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Deutsch-polnische GrenzkontrollenGeschichte wiederholt sich

Gastkommentar von Stephan Lehnstaedt

Die heutigen Kontrollen an der deutsch-polnischen Grenze erinnern an eine ähnliche Situation 1938. Die richtete sich damals gegen Jüdinnen und Juden.

Polnischen Jüdinnen in Nürnberg vor ihrer Ausweisung im Oktober 1938 Foto: akg-images/picture alliance

D ie seit eineinhalb Jahren bestehenden Kontrollen an der deutsch-polnischen Grenze, auch an kleineren Übergängen, führen nicht nur zu Staus und massiven Behinderungen für Berufspendlerinnen und Pendler. Immer wieder stellt die Bundespolizei unerlaubte Einreisen fest und verweigert Menschen den Zugang nach Deutschland. Seit Kurzem führt auch Polen Zurückweisungen an der Grenze zu Deutschland durch. Der polnische Präsident in spe, Karol Nawrocki, hatte das in seinem Wahlkampf mit Vehemenz gefordert, rechtsnatio­nale Bürgerwehren sind bereits aktiv und führen selbst illegale Kontrollen durch, sodass die Warschauer Regierung handelte und die deutsche Praxis dupliziert.

Doch eine Eskalationsschaukel droht, denn die Rechten in beiden Ländern treiben die Kabinette vor sich her. Fatale Erinnerungen drängen sich auf, schon einmal hatten beide Staaten ihre Grenzen geschlossen und Einreisen unmöglich gemacht, es entstand eine Lage an den Grenzen, die mit der heutigen vergleichbar war. Das war vor dem Zweiten Weltkrieg, als die nationalsozialistische Politik noch nicht auf die Vernichtung, sondern auf die Auswanderung der jüdischen Bevölkerung gesetzt hatte.

Im Oktober 1938 kam es zu dem, was als „Polenaktion“ in die Geschichte eingehen sollte. Betroffen davon waren in Deutschland lebende polnische Jüdinnen und Juden, die sich meist schon seit vielen Jahren im Reich aufhielten und kein Interesse an einer Rückkehr in ihre Heimat hatten. Dort nämlich grassierte ein virulenter christlicher Antisemitismus, weshalb Warschau im März 1938 ein Gesetz verabschiedet hatte, das es erlaubte, den eigenen Staatsbürgerinnen und -bürgern bei einem längeren Aufenthalt im Ausland die Staatsbürgerschaft zu entziehen. Gemünzt war das insbesondere auf Jüdinnen und Juden, die die Heimat verlassen hatten.

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Die deutsche Regierung schuf daraufhin Fakten und ließ vor allem jüdische Männer verhaften und an die Grenze transportieren. Dort verweigerte Polen allerdings die Aufnahme, sodass Tausende unter elenden Bedingungen wochenlang in einer Art Niemandsland ausharren mussten. In Bentschen, dem heutigen Zbąszyń, wo in wenigen Stunden mehr als 8.000 Vertriebene eintrafen, entstand das wohl bekannteste Camp. Erst angesichts des Elends in diesem Notlager sprachen die beiden Regierungen miteinander, doch es dauerte bis Januar 1939, bis Polen bereit war, die Menschen doch noch aufzunehmen. Trotzdem ließ Berlin in jenen Monaten weitere 10.000 bis 15.000 Menschen ausweisen, zerstörte deren Existenz und viele kleine Läden und Geschäfte, die diese sich in Deutschland aufgebaut hatten.

Stephan Lehnstaedt

ist Professor für Holocaust-Studien an der Touro University Berlin. In seinen Jahren als Mitarbeiter am Deutschen Historischen Institut Warschau hat er die offene deutsch-polnische Grenze sehr zu schätzen gelernt.

Die „Polenaktion“ war außerdem der unmittelbare Auslöser für das Attentat Herschel Grynszpans, ein in Hannover geborener polnischer Jude, auf den deutschen Diplomaten Ernst vom Rath am 7. November 1938 in Paris. Grynszpans Eltern und Verwandte waren von den Ausweisungen betroffen und mussten in einem der Lager auf der polnischen Seite der Grenze ausharren. Mit seinem Anschlag wollte Grynszpan auf das Leid seiner Familie aufmerksam machen, doch da es keinerlei Bezug zwischen ihrem Schicksal und dem niederrangigen Pariser Botschaftssekretär vom Rath gab, war dessen Tod kaum als Widerstandsakt zu rechtfertigen, weshalb die Motive des Täters in der Berichterstattung marginalisiert wurden. Gleichwohl nutzten die Nationalsozialisten den Fall, um Antisemitismus zu schüren und die Pogrome vom 9. November 1938 auszulösen.

Nun ist 2025 nicht 1938. Zum Glück ähneln die Auswirkungen weder der deutschen noch der polnischen Maßnahmen an der gemeinsamen Grenze dem, was sich damals abspielte. Bemerkenswert sind aber doch die Parallelen in der Wahrnehmung. Da ist die drastische Ablehnung von als fremd empfundenen Menschen auf beiden Seiten, die zu einer Politik führt, die der Idee von Grenzen als Übergängen von einem Land ins andere widerspricht: Einen Ort dazwischen gibt es eigentlich nicht, aber genau darauf laufen beiderseitige Zurückweisungen letztlich hinaus.

Es kommt schon länger zu Pushbacks

Die große Mehrzahl der Betroffenen hat diese Erfahrung sogar schon gemacht. Sie haben meist verschlungene Wege hinter sich, nicht selten vom Horn von Afrika über Staaten der arabischen Halbinsel und des Nahen Ostens, von dort aus geht es mit dem Flugzeug nach Belarus und vor dort über die streng bewachte Grenze nach Polen. Dort kommt es schon länger zu Pushbacks, dem Zurückdrängen von Geflüchteten kurz nach dem Grenzübertritt, weil offensichtlich keine Einreisevisa vorliegen.

Der preisgekrönte Film „Green Border“ der polnischen Filmemacherin Agnieszka Holland hat das bereits 2021 thematisiert und insbesondere auf die Schicksale im „Niemandsland“ hingewiesen, in dem sich viele Flüchtlinge teils wochenlang aufhalten müssen: Von der einen wie der anderen Seite nicht gewollt, drangsaliert und immer wieder in Richtung Grenze getrieben, müssen sie ohne Schutz vor dem Wetter und ohne ausreichende Lebensmittel und Wasser ausharren. Diese EU-Außengrenze ist in mancherlei Hinsicht bereits nah an den Zuständen, die 1938 zu beobachten waren. Doch hier gilt weiterhin: Aus den Augen, aus dem Sinn.

Die „Polenaktion“ lehrt zudem, wozu eine sich gegenseitig hochschaukelnde Außenpolitik führen kann, die Fakten schafft, bevor sie sich über mögliche Konsequenzen ausgetauscht hat. Das schädigt mittelfristig die eigene Wirtschaft und treibt empörte Bürgerinnen und Bürger auf die Barrikaden, die angesichts einer vermeintlichen Schwäche der eigenen Regierung zur Selbsthilfe greifen. Natürlich ist das nicht das Gleiche wie die Geschehnisse der Reichspogromnacht. Doch dass die Gewalttaten psychisch nicht zurechnungsfähiger Flüchtlinge für allerlei Hetze genutzt werden, ist heute wieder zu beobachten.

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