Der Unwille zur Macht: Mehr Aggressivität wagen?
Es ist sicher gut, zu hinterfragen, wer wo wie und warum das Sagen hat. Aber heißt das umgekehrt, dass Machtpositionen grundsätzlich zu meiden sind?
V or ziemlich genau 25 Jahren traf mich in einem Pub am Rand der Göttinger Fußgängerzone eine folgenschwere Erkenntnis. Ich war damals noch knietief in Adoleszenzangelegenheiten verstrickt, und vielleicht kennen Sie diesen Moment sogar: kurz vor der Pubertätshochwassermarke, wo es gerade am allerschlimmsten ist, die Welle aber bald brechen wird und sich alles beruhigt? Genau da spielt jedenfalls diese Geschichte, im Kreis meiner Freunde und ein paar Pints irischen Exportbiers.
Wir Dorfkids waren den Tag über mit großen Augen durch die linksradikale Unistadt geschlendert, hatten die Taschen voller Raubdrucke anarchistischer Literaturklassiker aus dem legendären Buchladen Rote Straße. Wir sprachen über die Zukunft, Weltschmerz und Krawallmusik, wir tranken auch ein bisschen zu viel. Und irgendwo in meinem so improvisierten wie unverlangten (und ehrlich gesagt auch kenntnisarmen) Monolog über Bakunin und Nestor Machno müssen mir wohl Zweifel erwacht sein darüber, ob das hier überhaupt irgendwen interessiere. Außer mir.
Heute würde man sagen, ich hätte mir Feedback erbeten. Treffender ist wohl, dass ich einfach kurz die Klappe gehalten und gefragt habe, ob ich die anderen gerade seit 20 Minuten volllabere, während sie eigentlich – so für sich – ganz andere Sorgen hätten. Die Antwort hieß einstimmig: „Ja.“
Kritik tut eben weh
Das war ein kleiner Schock für mich, aber es ging noch weiter, und ungefähr zwei Stunden später lag eine Generalabrechnung auf dem Tisch: darüber, wie ich mein Umfeld dominiere, Themen setze und Menschen einbestelle, wenn ich sie gerade für irgendein Projekt brauche, das wenig später auch wieder verpuffe, weil mir die Lust darauf vergangen sei.
Getroffen hat mich das nicht nur, weil Kritik ja immer ein bisschen schmerzt, sondern weil ja nicht grundlos diese billig kopierten Heftchen voller Herrschaftsfreiheit und Gewaltlosigkeit in meinen Parkataschen steckten. So wollte ich nicht sein, und ich beschloss noch in dieser Kneipe, kurz vor Zapfenstreich, jetzt sofort für immer damit aufzuhören.
Wenige Monate später gab es diesen Freundeskreis nicht mehr. Vielleicht weil nun eben gar keiner mehr wen „einbestellte“ oder Projekte anstieß – vielleicht aber auch, weil niemand mehr ständig Terror schob und endlich alle Luft hatten, sich um Dinge zu kümmern, an denen sie mehr Freude hatten. Ich weiß es wirklich nicht.
Vielleicht mache ich heute ein paar Sachen besser, ich versuche es jedenfalls. Wichtiger ist aber, dass ich seit damals vermieden habe, überhaupt wieder Teil irgendeiner Clique zu werden, und mir da, wo Strukturen dann doch nötig waren (ob auf Arbeit, im Hobby oder in Revolutionsangelegenheiten), Hintertüren offenzuhalten. Mir sind die Machtstrukturen – gerade in Jungsgruppen – bis heute zuwider, und wahrscheinlich habe ich auch ein bisschen Angst vor mir selbst. Zumindest traue ich mir nicht so recht über den Weg, was das angeht.
Und weiter?
Es macht nichts, dass diese Geschichte kein Happy End hat. Schlimm ist hingegen, dass es überhaupt kein Ende gibt. Ich kam zum Beispiel gerade wieder auf dieses Erlebnis, weil ich letzte Woche zwei besoffene Fußballidioten vor der Regionalexpresstür entschieden wegmackern musste, um dem Kind an meiner Hand zu zeigen, dass aggressive Arschlöcher eben nicht automatisch als Sieger vom Platz gehen.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Seitdem frage ich mich, ob ich selbst eins war – und was überhaupt die Alternative ist im Streit mit Autoritären, die ja auch in anderen Kontexten nicht verschwinden, nur weil einer nicht mehr mitspielen will. Nicht nur im Vorbeilaufen an der Bahntür, sondern eben auch langfristig in Arbeit, Hobby und Revolutionsangelegenheiten.
Vielleicht ist das ja die sich annahende Pointe dieser noch offenen Geschichte: der Versuch, grundsätzlich und mit Fingerspitzengefühl wieder mehr Aggressivität zu wagen? So ganz richtig fühlt sich das allerdings auch noch nicht an.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Rekordhoch beim Kirchenasyl – ein FAQ
Der Staat, die Kirchen und das Asyl
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Preise fürs Parken in der Schweiz
Fettes Auto, fette Gebühr