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taz FUTURZWEI

Der Titelessay von Harald Welzer Idylle kaputt

Jetzt ist unsereins gezwungen, richtig zu finden, was falsch ist: die Aufrüstung Deutschlands und Europas und eine retropolitische Regierung. Was machen wir daraus?

Die intellektuelle Stimmung gleicht dem bekannten Mittelgebirge: Umweltkatastrophe im Harz Foto: unsplash/Jonas Gerlach

taz FUTURZWEI | Je weiter die feindliche Übernahme nicht nur der USA, sondern auch die des von ihr maßgeblich geprägten westlichen Gesellschaftsmodells durch das Racket um Donald Trump voranschreitet, desto klarer wird dem Bewohner der bisherigen Insel der Glückseligkeit, wie selig die gebotenen Umstände bislang tatsächlich waren.

Er denkt: Abgesehen von all dem, worüber man sich professionell erregte und wogegen man mit beschränkten Mitteln und keinerlei Haftung anzuarbeiten versuchte – es war doch sehr schön in der gerade vergehenden Ära des Kapitalismus, vor allem wenn man das Glück hatte, in der richtigen Generation im richtigen Land geboren worden zu sein.

Die neue taz FUTURZWEI

taz FUTURZWEI, das Magazin für Zukunft – Ausgabe N°33: Wer bin ich?

Der Epochenbruch ist nicht mehr auszublenden. Mit ihm stehen die Aufrüstung Deutschlands und Europas im Raum, Kriege, Wohlstandverluste, ausbleibender Klimaschutz. Muss ich jetzt für Dinge sein, gegen die ich immer war?

Mit Aladin El-Mafaalani, Maja Göpel, Wolf Lotter, Natalya Nepomnyashcha, Jette Nietzard, Richard David Precht, Inna Skliarska, Peter Unfried, Daniel-Pascal Zorn und Harald Welzer.

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Die sozialstaatlich und demokratisch gepolsterte kapitalistische Idylle, wie sie in Deutschland etwa die Ära Merkel verkörperte, bot ja doch für die meisten Mitglieder der Gesellschaft erhebliche Lebenssicherheit und viel Grund zum Einverstandensein, und dass sich Gruppen mit mehr als berechtigter Kritik wie Fridays for Future und mehr als unberechtigtem Ressentiment wie rechtsextrem wählende Ostdeutsche sicht- und hörbar machen konnten, war nur einer von unendlich vielen Belegen dafür, dass man sich im Rahmen eines zivilisatorischen Modells komfortabel einrichten konnte, das Platz auch für Kritik oder Nörgelei bot.

Die Schläge, die dieses Modell durch die antimodernen Bestrebungen im Gefolge der sogenannten Flüchtlingskrise 2015/16 einstecken musste, sodann durch die Pandemie, sodann durch den Krieg gegen die Ukraine und die beginnende Renaissance des Imperialismus und die damit sich schnell verbreitende infektiöse Dummheit – all diese Schläge konnte es noch einstecken.

Schläge gegen das schöne Idyll

Wie der Korridor des Politischen unter diesen Schlägen aber sukzessive immer enger wurde, konnte man an den Talkshows mit dem immer gleichen Personal genauso ablesen wie am Selbstgespräch des politischen Journalismus und natürlich am Scheitern einer Regierung, die erstmals hauptsächlich an sich selbst zugrunde ging.

Und zwar ausgerechnet in dem Moment, wo in den USA eine Clique die Präsidentschaftswahl gewinnen konnte, die ihr antidemokratisches und antimodernes Programm zuvor in einem Drehbuch niedergelegt hatte, das auf der europäischen Seite offenbar niemand zu lesen für nötig gehalten hatte.

Bild: Jens Steingaesser
Harald Welzer

Harald Welzer, Jahrgang 1958, ist Sozialpsychologe und Mitherausgeber des Magazins für Zukunft und Politik taz FUTURZWEI.

Und falls irgendeine Referentin aus irgendetwas daraus ein Briefing für die Damen und Herren Verantwortungsträger angefertigt hatte, zogen die zu beschließen vor, dass es so schlimm ja doch wohl nicht kommen könnte. Die Idylle war nämlich zu attraktiv, als dass jemand sie ohne Not hätte verlassen mögen.

Die Kacke ist am dampfen

Nach dem Amtsantritt von Donald Trump ging es dann in Politik und Medien, bei aller Transparenz dessen, was in den USA geschah und geschieht, weiter mit Selbstbeschwichtigung – gemixt aus selbstgefälliger Bräsigkeit, Wunschdenken und mangelnder historischer Bildung.

„Nun ist, um es politiktheoretisch auf angemessenem Niveau zu formulieren, die Kacke am Dampfen.“

Und dieser Mix transformierte sich alsbald in eine Sinfonie sich steigernder Schockerlebnisse, gefolgt von der intellektuell wirklich überwältigenden Erkenntnis, dass Trump und seine Prätorianer das alles tatsächlich durchzogen, was sie angekündigt hatten.

Die eigentlich schlichte Tatsache, dass hier Männern, die an absolut nichts anderem interessiert sind als an Geld und Macht, der reichste, militärisch, digital und wirtschaftlich stärkste Staat der Welt in die Hände gefallen war, hatten sie ja vorsichtshalber übersehen, weshalb Trumps Strategie, alle in einen Modus des Reaktiven zu zwingen, wunderbarer aufging, als der wahrscheinlich selbst vermutet hatte.

Nun ist, um es politiktheoretisch auf angemessenem Niveau zu formulieren, die Kacke am Dampfen.

Ein richtiges Leben im falschen?

Und deshalb ist unsereins gezwungen, plötzlich richtig zu finden, was falsch ist: Die Aufrüstung Deutschlands und Europas – eine zwingende Notwendigkeit gegen die Übermacht der Autokraten. Aber zugleich eine ökologische Katastrophe angesichts all des Aufwands an Material und Energie, den man benötigt, um fossile Kriegswaffen im ganz großen Stil zu bauen.

Abgesehen davon, ob es überhaupt funktioniert und zeitgerecht an den Start kommt, bringt uns das Aufrüstungsinferno weit weg von einer künftigen Friedensordnung, und zuvor schon zu einer Abkehr davon, eine solche Ordnung überhaupt für ein politisches Ziel zu halten. Ich muss aber trotzdem dafür sein, weil anders, so scheint es, die verbliebenen Demokratien nicht zu retten sind.

Ich muss es auch gut finden, dass Deutschland eine Regierungskoalition hat, die in jeglicher Hinsicht retropolitisch ausgerichtet ist und keinerlei Modernisierung Deutschlands zustande kriegen wird – denn sie hat sie ja nicht einmal vor.

Denn im Sinne Europas, siehe oben, brauchte Deutschland schnell eine handlungsfähige Regierung, die gemeinsames europäisches Handeln in Sachen Verteidigungs-, Außen- und Wirtschaftspolitik vorantreibt. Ob sie schnell und einig genug werden in Europa, steht aller Erfahrung nach sehr infrage, macht aber nichts, ich muss dafür sein.

Die Abschaffung der Idylle

Dass all diese Notwendigkeiten die Abwendung von einer zukunftsfähigen Politik implizieren, zerstört nun die Idylle, in der ich mich als kritischer Kritiker eingerichtet hatte, in beständiger Unruhe darüber, dass das Notwendige in Sachen Klima und Ökologie viel zu langsam geschähe, in wachsender Irritation, dass die perfiden Geschäftsmodelle der digitalen Plattformen die Leute widerstandslos abhängig machten und an die Displays fesselten, und im Entsetzen über die Indolenz der Politik nicht nur gegenüber der AfD, sondern über deren freundlicher Übernahme zunehmend menschenfeindlicher Inhalte.

Aber: Die Idylle blieb ja doch idyllisch, solange der Rahmen einigermaßen intakt war, in dem man seinen Beunruhigungen und Besorgnissen auf hohem Niveau frönen konnte.

Alles dahin. Und dazu ist alles andere als sicher, dass die politische Klasse hierzulande eine Brandmauer gegen die antimodernen Verlockungen aufrichten mag, die aus den USA, aus Argentinien oder auch aus Ungarn und Italien winken.

Oder ob es nicht Bestrebungen auch in Deutschland gibt, die den Staatsstreich in den USA mit Sympathie betrachten, von „Kleiner Anfrage der CDU“ bis zu „Deep-State“-Geraune bei der Welt und zum Crashen von Kulturetats in der Hauptstadt, um der linksgrünversifften Szene mal endlich das Wasser abzugraben.

Erneute Aufbauarbeit

Es ist also kompliziert. Und an der eigenen Zerrissenheit dokumentiert sich die Implosion der Idylle, die übrigens sehr viele NGOs und Stiftungen weiter konservieren möchten, indem sie mit trotzigen Parolen wie „Jetzt erst recht“ oder „Kurs halten“ sich der Erkenntnis so lange wie möglich verweigern, dass sich die Ausgangslage für politisches Handeln massiv verändert hat.

„Die historische Dynamik, liebe Freundinnen und Freunde der guten Seite der Macht, die liegt jetzt auf der Seite der Feinde der offenen Gesellschaft, nicht auf unserer.“

Meine persönliche Lösung: Nachdem sich alle „großen“ Ansätze der Mehrheitsgewinnung für eine sozialökologische Transformation und all die Millionenbeträge für „Demokratie leben“ und „Demokratie propagieren“ als nicht tauglich erwiesen haben, die antimoderne Kulturrevolution aufzuhalten, geschweige denn zu verhindern, macht es immerhin Sinn, unten anzufangen und mit jungen Menschen Praxisprojekte auszubaldowern, in denen man intervenierend lernt, wie man Handlungsspielräume nutzen kann, die es nur in Demokratien gibt.

Und zugleich jene Selbstwirksamkeit erfährt, die man braucht, um gegen das Falsche anzugehen. Und alle, die jetzt mitzuteilen haben, dass das ja nicht die Welt rettet und viel zu klein ist, um die große Katastrophe abzuwenden, mögen bitte zur Kenntnis nehmen, dass alles scheinbar Größere offenbar dazu auch nicht nützlich war.

Die historische Dynamik, liebe Freundinnen und Freunde der guten Seite der Macht, die liegt jetzt auf der Seite der Feinde der offenen Gesellschaft, nicht auf unserer. Denkt nach, was das heißt.

Wenn die Idylle kaputt ist, muss man es sich selbst wenigstens so unbequem machen, dass man die gewohnten Überzeugungen und Strategien ad acta legt, die eigene Ratlosigkeit zur Kenntnis nimmt und die Brüche und Widersprüche als produktive Gelegenheiten versteht, jetzt mal anders zu denken und zu handeln als bislang. Wie genau, und wie viel Falsches man temporär richtig finden muss, das gilt es jetzt herauszufinden.

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