■ Der Verfall der SPD ist nach den Wahlniederlagen unübersehbar. Aber ohne starke Sozialdemokratie ist die Demokratie in Gefahr: Blick in den Abgrund
I. In Berlin sind die Sozialdemokraten noch einmal davongekommen. Inzwischen gelten schon leichte Verluste, errungen aus einem Rekordtief heraus, als ein großer Erfolg. Die SPD ist bescheiden geworden.
Das Berliner Ergebnis freilich ändert nichts an der Bilanz der Herbstwahlen. Der Absturz dieser Partei kennt in der deutschen Geschichte keine Parallele. Dass im Bund regierende Parteien Landtagswahlen verlieren, ist normal. Ob an der Saar oder am Main eine Regierung wechselt, ist für den Rest der Republik keine Aufregung wert. Doch der Blick in den Abgrund, der sich unter der SPD da plötzlich auftut; das politische Beben, bei dem völlig ungewiss ist, wer oder was unter den Trümmern begraben und wer oder was aus den Ruinen auferstehen wird: Dies ist das eigentliche Ereignis dieser Herbstwahlen. Wie konnte es so weit kommen? Ist die SPD noch zu retten? Was bedeutet das für die Demokratie?
II. Sich des Staates zu bemächtigen, um den Kapitalismus zu überwinden, das war – und ist noch immer für viele – die Ursprungsidee des Sozial(demokrat)ismus, im Osten wie im Westen. Diese Idee hat die Rhetorik der Revolution ebenso beflügelt wie die Praxis der Reform und die Hybris mancher Diktatur. Sie hat den Kapitalismus gezähmt und die Verstaatlichung der Politik legitimiert, abstrakt und ganz konkret, in Berlin und anderswo. Im Godesberger Programm von 1959 hat die SPD dann endlich, zu spät, halbherzig und widerwillig, die Überlegenheit der Märkte für die Ordnung der Wirtschaft anerkannt. An der Staatsversessenheit dieser Partei für den Rest der Gesellschaft hat dies wenig geändert.
Auf die veränderten Realitäten hat sie sich stets mit einem gehörigen Timelag eingestellt, und auch jetzt ist nicht auszuschließen, dass sie irgendwann um das Jahr 2030 ihren Frieden mit dem „digitalen Kapitalismus“ (Peter Glotz) gemacht haben wird, nachdem sie vorher, wenn es sie dann noch gibt, erheblich zu seiner Humanisierung wird beigetragen haben.
Wer aber die aktuelle Krise der SPD verstehen will, der muss sich ihre Oppositionsjahre 1982 – 1998 vergegenwärtigen, Gesichter und Namen noch einmal vor seinen Augen erscheinen lassen: Hans-Jochen Vogel, Björn Engholm, Rudolf Scharping, Oskar Lafontaine. Es war schon eine beträchtliche Leistung, wie sich eine so große Partei in so vielen Jahren unter so vielen Vorsitzenden so wenig erneuert hat. Der logische Höhepunkt war der Wahlkampf 98. Ein paar Wähler weniger und ein paar Wahrheiten mehr, und der SPD ginge es heute auch besser.
III. Die nächsten Jahre werden darüber entscheiden, ob die SPD runderneuert als Volkspartei der linken Mitte erhalten bleibt oder ob sie in einigen Jahrzehnten im politischen Industriemuseum in Vitrinen zu besichtigen sein wird. Nur sollte jedem klar sein, was das bedeutet. Die Verfassungswirklichkeit im Lande würde sich tiefgreifend verändern. Mit der SPD und den Gewerkschaften brechen zwei der vier Säulen (neben den christlich-sozial Konservativen und den Arbeitgebern) weg, die den historischen Kompromiss zwischen Kapital und Arbeit getragen haben und ohne die sich der Rheinische Kapitalismus nicht wird erneuern lassen.
Die CDU würde kurzfristig vom Niedergang der SPD profitieren, langfristig aber schwächer werden, weil ihr der politische Gegner fehlt. Weit und breit ist keine Partei sichtbar, die der historischen Rolle der SPD nachfolgen könnte, wie damals in Britannien die Labour-Partei den Liberalen.
Wenn dann am Ende auch noch die CDU von der Morbus Lafontainensis befallen werden sollte (etwas mehr Schulden und etwas weniger sparen; erst versprechen und dann auf Dauer nicht halten können) –, dann könnte in der Tat das politische Feld eines Tages abgeräumt sein, und es gäbe keinen demokratischen Ort mehr, nirgends, wo sich Protest und Enttäuschung festmachen könnten.
Die Ressentiments – nicht nur der Modernisierungsverlierer – werden vagabundieren wie herrenlose Hunde. Bis es so weit ist, werden sich wie heute in Österreich auf der Rechten so morgen in Deutschland auf der Linken zwei in etwa gleichstarke Parteien Wähler und dann auch die Macht teilen.
Es werden Revisionen und Wenden stattfinden, die man vorher nicht für möglich gehalten hätte. Die öffentliche Langeweile wird ein Ende haben, und die öffentliche Kritik wird sich weiter nicht mit politischen Kategorien beschäftigen, sondern mit des Kanzlers Cohibas, Brionis und Bordeaux, so wie jenseits der Alpen das Versagen der demokratisch-intellektuellen Öffentlichkeit Haider erst vor die Tore Wiens gebracht hat.
IV. Wo aber Gefahr ist, da wächst das Rettende noch lange nicht. Selbstdestruktives Verhalten macht – wie bei Individuen auch – kurzfristig Sinn und bringt langfristig den Ruin. Dass alle gemeinsam den Erfolg wollen, muss nicht dazu führen, dass die einzelnen sich auch entsprechend verhalten. Für den Ex-Vorsitzenden an der Saar macht es Sinn, was er tut, mag er der SPD noch so sehr schaden. Es macht Sinn für den Verteidigungsminister, den Verteidigungshaushalt wie eine Monstranz vor sich herzutragen und nebenbei wissen zu lassen, welch famoser Kanzler er wäre. Dem IG-Metall-Vorsitzenden hilft es, seinen Laden zusammenzuhalten, wenn er mit dem Bündnis für Arbeit einen Eckpfeiler der Regierungspolitik ins Wanken bringt. Vielen Grünen ist die Quote drinnen wichtiger als mehr Stimmen draußen. Je weiter der Verfall, je näher das Ende, umso weniger „lohnt“ sich Rücksicht auf das gemeinsame Interesse.
Auf dieses Dilemma, dass Teilrationalitäten und das für alle Vernünftige auseinanderfallen, gibt es in einer Partei, einer Regierung und in einem Land eine autoritäre und eine demokratische Antwort: Führung und Organisation auf der einen, Loyalität, geteilte Werte und Gefühl für wechselseitige Verpflichtungen auf der anderen Seite. Der Erfolg nicht nur der Regierung Schröder wird davon abhängen, ob es ihm gelingt, dies für die Bürger begreiflich und wirksam zu machen. Er ist, zur Überraschung vieler, wieder ein Kanzler, der vom Gemeinwohl, vom Staat spricht. Das bedeutet nicht nur, Ansprüche aus der Gesellschaft abzuwehren (sprich: zu sparen), sondern auch Ansprüche an die Gesellschaft zu formulieren, nicht zuletzt an jene, die zu den Gewinnern der Entwicklung gehören. Die neue Wahrhaftigkeit wird die alten Täuschungen übertreffen müssen, soll Vertrauen wieder wachsen. Das ist ein riskantes Spiel. Am Rande des Abgrunds muss man Haltung bewahren, pflegte der frühere Fraktionsvorsitzende der SPD, Fritz Erler, zu sagen. Nur wenn sie riskieren, die Wahl 2002 zu verlieren, haben SPD und Kanzler eine Chance, sie zu gewinnen. Warnfried Dettling
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