Der Tatsachenkopf

Rosa von Praunheim hat versucht, mit seinem Film „Der Einstein des Sex“ den Sexologen Magnus Hirschfeld zu würdigen. Tatsächlich genießt der Mann, dessen politisches Engagement den Nationalsozialisten so verhasst war, noch immer nur den Ruf eines Sonderlings

von JAN FEDDERSEN

Man weiß nicht wirklich viel über Magnus Hirschfeld. Es gibt, dankenswerterweise vom Verlag Rosa Winkel 1986 wieder aufgelegt, ein Buch mit dem Titel „Von einst und jetzt“, Anfang der Zwanzigerjahre verfasst, damals in Wochenrhythmus in der Schwulenzeitschrift Die Freundschaft abgedruckt. Politische Memoiren, dreizehn Jahre vor seinem Tod veröffentlicht.

Doch nur spurenweise sind Anekdoten über ihn selbst überliefert, Geschichten darüber, wie er denn als Person war. Magnus Hirschfeld, ein jüdischer Deutscher. Aufgewachsen in Pommern. Ein eher liberal gesinntes Elternhaus. Medizinstudium. Später avancierte er zum Vater der ersten modernen Homosexuellenbewegung. Es hat andere Männer vor ihm gegeben, die für die Emanzipation dessen, was wir heute unter Homosexualität verstehen, eingetreten sind, wenn auch meist im Verschwiegenen. Aber erst der Mitbegründer des „Wissenschaftlich-humanitären Komitees“ (WhK) hatte die Kraft, die Einsicht des Mediziners mit dem Mut des Demokraten zu verbinden.

Magnus Hirschfeld, und das zeichnet Rosa von Praunheims gerade anlaufender Film nur auf grotesk-unkenntlich machende Weise nach, war ein Rechercheur, und zwar einer aus Not. Selbst schwul (obwohl er diesen diffamierenden Begriff als positive Selbststigmatisierung nie akzeptierte), wusste er früh, dass es Menschen gibt, die anders sind als das Bild, das die Gesellschaft von sich behauptete: Normal sei nur, wer als Mann eine Frau und als Frau einen Mann begehrt – erst dann sei ein Mensch gesellschaftsfähig. Der so genannte Vater der ersten deutschen Schwulenbewegung (Lesben gab es im WhK fast nur alibiweise) war der Promotor eines Instituts für Sexualforschung in Berlin.

Kurt Hiller, Mitarbeiter des WhK und noch in den Fünfzigerjahren der Adenauer-Ära einer der wenigen, die versuchten, an die aufklärerische Tradition der Weimarer Republik anzuknüpfen, schrieb in einem Nachruf auf Magnus Hirschfeld im Jahre 1935: „Er war in Forschung und Denkung, was seine Generationsgenossen in Kunst und Dichtung nicht durchweg mehr waren: Realist, Tatsachenkopf, Mann der direkten Methode, Deskriptor, Empiriker. Seine Stärke lag nicht dort, wo etwa Sigmund Freuds Stärke liegt: in der Deutung von Tatsachen (der magischen Werfung des Strahls unter den Wasserspiegel): Sie lag in der Aufzeigung von Tatsachen. Man hat ihn zum Kompilator verkleinern wollen: unrichtig, er entdeckte sich alles selbst. Aber Tiefenforscher der Seele war er freilich nicht: Kein Seher – ein Aufklärer war er: ein Aufheller des Spiegels der Erscheinungen: ein unermüdlicher und erfolgreicher Sammler, Beschreiber und Ordner von Tatsachen, auf die bis dahin der Blick gemeinhin nicht fiel noch fallen mochte.“

Ende des 19. Jahrhunderts kam es einem gesellschaftlichen Tod gleich, sich zu anderen als heterosexuellen Neigungen zu bekennen. Hirschfeld suchte den Kontakt mit Männern (meistens) und Frauen, die „Anders als die anderen“ waren (so auch der Titel eines Aufklärungsfilms aus den Zwanzigerjahren, in dem Hirschfeld zu sehen ist, wie er gegen den Paragrafen 175 vehement plädiert). Er entdeckte in der Tat das ganze Kaleidoskop an menschlichen Begierden und Lüsten, die in ein heterosexuelles Schema nicht passten. Er entdeckte Männer, die gerne Frauenkleider trugen, und Frauen, die sich als Mann empfanden. Transvestiten, Transsexuelle, Tunten, Kesse Väter, Superkerle und Wahnsinnsweiber: Hirschfeld fand unter seinen Klienten und Ratsuchenden jede menschliche Spielart, die die traditionelle Psychiatrie bis heute als Perversion und damit illegitim versteht – und deren ProtagonistInnen, salopp formuliert, heute zu einer Homoparade gehören wie das Salz in die Suppe.

Hirschfeld war im Grunde der erste Soziologe des Sexuellen. Seine Mitarbeiter und er blieben strikt einer medizinischen Tradition verhaftet. Sie vermaßen und begutachteten männliche und weibliche Körper, loteten an ihnen aus, was auffällig sein könnte im Gegensatz zu einer angenommenen Normalität. Die Dimensionen des Psychischen, des Seelischen vernachlässigten sie: Sigmund Freud (und seine junge Disziplin der Psychoanalyse) war ihnen suspekt. Jeder Diskurs über das Seelische – und dessen amorphe Seiten – war ja verdächtig und hätte den (wie auch immer geheuchelten) Konsens über die rechte Geschlechtswahl nur unterhöhlt. Hirschfeld war nicht der Erfinder, aber der Populator der Kategorie „zwischengeschlechtliche Stufe“. Er behauptete, dass Schwule und Lesben (und all die anderen, die in kein heterosexuelles Schema passten), von Natur aus so seien, wie sie sind. Weshalb sie auch nicht strafrechtlich verfolgt werden dürften, denn kein Mensch könne für etwas belangt werden, was ihm die Natur mitgegeben hat. Immerhin hat es das WhK durch seine guten Kontakte zu den linken und liberalen Parteien bis kurz vor der Machtübernahme der Nazis geschafft, den Rechtsausschuss des Reichstages davon zu überzeugen, den Paragraphen 175 abzuschaffen.

Hirschfeld und sein ehern (wissenschaftlicher Mainstream jener Jahre) biologischer Ansatz scheiterten an der Sache selbst. Homo- und heterosexuelle Männer und Frauen unterschieden sich körperlich in nichts. Was Schwule und Lesben besonders machte, war ihre Diskriminierung – und dies wiederum fand Niederschlag in ihren Seelen. (Hirschfeld heute zum Vorwurf zu machen, er habe immer dafür plädiert, aus Homos anständige Heterosexuelle zu machen, wenn es denn ginge, ist absurd: Es zeugt nur von Unkenntnis über die Lebensbedingungen von nichtheterosexuellen Lebensweisen.)

Moderne Sexualwissenschaftler wie Martin Dannecker, Soziologe der ersten seriösen Nachkriegsempirie zum Thema Homosexualität („Der gewöhnliche Homosexuelle“, 1971), missverstanden Hirschfelds Biologismus als den Nazis Vorschub leistend. Das Argument, Homosexuelle seien von Natur aus so, wie sie sind, habe den völkischen Kadern eine Legitimation zur Vernichtung der Homosexuellen gegeben: Wenn die Natur so spielt, dann lässt sich diese Natur eingrenzen und tilgen. Hirschfeld, der schon aus politischen Gründen die freudianischen Befunde (etwa: Jeder Mensch ist bisexuell, die Grundangst aller Spießer) anzueignen sich scheuen musste, war doch nichts und niemandem ferner als der braunen Volksbewegung. Er hat, müßig zu betonen, immer gegen Zwang und Repression argumentiert: Die Idee eines gesunden Volkskörpers, der von seinen ungesunden Teilen zu befreien sei, war ihm fremd.

Die Nationalsozialisten vernichteten kurz nach ihrer Machtübernahme das Institut für Sozialforschung, die dort befindlichen Archive und Unterlagen. Letztlich war ihnen egal, ob schwule Männer homosexuell zur Welt kommen oder nicht. Von Mitte der Dreißigerjahre wurden Schwule als Staatsfeinde verfolgt, weil sie schwul waren, aus welchen Gründen auch immer. Und sie wurden verfolgt, darauf hat in jüngster Zeit der Hamburger Soziologe Peter von Rönn hingewiesen, weil nur so das Ideal eines deutschen Mannes exemplifiziert werden konnte: hart, zäh, flink.

Das Niveau der aufklärerischen, nichtnormativen Traditionen hat die deutsche Sexualwissenschaft erst Anfang der Neunzigerjahre wieder erreicht (etwa Michael Bochow), wenn überhaupt. In der jungen Bundesrepublik gaben vor allem zwei Mediziner den Ton im sexualwissenschaftlichen Diskurs an, Hans Bürger-Prinz und Hans Giese, beide tätig am Hamburger Institut für Sexualforschung. Sowohl Bürger-Prinz als auch Giese erhielten ihre antiliberale und im Übrigen an einem Blut-und-Boden-Bild orientierte Ausbildung während der Nazizeit. Durch ihr Wirken wurde der Paragraf 175 in seiner verschärften NS-Fassung in den Fünfzigerjahren beibehalten. Und es hat auch mit ihnen zu tun, dass ein Homosexueller wie Magnus Hirschfeld als Sonderling abgetan wurde: Nur so konnten dessen Feldforschungen auf das Niveau von schillernden Niedlichkeiten heruntergeredet werden.

Hirschfelds Ansatz, die Menschen in ihren Befindlichkeiten zu nehmen, wie sie sind, fand ihre kongeniale Fortsetzung in den USA. Alfred Kinsey hieß der Biologe (!), der in zwei umfassenden Untersuchungen kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs Befunde vorlegte, nach denen wesentlich mehr heterosexuelle Männer und Frauen homosexuelle Erfahrungen gemacht haben, als dies die veröffentlichte Meinung behauptete. Auch waren seine Zahlen der Beweis, dass es keine natürlichen Grenzen zwischen den sexuellen Orientierungen gibt, bestenfalls seelische oder solche der Tradition. Mehr noch: Kinsey und Mitarbeiter waren es, die soziologisch wasserdicht zu erhellen wussten, dass zwischen Himmel und Erde noch ganz andere sexuelle Gelüste gedeihen als jene, vor denen der deutsche Michel immer Angst hatte. Rosa von Praunheims Film „Der Einstein des Sex“ feiert Hirschfeld als tapferen Homobeauftragten der Pränazizeit. Von dessen mühsam erforschten sexuellen Universen ist in diesem Zusammenhang ungerechterweise nichts zu erfahren.

JAN FEDDERSEN, 42, ist Redakteur im taz.mag