Der dreckigste Ort Berlins: Die Zumutung der Großstadt
Wo Berlin denn am dreckigsten sei, wird gern gefragt. Die Antwort auf diese Frage ist einfach. Ein Besuch im Aufzug des U-Bahnhofs Hallesches Tor.
Denn denkt man sich als kinderloses Subjekt vielleicht noch, dass eine Stadt wie Berlin schon in Ordnung sei, so wie sie eben ist, merkt man mit einem Zweieinhalbjährigen im Kinderwagen vor sich oder auf der Schaukel neben sich oder irgendwo im Sand, dass man als Dorfkind nicht wirklich darauf vorbereitet war, die magischen Worte auszusprechen: „Bitte spiel nicht da vorne. Da scheißen immer die Leute in den Busch.“
Dass Stadt irgendwie Zentralität und damit Verdichtung von Gesellschaft bedeutet, kann man in einem beliebigen Proseminar aufschnappen. Dass mit dieser Verdichtung aber auch Verdichtung menschlicher Ausscheidungen in verschiedenen Aggregatzuständen gemeint ist, erfährt man gerade dort, wo man ein Kind hindurchschieben muss.
Halt der Geruch von Urbanität
Besonders eindrücklich wird diese Erfahrung, wo es nicht mehr nur um den Geruch geht. Und noch einmal schwieriger wird der Umgang mit diesem Aspekt von, na ja, nennen wir es mal Urbanität in den Räumen des Alltags, denen man nur schwer ausweichen kann.
Die Besonderheit
Jede und jeder mault über die besonders dreckigen Ecken der Stadt, will vergleichen und skandalisieren. Gespräche darüber haben immer etwas eigenartig Kompetitives. Wer diesen Ort im U-Bahnhof Hallesches Tor besucht hat, gewinnt die Competition.
Das Zielpublikum
All jene armen Seelen, die nicht ohne größere Schwierigkeiten die Treppe benutzen können und so halt wirklich in den Aufzug müssen. Und offenbar eben auch all diejenigen, die sehr dringend eine öffentliche Toilette suchen und sie auf die Schnelle nicht finden können.
Hindernisse auf dem Weg
Der Ort ist der Weg und der Weg ist das Hindernis. Für alle weiteren dialektischen Ausführungen sollte man dann wirklich mal ernsthaft den Hegel lesen (oder nochmal lesen).
Wie zum Beispiel dem wohl dreckigsten Ort Berlins: dem Aufzug an der U-Bahn-Haltestelle Hallesches Tor.
Es handelt sich hierbei um einen Ort, den wirklich nur derjenige betritt, der überhaupt keine andere Wahl hat. Wer den Kinderwagen also nicht mit krummem Rücken und entwürdigendem Watschelgang die Treppen hinunterbugsieren möchte, der steht, um zur U1 oder von ihr wegzukommen, nun vor jener Glastür, hinter der ihn auf geschätzten drei Quadratmetern der konzentrierte Dreck der Stadt erwartet. Neben sich hat man hier nur Einkaufstouristen, die es einfach nicht besser wissen. Hey, ich glaube, wir sind nicht mehr in Kansas.
Immer wieder die Hoffnung
Es muss ja irgendwann eine Reinigung stattfinden, denkt man sich jedes Mal aufs Neue. Doch keine Reinigungsleistung dieser Welt kommt gegen den Ammoniakgeruch an, der diesen Raum einfach jedes Mal beherrscht und regelmäßigen Fahrstuhlnutzerinnen die Frage aufnötigt, wie viele Menschen in der letzten Nacht wohl in diese Kabine uriniert haben.
Zu den weiteren Fragen, die sich aus einer Fahrstuhlfahrt an dieser Haltestelle der Berliner Verkehrsbetriebe ergeben, zählen unter anderem: Wäre man, so mentalitätsmäßig, nicht doch besser vielleicht in Völksen-Eldagsen aufgehoben, wenn einem schon ein wenig Pissedunst offenkundig zu viel ist? Hatten die Situationisten nicht damals was Kluges über spontane Akte des Vandalismus geschrieben? Und wie halte ich mein Kind nun davon ab, die Tasten für „Tür schließen“ und „Nach unten“ zu drücken?
Denn so stark der Wunsch, das Kind möge sich eigenständig und selbstwirksam mit den Technologien des Alltags auseinandersetzen, auch sein mag – er verblasst angesichts des Wunschs, das Kind möge vielleicht nicht genau jetzt in getrockneten Urin greifen und sich anschließend an der Nase kratzen.
Ein Abenteuer des Alltags
So wird jeder Besuch dieses Raums zu einem Abenteuer, zu der Sorte Abenteuer, über die es wirklich zu schreiben lohnt: einem Abenteuer des Alltags. Und jedes Abenteuer beinhaltet seine eigene Lektion.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Ja, wie gerne würde man zu den Eltern gehören, die sich ganz carefree durch die Stadt bewegen, ihre Nachkommen ohne Rüge die Haltegriffe auch in der Ringbahn ablecken lassen. Doch an diesem dreckigsten Ort Berlins erfährt man im Aufzugfahren eben auch, wer man ist, woher man kommt. Das kann ernüchternd sein oder auch befreiend. Das eigene Verhältnis zu den Ausscheidungen der Nachbarn im weitesten Sinne neu zu bestimmen, kann auch etwas Therapeutisches haben.
Georg Wilhelm Friedrich Hegel hat doch ein paar Seiten über den Ekel geschrieben und warum wir uns eben gerade vor den Fäkalien besonders ekeln. Es ist halt etwas Totes, beziehungsweise etwas beinahe Totes, das wir da riechen. Jedenfalls zeitigt das Stehen im Dunst der letzten Nacht nicht nur diese Erkenntnis, sondern auch die eine oder andere über die Stadt, in der sich dieser Fahrstuhl befindet. Oder über Städte im Allgemeinen.
Wie wäre es denn zum Beispiel mit dieser Arbeitsdefinition: Stadt ist dort, wo man sich mit der Scheiße der anderen auseinandersetzen muss.
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