Deutsche Fluchthelfer damals und heute: Die guten Schleuser
Er grub 1962 in Westberlin einen Tunnel, sie transportiert heute Migranten ins Land. Lange verehrt, heute bekämpft: deutsche Fluchthelfer.
Als der ältere Herr in der Mittagssonne rückwärts von der Ladefläche fällt, fährt der Wagen, ein Toyota Land Cruiser mit Allradantrieb, weiter geradeaus. Der Aufprall des Körpers im Saharasand ist nicht zu hören. Vermutlich ist der Mann sofort tot. Wer weiß das schon.
Auch als der junge Mann aus Äthiopien in der Nacht vom Auto fällt, Stunden später, der Himmel ist sternenklar, hält der Wagen nicht an.
Zwei weitere Männer verdursten während dieser Autofahrt auf der Ladefläche neben Mohammad al-Khartal. Erinnerungen.
Der 28-Jährige hat diese Fahrt überlebt. 1.500 Dollar hat er bezahlt, damit eine Gruppe Fremder ihn von einem kleinen Grenzort im Nordwesten Sudans in ein Wüstenlager in der Libyschen Wüste bringt.
Für die nächste Strecke aus diesem Lager in die libysche Küstenstadt Tripolis werden weitere 1.500 Dollar fällig. Dann reicht sein Geld nur noch für die einfachste Bootsklasse, die die Schleuser im Angebot haben: ein kleines graues Schlauchboot, 800 Dollar für die Fahrt über das Mittelmeer nach Sizilien. Vier Tage wird al-Khartal schließlich auf offener See treiben, bis ein Containerschiff ihn inmitten von rund 100 weiteren Passagieren auffinden wird, orientierungslos.
Eine exemplarische Geschichte
Zwischen jenem kleinen Ort im Sudan, in dem seine Reise vor sechs Jahren begann, und Stuttgart, wo er heute lebt, haben Menschenschmuggler al-Khartal auf sieben verschiedenen Routen weitergeholfen.
Die letzte Schmugglerin hieß Kerstin Gmeinwieser. Sie war die einzige, die kein Geld nahm.
Während der junge Mann von seiner Odyssee erzählt, liegt ein Smartphone auf dem Tisch. Immer wieder wischt er zu neuen Bildern seiner Reise. Mohammad al-Khartal heißt in Wirklichkeit anders. Er lebt ohne Papiere in Deutschland. Deshalb gibt es in diesem Text einige Namen, die nicht stimmen. Und Details, die verändert sind. Zum Beispiel, dass al-Khartal in Stuttgart lebt. Es ist eine andere deutsche Großstadt. Es ist für ihn wichtig, dass er nicht wiederzuerkennen ist.
Was er erlebt hat, stimmt, sagt er. Seine Geschichte ist die Geschichte Zehntausender Menschen. Weit mehr als 220.000 Menschen kamen nach UN-Angaben allein in diesem Jahr bereits auf der Flucht über das Mittelmeer nach Europa. Nach Recherchen eines europäischen Journalistenkollektivs sind in den vergangenen 15 Jahren mehr als 23.000 Menschen bei diesem Versuch auf See ums Leben gekommen.
Heute ist Schengen eine Mahnung
Phase eins. Rufzeichen: DRAI. Das ist die Funkkennung der „Schleswig-Holstein“. Länge: 138,9 Meter. Breite: 16,7 Meter. 6,9 Meter Tiefgang. Besatzung: 219 Mann. Die Fregatte steht im Dienst der Deutschen Marine. Ihre Mission EU Navfor Med ist eine Militäroperation der Europäischen Seestreitkräfte. Ihr Auftrag: die Bekämpfung des Menschenschmuggels und der Menschenhandelsnetzwerke vor der libyschen Küste. Die Marinesoldaten sollen die Schleuser fangen, mit Seeaufklärern und Drohnen, Satellitentechnik und Geheimdienstinformationen.
„Phase eins“ dient der Aufklärung. Geht es nach der Europäischen Union, sollen später, in den Phasen zwei bis drei, auch die Boote der Schleuser zerstört werden. Folgt man der Bundesregierung, so sind die Schleuser zu einer der größten Bedrohungen an Europas Grenzen geworden. Sie bringen all die Menschen her.
Schengen ist eine kleine Gemeinde im Großherzogtum Luxemburg. Sie gehört zum Kanton Remich und zählt knapp 5.000 Einwohner. Schengen, das ist aber auch ein Versprechen gewesen, seit am 14. Juni 1985 zunächst fünf EU-Mitgliedstaaten auf einem Moselschiff in der Nähe des Örtchens ein Abkommen unterzeichneten, das zu einer Vision von Europa führen sollte: einem Raum ohne Grenzkontrollen. Reisefreiheit. Frieden. Heute steht in Schengen ein Stück der Berliner Mauer. Es soll eine Mahnung sein.
26 Staaten listet das Auswärtige Amt auf seiner Homepage auf, die das Schengener Abkommen vollständig anwenden. Doch der Traum von Schengen hat in den vergangenen Monaten Risse bekommen. Seitdem mehr und mehr Migrantinnen und Migranten nach Mitteleuropa reisen, ziehen die Mitgliedstaaten die Grenzen wieder hoch. Weil allgemeine Grenzkontrollen verboten sind, wird gezielt gesucht, werden vor allem dunkelhäutige Menschen angehalten, ihre Papiere überprüft, sie im Zweifel festgesetzt.
Nur wer mit dem Flugzeug kommt, hat eine Chance
Es gibt ein anderes Wort für dieses Vorgehen: Racial Profiling. In den Zügen von Italien nach Deutschland, berichten Flüchtlingsaktivisten, hätten dunkelhäutige Menschen kaum eine Chance, die Grenzen ohne Kontrollen zu passieren. Wer einen geregelten Aufenthaltsstatus hat, darf weiterfahren. Aber was ist mit denen, die erst in Deutschland Asyl beantragen wollen?
Das regelt eine Verordnung, „Dublin II“. Demnach muss das Land das Asylverfahren abwickeln, das der Antragssteller zuerst betreten hat. Man nennt das Drittstaatenregelung. Für Deutschland ist sie angenehm. Denn wer nicht per Flugzeug kommt, hat kaum eine Chance auf ein Asylverfahren in Deutschland. Die Bundesregierung hat deshalb im Hinblick auf die Fliehenden, die über das Mittelmeer kommen, ein besonderes Interesse daran, dass etwa italienische Behörden von möglichst vielen die Fingerabdrücke registrieren. Und, natürlich, dass es keine illegalen Weiterreisen gibt.
In einem Café, in dem fettiger Kirschstreuselkuchen serviert wird – sagen wir: in Hannover –, sitzt an einem Hochsommertag im Juli eine Frau, die ein Kind auf dem Arm trägt. Sie könnte ebenfalls Kerstin Gmeinwieser heißen, aber nennen wir sie doch Marie-Luise Börmann, was macht das schon.
Vor einigen Wochen hat Marie-Luise Börmann sich einen Leihwagen gemietet, mit einem Münchner Kennzeichen. Sie wählte bewusst eine Limousine, Marke BMW. Börmann kam adrett gekleidet zum Mietschalter, dann fuhr sie in einen kleinen italienischen Ort kurz hinter der Grenze. Dort holte sie einen Mann ohne Papiere ab. Sie hatte die Rückreise penibel geplant, fuhr an einem Wochentag im Berufsverkehr an die österreichische Grenze heran, dann an die deutsche. Vormittags fuhr sie durch Bayern, mittags war sie in Hessen. „Es gibt sonst kaum noch einen Weg für Menschen, die über das Mittelmeer geflohen sind, nach Deutschland zu kommen“, sagt Börmann. „Es kommt auf jeden Einzelnen an.“
Viermal war Börmann im vorigen Jahr in Italien, um Fluchthilfe zu leisten, mal fuhr sie dazu nach Rom, mal nach Venedig. Sie hat damit Straftaten begangen.
Ein Menschenverachter? Ein Helfer?
Paragraf 96 Aufenthaltsgesetz, „Einschleusen von Ausländern“: Danach macht sich strafbar, wer Ausländern wiederholt oder in mehreren Fällen dabei hilft, illegal in Deutschland einzureisen. Höchststrafe: fünf Jahre Freiheitsentzug. Wer bandenmäßig handelt, dem drohen bis zu zehn Jahren Gefängnis. Auch der Versuch ist strafbar.
Gerade erst hat vor dem Berliner Landgericht ein Prozess gegen einen Mann begonnen, der als einer der Hauptorganisatoren mehr als 300 Migranten, überwiegend aus Afrika, aus Italien nach Nordeuropa gebracht haben soll. Die Drehkreuze hießen Mailand und Berlin. 750 Euro pro Person soll der 30-Jährige für diese Leistung jeweils verlangt haben.
Marie-Luise Börmann verlangt kein Geld für ihre Hilfe. Wenn sie fährt, dann, um Leute zu holen, deren Schicksale sie bereits kennt. Sie macht Flüchtlingsarbeit, sie ist gut vernetzt. Und sie ist bei Weitem nicht die Einzige, die aktive Fluchthilfe leistet. Erst gestern kam eine Freundin von ihr aus Italien zurück. Sie brachte einen Mann aus Eritrea mit. Zehn Jahre war er zuvor auf der Flucht gewesen, nie kam er irgendwo an, dann hatte er Glück. Er kann jetzt in einem Hausprojekt in einer großen deutschen Stadt unterkommen. Es gibt sogar eine Frau, die ihn heiraten würde. Eine Scheinehe, damit er bleiben kann.
Jeden Tag bekommt Marie-Luise Börmann Anrufe von Menschen, die gern ihre Hilfe hätten. Von interessierten Menschen, die wissen wollen, was sie mit einer Fluchthilfe riskieren. Manchmal rufen auch Flüchtlinge selbst an, teils aus Nordafrika, sagt die junge Frau. Sie wollen dann wissen, ob Börmann ihnen bei der Einreise nach Deutschland weiterhelfen kann, falls sie es einmal bis nach Italien schaffen. Irgendwann häuften sich diese Anrufe so sehr, dass Börmann sich eine neue Telefonnummer zulegte. Sie kann nicht für alle da sein, das ginge ja gar nicht.
Es gab eine Zeit, da war Fluchthilfe eine Heldentat
Der Zweite Weltkrieg. Millionen von Menschen, Vertriebene, Fliehende, auf der Suche nach Unterkunft, auf dem Weg ins Exil. Dann der Fall des Eisernen Vorhangs, der Mauerbau. Die Geschichte der DDR ist auch eine große Geschichte des Fluchtversuchs, andauernd über Jahrzehnte.
Ekkehard Schirmer, 79 Jahre alt, öffnet gebeugt die Tür seiner Eigentumswohnung am Gleisdreieck in Berlin. Er schiebt den kleinen schwarzen Rollator, Modell Topro Troja, an den edlen Holztisch in seinem Wohnzimmer, dann setzt er sich, schwer atmend, auf den Stuhl mit der geschwungenen Rückenlehne. Zwei Dutzend Drucke, Aquarelle und Stiche, fein gerahmt, hängen an der Wand über dem Tisch, allesamt Damenporträts. Auf einer Anrichte steht eine Engelsfigur. Der Fußboden: feines Parkett.
Zwei Wochen ist es her, dass sie ihm den Hals aufgeschnitten haben, um seine Mandeln zu entfernen. Krebs. Die frische Narbe, die sich rechts über seinen Hals zieht, pulsiert noch fleischrot. Ekkehard Schirmer ist Fluchthelfer.
Berlin in den 1960er Jahren. Zwölf Tunnel wurden damals allein an der Bernauer Straße gegraben, wo die frisch errichtete Mauer den Ostteil der Stadt vom Westen trennte. Nur drei davon wurden fertiggestellt. Einer hieß Tunnel 29. Er begann in einem Fabrikgelände in der Bernauer Straße 78, Berlin West, und endete in einem abgelegenem Kellerraum in der Schönholzer Straße 7, Berlin Ost. 135 Meter lang, einen Meter hoch, ein Belüftungsrohr, das an einen Staubsauger angeschlossen war, stabilisiert mit extra herbeigeschafftem Grubenholz aus dem Ruhrgebiet. Im Lauf des Tunnels waren Knicke angelegt, damit die DDR-Volkspolizisten im Ernstfall nicht einfach hindurchschießen konnten.
Die Durchlöcherung der Berliner Mauer
Es gibt über diesen Tunnel einen kleinen Wikipedia-Eintrag. Es gibt sogar einen Dokumentarfilm. Wertvoller aber sind sicher die handschriftlichen Aufzeichnungen, die Ekkehard Schirmer für dieses Treffen an seinem Esstisch mit einem blauen Kugelschreiber zu Papier gebracht hat. Es sind Erinnerungen an eine Zeit, in der Fluchthelfer gefeiert wurden.
„Wir waren keine Helden“, sagt Schirmer. „Wir hatten ja nichts zu befürchten.“ Die Durchlöcherung der Mauer, das sei doch Ehrensache gewesen. „Es war eine gute Tat, die man da vollbrachte.“
Der Tunnel 29: Die Westberliner Feuerwehr kannte ihn, der damalige Bürgermeister soll von ihm gewusst haben. „Einmal“, erzählt Schirmer, „war sogar die Polizei da. Die haben geguckt, ob mit dem Bau alles in Ordnung ist, dann sind sie wieder weggefahren. Fertig.“ Er meint die Westberliner Polizei, versteht sich. Das macht all den Unterschied.
Wenn dann im Sommer 1962 der Bus mit den zugeklebten Scheiben vor dem Haupteingang der Technischen Universität Berlin anhielt, stieg Schirmer mit einigen Kommilitonen ein. Ein paar kannten sich, wer sich noch nicht kannte, sollte anonym bleiben. Sechs Meter unter der Erde, an der Bernauer Straße, gruben sie dann ein Loch, weiter und weiter. Über viele Wochen, täglich zwei bis drei Stunden, lag Schirmer rücklings in feuchten Lehmpfützen, trat mit den Füßen seinen Spaten ins Gestein. 29 Menschen gelangten durch diesen Tunnel in den Westen. Dann flog er auf, weil Beteiligte, so erzählt man sich, die Filmrechte gegen Bargeld an den amerikanischen Fernsehsender NBC verkauft haben sollen. Kaum waren die Bilder in der Welt, war die Fluchtroute geschlossen.
Ostdeutsche kamen durch die Kanalisation
Für ihn selbst, sagt Schirmer, sei das alles mehr so ein Abenteuer gewesen. Er machte weiter, auch als der Tunnel 29 dicht war. „Jedes Mal, wenn ein Flüchtling durchkam und in unserer WG eintraf, wurde eine große Party gefeiert.“ Wer dem Mann länger zuhört, dem dämmert, wie selbstverständlich es sein kann, Menschen zu helfen, über Grenzen zu gelangen.
In Schirmers Wohngemeinschaft in der Ansbacher Straße schnitzten Kommilitonen aus Kastanien die hoheitlichen Stempel der Bundesrepublik Deutschland nach. „Es gab da ein paar Künstler, die hatten beachtliche technische Fertigkeiten.“ Dann wurden Pässe gefälscht, Autos umgebaut, einige Ostdeutsche kamen durch die Kanalisation nach Westberlin. Andere klammerten sich außen an die S-Bahn.
Ekkehard Schirmer sitzt gebeugt an seinem Wohnzimmertisch. Er könne manchmal, sagt er, die Schmerzen nicht mehr aushalten. Vor zehn Jahren wurde bei ihm Parkinson diagnostiziert, eine unheilbare Krankheit. „Wenn ich heute noch könnte, würde ich wieder Fluchthilfe leisten. Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien oder aus dem Sudan verdienen doch unsere Hilfe.“ Er warte noch, sagt Schirmer, „auf ein Netzwerk, eine Gruppe, eine Partei, die da ganz praktisch Hilfe leistet.“
Sommerurlauber als Fluchthelfer
Fluchthelfer damals. Fluchthelfer heute. Es gibt sie, die Netzwerke. Es gibt sie, die Tricks. Mit der Mitfahrzentrale über Grenzen. Mit dem Flugticket – und verkleidet.
Wenn vieles gut geht, dann kann es manchmal gelingen, dass Einwanderer ohne Papiere mit dem Flugzeug durch den Schengenraum reisen. Sie bekommen vielleicht, so ist zu hören, einen noblen Anzug spendiert. Und sie laufen dann mit einer Laptoptasche und einem Handy am Ohr besonders rasch an der Passkontrolle vorbei, ihrer wartenden Familie in die Arme. Es ist eine künstliche Familie, die da wartet, gecastet von Unterstützern. Neue Zeiten erfordern neue Ideen.
Am Timmelsjoch, einem Grenzpass zwischen Italien und Österreich, schlängelt sich ein weißer VW Touran die kurvigen Bergstraßen entlang. Vorne im Auto ein Ehepaar, hinten im Auto ein Flüchtling.
So zeigt es das Kampagnenvideo, mit dem das Berliner Kollektiv Peng!, ein loser Zusammenschluss von Künstlern und Aktivisten, seit Montag eine solche Idee präsentiert: Fluchthilfe für jedermann. Mit ihrer Kampagne wollen die Aktionskünstler deutsche Sommerurlauber zum zivilen Ungehorsam animieren. Die Botschaft: Sie sind gerade ohnehin mit der Familie im Italienurlaub? Dann bringen sie doch auf dem Rückweg einen Flüchtling mit nach Deutschland.
„Wir müssen über unsere Verantwortung reden“
Auf ihrer Homepage gibt die Gruppe rechtliche Hinweise und praktische Tipps. Es könne nicht schaden, ein Tramperschild im Auto zu haben. Und vorsichtshalber nicht zu viel Bargeld. Nicht dass es am Ende so aussieht, als sei bei der Sache Geld geflossen.
Die Rechtseinschätzung des Aktivistenkollektivs lautet: Wer sich nicht bezahlen lässt, nur eine Person mitnimmt und nur einmal und erstmalig erwischt wird, hat nicht allzu viel zu befürchten. Denn tatsächlich richtet sich der sogenannte Schleuserparagraf ganz besonders gegen organisierte und gewerbliche Schleuserbanden. Interessant ist die Frage daher schon: Wie verhält sich ein Staatsanwalt, wie urteilt ein Gericht, wenn der humanitäre Aspekt an erster Stelle steht?
Peng! will nun für Spendengelder werben, mit denen die Rechtshilfe für solche Menschen bezahlt werden kann, die bei dem Versuch erwischt werden, papierlose Einwanderer mit ins Land zu bringen. „Wir müssen über unsere Verantwortung reden“, sagt ein Sprecher, der sich Maximilian Thalbach nennt. Sein echter Name ist der Redaktion bekannt. „Was kann jeder von uns tun, um Menschen in Not ein Stück weiterzuhelfen?“
Bereits am ersten Tag der Kampagne kamen mehr als 10.000 Euro an Spendengeldern zusammen. Die Gruppe will so nicht nur zur Fluchthilfe aufrufen und Fluchthelfer unterstützen, sondern auch eine Debatte in Gang bringen. Thalbach fragt: „Wieso feiern wir die einen, aber die anderen nicht?“ Er meint die DDR-Geschichte. Er meint die Gegenwart.
Willst du mitkommen?
Wenn Mohammad al-Khartal seine Erinnerungen schildert, lächelt er. Je schlimmer sie sind, desto mehr. Die Männer, die von der Ladefläche fielen – ein Lächeln. Die Organhändler aus dem Sinai – ein Lächeln. Natürlich habe er Vergewaltigungen mitansehen müssen, sagt er. Er lächelt, fast lacht er. Eine Frau, eine Vertraute von ihm, die beim Gespräch seinen Schilderungen folgt, beginnt zu weinen. Seit seiner Überfahrt über das Mittelmeer hat Mohammad al-Khartal Angst vor Wasser.
„Ich bin sechs Jahre lang durch die Hölle gereist“, sagt al-Khartal. „Wenn ich mich noch einmal entscheiden sollte, dann würde ich mich für das Sterben entscheiden.“ Er lächelt wieder, während er diesen Satz sagt.
In Calais, einer Stadt in Nordfrankreich, wo der Eurotunnel durch den Ärmelkanal das französische Festland mit Großbritannien verbindet, hat der Tunnelbetreiber gerade wieder neue Barrieren errichtet. Allein im Jahr 2015 hat die Betreibergesellschaft nach eigenen Angaben bereits 15 Millionen Euro für solche Sicherheitsmaßnahmen ausgegeben. Immer wieder versuchen Migranten, die über das Mittelmeer kamen und es bis hierher geschafft haben, an diesem Ort auf einen der Güterzüge zu springen, die in den Tunnel nach England rollen. Seit Anfang Juni sind dabei bereits neun Menschen ums Leben gekommen.
In der Nähe dieses Tunnels traf Mohammad al-Khartal auf Kerstin Gmeinwieser. Die Flüchtlingsaktivistin aus Deutschland wollte wissen, was dort in Calais los ist. An einem Abend fuhren die beiden ans Meer. Sie blies einen rot-weißen Plastikball auf, damit spielten sie Fußball. Dann bestellte sie Pommes mit Essig.
„Wenn sich die Wahrnehmung dreht“, sagt Kerstin Gmeinwieser heute, „wenn aus dem unbekannten Flüchtling plötzlich ein Mensch wird, dann ändert sich ganz plötzlich alles.“ Sie fragte Mohammad al-Khartal, ob er mitkommen will. Dann stiegen sie in ihr Auto.
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