Der koreanische Regisseur Hong Sang-soo: Das Fühlen zwischen den Zeilen
Einen silbernen Bären hat er schon: der Regisseur Hong Sang-soo. Nun kommt sein Berlinale-Film ins Kino und erzählt von glücklichen Begegnungen.
Eine Standardsituation in Hong Sang-soos Filmen: Menschen an Tischen. Oft in diesen Filmen trinken die Menschen, betrinken sie sich, hier, früh im Film, der Tag ist noch hell, trinken sie Tee. Später, am selben Tisch, eine größere Runde, da häufen sich die Flaschen mit den alkoholischen Getränken auf dem Tisch, ein älterer Mann sitzt dabei und auf die Frage, was er so macht, sagt er nur: „Schreiben und trinken.“
Am Anfang aber sind es drei Frauen am Tisch und kein Mann. Darunter die Schriftstellerin Jun-hee (Lee Hye-hyong), die eine Schreibkrise hat und in den Vorort von Seoul gekommen ist, um eine Freundin, zu der sie den Kontakt verloren hat, zu besuchen. Auch diese Freundin war Schriftstellerin, auch sie ist in eine Krise geraten, dann hat sie die literarische Szene der Hauptstadt verlassen, betreibt nun eine Buchhandlung, in der Jun-hee sie aufsucht.
Mit am Tisch eine junge Frau, die gerade dabei ist, Gebärdensprache zu lernen. Jun-hee bittet sie, einen Beispielsatz zu übersetzen. Sie denkt kurz nach, dann ist es dieser: „Der Tag ist noch hell, aber bald dunkelt es. Lass uns spazieren gehen, solange es hell ist.“ Die junge Frau zögert, spricht dann mit ihren Gesten. Die Hände offen nebeneinander gehalten, es ist noch Licht, eine Bewegung zur Seite, die Geste für „bald“ drängt von außen. Die junge Frau macht es vor, Jun-hee macht es nach.
Man ahnt mehr, als man sieht
Zwei Frauen und ihre Hände kommen so ins Gespräch. Small Talk als Haiku in Gebärden. Die Szene ist lustig und schön.
„Die Schriftstellerin, ihr Film und ein glücklicher Zufall“. Regie: Hong Sang-soo. Mit Lee Hye-young, Kim Min-hee u. a. Südkorea 2022, 92 Min.
Der Tag ist noch hell, Jun-hee geht spazieren. Sie lässt die anderen Frauen zurück, wird weitere Begegnungen machen. Sie geht in ein Haus mit einer Art Aussichtsplattform, weit unten sieht man eine mehrspurige Straße, genauer gesagt: Fast sieht man sie nicht, denn die schwarz-weißen Bilder sind zwar im Vordergrund kontrastreich und scharf, im Hintergrund aber wie überbelichtet. Man ahnt so mehr, als man sieht.
Im Haus kommt Jun-hee mit einer Frau ins Gespräch, es stellt sich heraus, sie ist die Frau eines Filmregisseurs (wobei sie im weiteren Verlauf mehrfach nur sagt, sie wohnten zusammen). Der Regisseur, Herr Park, wollte einst ein Buch von Jun-hee verfilmen, es hat nicht geklappt, seitdem ist die Beziehung zwischen den beiden gestört.
Das ist bald mit Händen zu greifen, denn er kommt um die Ecke, hat sich ein wenig versteckt, im Gespräch mit den beiden, seine Frau sitzt dabei, ist die nicht geheilte Wunde zu spüren. Jun-hee geht dann hinaus in eine Art Park, verabschiedet sich von den beiden, trifft zufällig, es ist wohl der glückliche Zufall des deutschen Titels, auf eine junge Frau, Kil-soo (Kim Min-hee) die Schauspielerin ist und Jun-hee erkennt, deren Bücher sie liebt.
Ideen im Gehen
Die beiden entwickeln, beim Gehen und beim Zwischendurch-Stehen, das Projekt eines gemeinsamen Films. Jun-hee will keine Bücher mehr schreiben, aber einen Film will sie unbedingt drehen.
Das ist das kleine Nichts eines Plots in Hong Sang-soos Film. „Die Schriftstellerin, ihr Film und ein glücklicher Zufall“ war in diesem Jahr im Wettbewerb der Berlinale zu sehen, gewann den Silbernen Bären, aber seitdem hat Hong bereits einen weiteren Film gedreht, seinen achtundzwanzigsten, „Walk Up“, der lief dann beim Festival von San Sebastián.
Im Frühsommer hatte der südkoreanische Regisseur eine große Retrospektive in New York, im Herbst und Winter folgten und folgen Wien und dann München. Außerdem sind gerade zwei kleine Bücher über ihn erschienen, von Dennis Lim (auf Englisch: „Tale of Cinema“) und Sulgi Lie (auf Deutsch: „Das lächerliche Ernste“). Und nun läuft dank des Grandfilm-Verleihs dieser Film ganz regulär in deutschen Kinos, das ist nicht so häufig der Fall.
Hong Sang-soo ist ein Regisseur, der von denen, die ihn lieben, geradezu glühend verehrt wird, aber nie ein großes Publikum haben wird. Auf den ersten Blick scheint in seinen Filmen vieles banal, minimalistisch, Begegnungen eben, Gespräche, Sitzen an Tischen, es geht dabei weniger um das Gesagte und das Gezeigte als das Sagen und Sprechen und manchmal mehr noch das Schweigen, das Zeigen und Sehen, die Zwischentöne und das Lesen und mehr noch das Fühlen zwischen den Zeilen. Die Figuren sind nie völlig greifbar, auch nicht für sich selbst, entstehen, verändern sich mit den Situationen, beim Gehen, Reden und Zögern.
Alles scheint schrecklich simpel, und noch simpler scheint es, seit Hong fast alles selbst macht: Produktion, Buch und Regie, eh klar, inzwischen aber meist auch Kamera, Schnitt, sogar die Musik. Immer enger wird der Kreis der Darsteller*innen, Hongs Lebensgefährtin Kim Min-hee, auch Kwon Hae-hyo, der hier den Regisseur spielt, ist zuletzt meistens dabei. Es geht dabei nicht um Autorenfilm-Größenwahn, sondern um Konzentration. Die Magie von Hongs Filmen ist eine Magie des Moments. Darum gibt es nie ein fertiges Drehbuch, Dialoge, Ideen werden am Morgen des Drehtags entwickelt – und alle Beteiligten überlassen sich dem, was beim Drehen geschieht.
Und so sieht man dann drei Frauen am Tisch. Eine sagt einen schlichten lyrischen Satz, die andere übersetzt ihn in Gebärden, die die Schriftstellerin dann nachzumachen versucht. Sehr einfach ist das und hat doch die Magie des Haiku. „Der Tag ist noch hell, aber bald dunkelt es. Lass uns spazieren gehen, solange es hell ist.“ An Tagen, an denen es früh dunkel wird, kann man nun ins Kino gehen und mit einer südkoreanischen Schriftstellerin ins Helle spazieren.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!