: Der Stempel des Kaisers fehlt
von LUKAS WALLRAFF
Aného in Togo, 1908: In dem deutschen Schutzgebiet an der Küste Westafrikas arbeitet der junge Straubinger Arzt Dr. Fritz Liebl in einer Tropenklinik. Der 28-jährige Bayer kommt bestens mit Land und Leuten zurecht. Schon im ersten Jahr seines Aufenthalts heiratet er die Einheimische Kokoé Edith Ajavon. Die Braut ist Häuptlingstochter, daher nimmt der Stammesfürst von Aného die Trauung vor. 1910 bekommt das junge Paar einen Sohn, Johann. Ein Jahr später kehrt Liebl nach Deutschland zurück. Seine Frau und das Kind bleiben in Togo.
Pirmasens, Bundesrepublik Deutschland, 2001: In der pfälzischen Kleinstadt lebt ein 38-jähriger Familienvater aus Togo. Seine zahlreichen Asyl- und Einbürgerungsanträge wurden zurückgewiesen. Während er über seine Angst vor der drohenden Abschiebung spricht, versucht seine Frau den kleinen Sohn Gergi-Gerry zu beruhigen. Im Wohnzimmer der Familie hängen ein paar alte, gerahmte Fotos. Sie zeigen Gergi-Gerrys Urgroßeltern: Fritz und Kokoé Edith Liebl.
Wie sein Großvater trat Gerson Liebl im Alter von 28 Jahren eine weite Reise an – wenn auch in umgekehrter Richtung. Bis 1991 führte er eine Goldschmiedewerkstatt in Togo, hatte aber „Schwierigkeiten mit der Regierung“. Damals glaubt er noch, was ihm Freunde erzählten: „Wer von Deutschen abstammt, kann Deutscher werden.“ Also macht sich Gerson Liebl auf ins Land seiner Vorfahren. Doch statt bei den Verwandten in Bayern landet er im Asylverfahren in Rheinland-Pfalz.
Odyssee durch die Bürokratie
Die deutschen Behörden stufen den Neuankömmling, der kaum Deutsch spricht, als Flüchtling ein und schicken ihn nach Pirmasens. Was er seitdem erlebt hat, ist eine Odyssee durch den Paragraphendschungel. Der Asylantrag wird erst anerkannt, dann wieder zurückgewiesen, später neu bearbeitet und schließlich endgültig abgelehnt. Doch Gerson Liebl geht es nicht um politisches Asyl. Schon kurz nach seiner Ankunft beantragt er – unter Hinweis auf seinen Großvater – einen deutschen Pass.
Unzählige Richter, Sachverständige und Regierungsbeamte haben sich inzwischen mit dem Fall Liebl beschäftigt. Das Ergebnis ist für den Betroffenen eine „echte Katastrophe“: Nach zehnjährigem Kampf droht die Abschiebung – obwohl die Behörden nicht bezweifeln, dass Gerson Liebl der Enkel des deutschen Regierungsarztes ist. Dafür lieferte er mehr Belege als nur seinen Namen.
Am wichtigsten ist den deutschen Beamten eine offizielle Bestätigung der Hochzeit seiner Großeltern. Weil das Paar Fritz und Kokoé Edith Liebl Aufsehen erregte, fällt es nicht schwer, auch neun Jahrzehnte später amtlich beglaubigte Bestätigungen zu bekommen. So versichert Stammesfürst Nana Ohiniko Quam Dessous XIV, dass Fritz Liebl „eine Ehe nach Stammesbrauch mit Kokoé Edith Ajavon im Jahre 1908 geschlossen hat“. Als es die deutschen Beamten noch genauer wissen wollen, stellt er eine weitere Bescheinigung aus: „Besagte Ehe wurde öffentlich geschlossen vom damaligen Stammesfürsten, der das Amt des Standesbeamten ausübte.“ 1998 schließlich schickt der Justizminister Togos ein Dokument nach Deutschland, demzufolge die Ehe gültig ist.
Doch für die deutschen Behörden zählen weder Stammesbräuche noch offizielle Bescheinigungen. Solange Liebl keinen kaiserlichen Stempel auftreiben kann, hat er kein Recht auf den deutschen Pass. Für die rheinland-pfälzischen Gerichte ist sein Vater Johann nur ein „nichtehelicher Abkömmling“. Fritz Liebl hätte „vor einem zur Eheschließung ermächtigten Beamten“ des Deutschen Reiches heiraten müssen. Außer Acht lassen die Richter die Frage, ob eine solche Eheschließung überhaupt möglich war. Nach Erkenntnissen von Experten ist es unwahrscheinlich, dass es 1908 in Togo deutsche Standesbeamte gab. Sicher ist, dass die deutsche Kolonialmacht Mischehen verhindern wollte.
Während Gerson von einer Instanz zur anderen rennt, erfährt er, dass sein Bruder mehr Glück hatte. Der 40-jährige Rudolph ist mit den gleichen Dokumenten bei der deutschen Botschaft in Togos Hauptstadt Lomé vorstellig geworden. 1996 schickt ihm das Bundesverwaltungsamt einen Staatsangehörigkeitsausweis. Nun geraten die deutschen Beamten ins Schwitzen. Das Prinzip der Gleichbehandlung ist in Gefahr. Dem älteren Bruder wird der Ausweis wieder abgenommen. Ein rechtswidriges Vorgehen, doch Rudolph versäumt die Widerspruchsfrist.
Im Frühjahr 1999 glaubt Gerson Liebl einen neuen Trumpf in der Hand zu haben: ein Gutachten des Saarbrücker Juraprofessors Filippo Ranieri. Die Behörden nehmen nun zwar zur Kenntnis, dass „eine wirksame Eheschließung zwischen einem Reichsangehörigen und einer ‚Eingeborenen‘ gar nicht möglich war“. Doch das ist inzwischen irrelevant.
Im vorerst letzten Bescheid vom November 2000 wird Liebl die Einbürgerung aus ganz anderen Gründen verweigert: Er kann keinen „unbescholtenen Lebenswandel“ vorweisen, da er in seinen zehn Jahren in Deutschland dreimal verurteilt wurde. Einmal wegen Betrugs – als er kurzzeitig arbeiten durfte, meldete er dies zwar dem Arbeitsamt, nicht aber den Sozialbehörden. Also bekam er unberechtigt Geld vom Staat. Liebl sagt dazu, dass er die entsprechenden Vorschriften nicht kannte. 1993 erhielt er eine Geldstrafe wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis. Liebl sagt: „Ich dachte, mein Führerschein aus Togo ist auch in Deutschland gültig.“ 1996 soll er drei Tuben Zahnpasta geklaut haben. Wieder bekam er eine Geldstrafe, obwohl der Ladendetektiv vor Gericht zugeben musste, Liebl nicht bei dem Diebstahl beobachtet zu haben.
Petition an den Landtag
Liebls Anwalt Konstantin Thun will die Straftaten seines Mandanten „nicht verniedlichen“. Doch sie stünden in keinem Verhältnis zu dem Unrecht, das ihm widerfahren ist. Liebl sei ein spätes Opfer der „rassistischen Politik“ in den Kolonien. „Jetzt gibt es nur noch eine Chance“, sagt Thun. Er reichte eine Petition beim rheinland-pfälzischen Landtag ein. Der Anwalt will, dass die Gesetze geändert werden: für eine „erleichterte Einbürgerung von Abkömmlingen aus Mischehen, die in der Kolonialzeit nicht anerkannt wurden“. Thun weiß, dass Liebl die Voraussetzungen dafür nicht erfüllt, bis seine Strafen nach zehn Jahren verjährt sind. Deshalb bittet er, wenigstens ein Aufenthaltsrecht zu gewähren.
Thun geht es nicht nur um seinen Mandanten. Er fordert dieAufarbeitung einer unrühmlichen Episode der deutschen Geschichte. Uneheliche Kinder deutscher Kolonialisten gab es nicht nur in Togo, doch das Deutsche Reich leugnete ihre Existenz systematisch. Und heute? „Im Zweifel ist er eben kein Deutscher“, sagt ein Behördenmitarbeiter, der nicht genannt werden möchte. „Die Behandlung der Kolonialistenkinder ist eine klare Benachteiligung gegenüber den Spätaussiedlern“, findet der Togolese Komi Gbekou, der selbst keine deutschen Vorfahren hat, aber durch den Fall Liebl auf die Problematik aufmerksam wurde.
Als Spätaussiedler gelten nach dem Vertriebenengesetz „deutsche Volkszugehörige aus den Aussiedlungsgebieten“ in Osteuropa. Sie haben Anspruch auf den deutschen Pass, wenn sie sich „zum deutschen Volkstum bekannt“ haben, „sofern dieses Bekenntnis durch bestimmte Merkmale wie Abstammung, Sprache, Erziehung, Kultur bestätigt wird“. Liebls Pech: Togo liegt nicht in den Aussiedlungsgebieten.
Für die ehemaligen deutschen Schutzgebiete in Afrika gibt es keine entsprechenden Regelungen. „Seit dem Zweiten Weltkrieg wurde die Kolonialzeit einfach totgeschwiegen“, findet Gbekou. Zusammen mit einigen Freiburger Freunden ist der 33-jährige Jurastudent gerade dabei, den Verein „SOS Colonial Discrimination“ zu gründen. „Es ist an der Zeit, dass wir genauer nachforschen.“ Gerson Liebl hat das getan. Mit großer Gründlichkeit hat er alle Dokumente archiviert. Die Paragraphen, die ihn betreffen, kennt er auswendig. Sogar die Namen der Sachbearbeiter hat er im Kopf. Doch der Nachweis deutscher Gründlichkeit reicht für einen deutschen Pass nicht aus.
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