presse über die Vorschläge ihrer Kollegen in der Jury beschwert. „Ich kann das nicht lesen, ich kann das nicht verstehen, ich kann das vermutlich nicht verkaufen.“ In ungewöhnlicher Offenheit schreibt sie von einer Mail, die ihr der zweite, offenbar ebenso überforderte Buchhändlerkollege in der Jury, mit dem wohl Björn Lauer gemeint ist, geschrieben hat. Eine Nachricht, die, wie sie meint, „wie ein rettender Anker“ gewesen sei: „Wir müssen das verhindern.“
„Herkunft“ von Saša Stanišić kann nicht einer dieser von den anderen Juroren vorgeschlagenen Ladenhüter gewesen sein. Was seinen Verkaufswert angeht, so steht das Buch des 41-jährigen Autors seit mehreren Monaten auf den vorderen Rängen der Spiegel-Bestsellerliste, verkauft sich also bestens.
Allerdings muss Verkaufserfolg ja nicht unbedingt etwas mit den Lektüreanforderungen eines Buches zu tun haben. Es kann auch daran liegen, dass Stanišić mit seinen ersten beiden Werken, „Wie der Soldat das Grammofon repariert“ (2006) und „Vor dem Fest“ (2014), der mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde, bereits süffig zu lesende Bestseller geschrieben hatte. Vielleicht hat einfach sein Name viele zum Kauf des Buches animiert. Doch „Herkunft“ ist ebenfalls keine schwere Lektüre, wenn man einmal von einer mäandernden, um sein Thema kreisenden Schreibweise absieht, die aber inzwischen jeder zweite Erinnerungstext verwendet.
Schwelender Konflikt
Es ist also anzunehmen, dass es den beiden BuchhändlerInnen gelungen ist, die überfordernden Vorschläge der Jurykollegen „zu verhindern“. Welche Titel Petra Hartlieb und Björn Lauer aus der Liste der Long- und Shortlist damit gemeint haben, bleibt bis auf Weiteres ihr Geheimnis. Sicher, Kritik an der Auswahl gab es schon immer. Neu ist, dass der Konflikt innerhalb der Jury jetzt an die Öffentlichkeit gelangt ist. Handelt es sich nun um einen Preis für den literarisch „besten“ Roman oder soll er nur ein Marketinginstrument des Buchhandels sein, der verständlicherweise Interesse an der guten Verkaufbarkeit eines Buches hat? Im letzteren Fall könnte man zum Beispiel den „besten“ Roman aus den Titeln der jeweils aktuellen Bestsellerliste küren.
Sicher, „Herkunft“ von Saša Stanišić ist ein Buch, das es verdient hat, viele Leser zu finden. Das das lange – man erinnere sich – auch von Angela Merkel runtergemachte Multikulti als Identität aus ganz unterschiedlichen ethnische, nationalen und sozialen Quellen schon längst als die Identität der Mehrheit begreift.
Denn wenn Stanišić von seiner Kindheit in Višegrad schreibt, von seinen Eltern und Großeltern, seiner Jugend in Deutschland nach der Flucht, dann können das auch LeserInnen nachvollziehen, die keine Fluchterfahrungen gemacht, nicht unter den Vorurteilen und dem Rassismus in Deutschland gelitten haben. In einer globalisierten Welt haben viele Fremdheitserfahrungen gemacht, haben die Orte ihrer Kindheit verlassen. Und sie werden am Ende Stanišić zustimmen, dass Herkunft reiner Zufall ist.
Abscheu gegen Kriegsverbrecherfan Handke
In seiner Rede nach der Bekanntgabe des Preises für sein Buch hat Stanišić zu Recht die Vergabe des Literaturnobelpreises an Peter Handke kritisiert. Seit klar ist, dass der Preis an den österreichischen Autor geht, hatte er auf Twitter fast pausenlos seine Abscheu darüber zum Ausdruck gebracht, dass ein Schriftsteller geehrt wird, der die Massenmorde von Srebrenica leugnet und dem als Kriegsverbrecher verurteilten Slobodan Milošević bei seiner Beerdigung die letzte Ehre erwiesen hat. Ganz entgegen diesem Furor, mit dem er Peter Handke bekämpft, ist „Herkunft“ ein versöhnliches Buch. Es ist kein Werk, das den Finger in die Wunde legt, wenn man als Leser nicht gerade Anhänger der Identitären oder der AfD ist. Und die lesen es leider nicht.
Schon bei „Vor dem Fest“ und „Fallensteller“ war das so. In der uckermärkischen Provinz gibt es zwar Neonazis und ehemalige Stasi-Offiziere, aber die sind harmlos, in ihrer Verzweiflung tragische Figuren. „Herkunft“ ist, wenn man so will, ein sozialdemokratisches Buch. Sicher ist das auch ein Grund für seinen Erfolg in einem Land, in dem diese Zeitung bei der letzten Wiederwahl der CDU-Vorsitzenden titelte: „Angela Merkel als Vorsitzende der SPD wiedergewählt“. Es ist ein Konsensbuch, ein Bestseller, der sich jetzt noch einmal wie geschnitten Brot verkaufen wird. Der „deutschsprachige Roman des Jahres“ ist es nicht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Christian Lindner
Die libertären Posterboys
Außenministerin zu Besuch in China
Auf unmöglicher Mission in Peking
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Olaf Scholz’ erfolglose Ukrainepolitik
Friedenskanzler? Wäre schön gewesen!
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Rücktrittsforderungen gegen Lindner
Der FDP-Chef wünscht sich Disruption