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Der Zweite Weltkrieg wirkt nachSchatten der Vergangenheit

Wunden, die nicht heilen: Im Museumsquartier Osnabrück leitet Thorsten Heese das „Forum Kriegskinder und Kriegsenkel“. Die NS-Zeit, zeigt es, wirkt noch immer nach.

Katalysatoren der Erinnerung: Thorsten Heese im Luftschutzkeller der Villa Schlikker. Foto: Uwe Lewandowski

OSNABRÜCK taz | Er ist unscheinbar, der faustgroße Glasklumpen. Aber er ist ein Zeitzeuge und die Schatten der Vergangenheit, aus der er kommt, sind noch heute lang und schwer. Ein Einmachglas, deformiert durch den Krieg: 1.400 Grad Hitze haben es durchglüht, in den 1940ern, bei einem Luftangriff.

Milchig trüb liegt der Klumpen in seiner Vitrine, schmutziggrau, Inventar-Nummer E2996. Auch Gasmasken liegen hier, Verbandpäckchen, das Brettspiel „Stukas greifen an“. Und es gibt keinen besseren Ort für all das als diesen: den Luftschutzkeller der Villa Schlikker, von 1932 bis 1945 als „Braunes Haus“ Sitz der Kreisleitung der Osnabrücker NSDAP.

E2996 ist ein Exponat der stadtgeschichtlichen Dauerausstellung des Museumsquar­tiers Osnabrück (MQ4), zu dem die Villa gehört. Und sicher geht mancher achtlos an ihm vorbei. Aber vom Richtigen betrachtet, im richtigen Augenblick, wird es zum Katalysator schmerzvoller Erinnerung.

Das MQ4 besitzt viele solcher Katalysatoren: den Aschenbecher, der einst eine Granatkartusche war; den Kochtopf, zurecht gehämmert aus einem Stahlhelm; den Küchenhocker, getischlert aus einer Kiste für Pistolenmunition; oder die Aktentasche, genäht aus der Lederbespannung des Rumpftanks einer JU 88. Manche Besucher des engen, düsteren Kellers sehen in ihnen nur Kuriositäten. Andere spüren durch sie, dass es Wunden gibt, die nicht heilen, selbst nach Jahrzehnten nicht, nach Generationen.

Unheilbare Wunden

Einer, für den diese unheilbaren Wunden Alltag sind, beruflicher Alltag, ist der Historiker Thorsten Heese. Heese ist Kurator für Stadt- und Kulturgeschichte am MQ4. 2005 hat er dort die Ausstellung „Osnabrück 1945“ gezeigt, mit Alltagsgegenständen aus dem Besitz von Zeitzeugen. Auch sie war ein Katalysator: Heeses „Forum Kriegskinder und Kriegsenkel“ ist daraus entstanden. „Damals haben wir die Leihgeber zu einer Sonderführung eingeladen“, erzählt Heese. „Daraus entwickelte sich ein Gespräch. Und dieses Gespräch dauert im Grunde bis heute an.“

Einmal pro Monat trifft sich das Forum, flankiert vom „Forum Zeitgeschichte – Zeitzeug*innen erinnern sich“. Bundesweit einzigartig in der deutschen Museumslandschaft, arbeitet es anhand von Familiengeschichten Spuren der NS-, Kriegs- und Nachkriegszeit auf – manche davon reichen bis in die Gegenwart. Buchprojekte entstehen aus ihm, Audioarchive.

Je nach Thema kommen bis zu 70 Zuhörer, manche von weit her. „Das Museum“, sagt Heese, „wird so zum sozialen Ort, zum gesellschaftlichen Labor.“ Zuweilen umfasst das Forum eine Lesung, zuweilen einen Vortrag, stets jedoch eine Diskussion. Das könne auch schon mal „ziemlich hardcore“ werden, sagt Heese – etwa wenn jemand eine Geschichte preisgibt, die er noch nie zuvor jemandem erzählt hat.

Am Dienstag vergangener Woche, am 12. März erzählte Erika Wamhof über Friedrich Eckermann, ihren Großvater, der 1933 aus dem Polizeidienst entlassen wurde, weil er Sozialdemokrat war und nicht zum „nationalen Beamtentum“ passte. Sie zeigte Dokumente und Familienfotos, sagt Sätze wie: „In unsere Familie war da ein großes Schweigen.“

Manchmal rang Erika Wamhof um Fassung. Manchmal zitterten ihre Hände. Was damals genau geschah, warum darüber auch nach 1945 nie gesprochen wurde, weiß sie bis heute nicht. Aber sie hat nachgeforscht, so gut sie konnte: „Ich habe mir gesagt: Wenn du das nicht selbst tust, und nicht bald, ist es verloren.“

Polizeiknüppel aus den 30ern

20 Zuhörer sind gekommen, und es war ein emotionaler Abend. Heese leitete ihn ein, indem er einen Polizeiknüppel aus den 1930ern von Hand zu Hand wandern ließ. Zwischendrin spielte er die Rede ein, die Sozialdemokrat Otto Wels am 23. März 1933 in Berlin gegen das NS-„Ermächtigungsg­esetz“ gehalten hat: „Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht …“

Am Ende, als die Diskussion begann, brachen Verwundungen auf, die fast so stark sind wie die von E2996. Dass auch sie „eine Fragende, eine Suchende, eine Forschende“ sei, sagte eine junge Zuhöre­rin wie als Selbstbeschwörung. Und dass wir dabei in einem Raum saßen, in dem Parkett knarzt und Kronleuchter glitzern, ist nur scheinbar ein Widerspruch: Zu NSDAP-Zeiten war hier ein Büro.

Am Anfang, vor 15 Jahren, fanden die ersten Forengespräche in der einstigen „Ehren­halle“ statt. Da, wo früher die Hitlerbüste stand, links daneben der Wald der Standarten. „Damals war uns wichtig, einen Täterort neu zu besetzen“, sagt Heese.

Offenheit braucht ein solcher Abend Spontaneität, Vertrauen. Und eine Grundstruktur, Vorgespräche, eine Moderation. Was er nicht braucht, was er auch nicht verträgt: Didaktisierung.

Nicht selten brechen durch das Erzählte Traumata auf. Wird diese Belastung zu groß, stehen Therapeuten bereit. Vergangene Woche vor Ort: Diplompädagogin Susanne Hasenfuss. „Ich gehe aber nicht aktiv auf jemanden zu“, sagt sie, „die Entscheidung, ob er Hilfe möchte, trifft der Klient allein.“

Therapeuten stehen bereit

Hasenfuss arbeitet nach der Pesso-Boyden-Methode. Deren Ziel: „Negativ­erfahrungen durch heilende Alternativen zu überlagern, emotional“, erklärt sie. „Der Klient setzt sich dabei nicht zuletzt mit seiner Familienstruktur auseinander, denn aus ihr resultieren ja häufig die Probleme.“

Auch Reinhard Althoff ist heute hier. Seit 2016 ist er einer der Stammbesucher. Er sieht das Forum als einen Raum der Identitätsarbeit: „Das ist auch ein Stück Befreiung. Es tut gut, hinter die eigene Fassade zu schauen, Dinge in sich zuzulassen.“ Das Forum sei, sagt er, „vielleicht auch im anthroposophischen Sinne eine Arbeit an der eigenen Seelenverfassung“. Wichtig ist ihm dafür eine „Atmosphäre mit Empathie“, und die findet er dort.

Wer Abende wie am 12. März besucht, spürt sie sofort, die transgenerationale Weitergabe, die Traumata, die von der Kriegsgeneration auf ihre Kinder, von den Kindern auf die Enkel übertragen werden. „Oft kommt dann lange Verschüttetes, Verdrängtes hoch“, sagt Hasenfuss. „Etwas, von dem man gar nicht wusste, dass man es in sich trägt. Manchmal reicht dazu schon ein kleines Detail der Erinnerung eines Fremden.“ Oder eben ein Gegenstand wie E2996.

Ein Stück Befreiung

Wer lieber lesen will als hören: Eine Treppe höher steht der „Zeitzeugenserver“ des „Forum Zeitgeschichte – Zeitzeug*innen erinnern sich“. Interview auf Interview ist dort abrufbar, aus den letzten 15 Jahren. Auch das ist Oral History.

„Wir schaffen einen Raum der Kommunikation“, sagt Heese. „Narrative fremder Familien helfen, die Narrative der eigenen zu überprüfen.“ Erinnerungen werden dabei relativiert, Perspektiven verlagern sich, Zementierungen und Vorurteile geraten ins Wanken. Oft sind die Diskussionen auch stark kon­trovers, gerade bei Themen wie Flucht und Vertreibung. „Aber am Ende nimmt jeder was für sich mit.“

Heeses Foren sind heute so gut besucht wie vor 15 Jahren: „Im Grunde wächst der Bedarf sogar.“ Deshalb reichen seine Themenpläne auch schon bis 2020. Auch Reinhard Althoff steht drauf. Am 10. Dezember 2019 liest er aus seinem autobiografischen Manuskript „Das grüne Sofa“. „Warum mein Vater lange nicht mit mir ins Schwimmbad wollte? Später erfuhr ich: Sein Schiff wurde vor Narvik im Eismeer versenkt …“ Familiengeschichte ist eben immer auch Zeitgeschichte. Wie bei E2996.

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1 Kommentar

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Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

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  • E2996 ist ein Klumpen aus geschmolzenem Glas. Es kann ihm egal sein, ob er als Katalysator wirkt oder nicht. Nicht egal kann es uns Menschen sein. Deswegen lehnen die meisten von uns die Katalysator-Rolle schlicht ab. Journalisten machen das nicht.

    Die taz etwa ist zwar kein Museum, und sie beschäftigt auch keine ausgebildeten Trauma-Therapeuten, aber sie will Entwicklungen forcieren. Leider übersieht sie dabei oft, dass Vergangenheit allgegenwärtig ist. Sie lässt sich nicht in Villen einsperren, die geregelte Öffnungszeiten an der Tür stehen haben. Sie ist in jedem von uns, auch in taz-Leser*innen und taz-Journalist*innen.

    Wenn taz-Journalist*innen Texte verfassen, die anschließend online gestellt werden, wirken die manchmal. Wie E2996. Wer sich von ihnen angesprochen fühlt, der reagiert. Als Katalysatoren kann man Journalisten allerdings nicht bezeichnen. Katalysatoren sind schließlich Stoffe, die die Geschwindigkeit chemischer Reaktionen erhöhen, ohne dabei selber verbraucht zu werden. Das trifft auf Journalisten definitiv nicht zu. Und das ist ein echtes Problem.

    Dass „meine taz“ richtig gut vorbereitet ist auf ihre selbstgewählte Rolle, glaube ich nicht. Ihre Reaktionen wirken jedenfalls mitunter etwas unentschieden. Sie kann und will eindeutig kein Glasklumpen sein. Mitreagieren will sie aber auch nicht. Zumindest will sie nicht interagieren mit mir. Wenn sie überhaupt eine Reaktion zeigt, dann indirekt.

    Ich sehe schon ein: Es kann richtig „hardcore“ sein zu merken, dass man kein geschmolzener Glasklumpen ist, sondern ein Mensch. Nur: Wer meine Lieblingszeitung wirklich zu einem „sozialen Ort“ machen will, zu einem „gesellschaftlichen Labor“, darf nicht so tun, als stünde er über den Dingen – oder doch wenigstens über den Menschen. Er muss sich schon einlassen auf Reaktionen. Auch auf solche, die er nicht kontrollieren kann. Tot oder Leben – dazwischen ist nichts.