Der Soziologe Negt über Gewerkschaften: "Der Symbolvorrat ist aufgezehrt"
Der Soziologe Oskar Negt sagt: Schwarz-Gelb kann für die Gewerkschaften auch eine Chance sein. Sie müssen in der fragmentierten Arbeitswelt ihre Fixierung auf die Betriebe überwinden. Nur wie?
taz: Herr Negt, hat Sie der klare Wahlsieg von Schwarz-Gelb überrascht?
Oskar Negt: Mich hat das Wahlergebnis nicht überrascht, es ist nicht untypisch.
Die Finanzkrise hat marktradikale Ideen widerlegt, dennoch wählen Menschen eine FDP, die ebendiese offensiv bewirbt. Kein Widerspruch?
Nein. In Krisensituationen wachsen die Angstpotenziale in der Bevölkerung. Die Menschen vertrauen eher den Starken oder den vermuteten Starken. Der Angstrohstoff in dieser Gesellschaft hat sich von Jahr zu Jahr vergrößert. Eine solche Entwicklung trägt nie zur Aufklärung bei. Aber ich bin dennoch nicht unglücklich über dieses Resultat.
Warum nicht?
Wir erleben eine Zeit der Polarisierung. Die Union wird zusammen mit der FDP manche Errungenschaft der Sozialen Marktwirtschaft einfach abräumen. Dies macht die Öffentlichkeit vielleicht aufmerksamer auf liegengebliebene Probleme. Etwa die Frage, wie es mit einer Arbeitsgesellschaft weitergehen soll, in der Rationalisierung das Grundprinzip ist. Und Rationalisierung bedeutet, auf lebendige Arbeitskraft zu verzichten oder sie so zu fragmentieren, dass Menschen neben ihrer Arbeit noch Staatshilfe brauchen. Solch entscheidende Probleme werden nicht angesprochen.
Ist Schwarz-Gelb so gesehen auch eine Chance für die Gewerkschaften?
Die Gewerkschaften stehen seit einem Jahrzehnt mit dem Rücken zur Wand. Sie verteidigen Prinzipien der Tarifpolitik, die längst nicht mehr greifen. Ihre großen Erfolge für den Sozialstaat beruhen auf Verhandlungsmechanik, man verlangt zehn Prozent und bekommt fünf. Das funktioniert in einer fragmentierten Arbeitswelt nicht mehr.
Wie müssen sich Gewerkschaften weiterentwickeln?
Sie müssen sich kulturell betätigen, anstatt sich auf Tarifverhandlungen und 1.-Mai-Kundgebungen zu konzentrieren. Die Gewerkschaften brauchen eine Doppelstrategie: Einerseits müssen sie in Betrieben stark bleiben und stärker werden. Andererseits aber müssen sie - als wahre Interessenvertretungen der Menschen - ihr Mandat erweitern. Das heißt, die Lebenswelt der Menschen aufnehmen, andere Gesellschaftsmodelle entwickeln, Utopien zulassen.
Das ist leicht gesagt. In vielen Branchen ist der Organisationsgrad so gering, dass die Gewerkschaften die Beschäftigten nicht einmal mehr ansprechen können.
Das stimmt. Traditionelle Großbetriebe, in denen Gewerkschaften organisationsstark waren, sind selten geworden, sie haben sich diversifiziert. Und viele Menschen sind über Betriebe überhaupt nicht mehr erreichbar. Wie erreicht man Arbeitslose? Prekär beschäftigte Menschen? Oder Kreative, die ihre Produktionsmittel, Laptop und Blackberry, im ICE auspacken? Gewerkschaften müssen Menschen also über andere Ebenen erreichen. Beschäftigte haben Familien, Kinder und politische Bildungsinteressen, Themen, die Gewerkschaften oft noch als Spezialgebiete behandeln.
Wie kann diese Ansprache gelingen?
Der Deutsche Gewerkschaftsbund unterhielt in den 1980ern noch Ortskartelle, Büros in Stadtteilen, in denen politische Bildung oder Rechtsberatung angeboten wurde. Also eine regionale und städtisch auf Probleme der Menschen bezogene Strategie. Heute sind Gewerkschaften mit ihren Kooperationsangeboten kaum mehr im öffentlichen Raum präsent. Und ihr Symbolvorrat ist aufgezehrt, auch selbst verschuldet.
Sie meinen die immergleichen Streikfotos, IG Metaller mit Trillerpfeife?
Zum Beispiel. Junge Menschen fragen sich, wenn sie solche Symbole sehen: Was ist das?
Gerade die IG Metall versucht sich unter ihrem Vorsitzenden Berthold Huber als Wertegemeinschaft zu positionieren, die gute Arbeit und ein gutes Leben fordert.
Das halte ich für einen richtigen Ansatz. Gewerkschaften müssen ihre betriebliche Fixierung überwinden, also ein zweites Standbein aufbauen. Allerdings ist diese strategische Ausrichtung in der IG Metall nicht unangefochten. Viele der Regionalfürsten und wichtigen Betriebsräte glauben nach wie vor an das Komanagement in den Betrieben als einzige Form der Verhandlungsmacht.
Für viele Betriebsräte sind Gesellschaftsutopien eben nicht handfest genug.
Die Gewerkschaften haben ein ähnliches psychologisches Problem wie die Gesellschaft. Die interne Diskussion wird sehr aggressiv geführt, die Funktionäre sind zerrissen. Viele kleben an den Erfolgen der Nachkriegszeit, plädieren für ein "Weiter so" und werden in großer Not konservativ. Bei Diskussionen schildern mir Funktionäre einen Alltag, in dem sie gerade so bestehen können - abends haben sie einfach keine Energie mehr für politische Diskussionen. Dies ist ein sozialpsychologisches Phänomen. Wenn man sich in einer als unerträglich erachteten Situation befindet, verzehrt allein das Aushalten darin die Hälfte der Tagesenergie.
Sind psychologische Deutungen Gewerkschaftern nicht noch fremder als Utopien?
In der Tat ist innerhalb der Organisationen der antipsychologische Affekt stark. Wer von Psychologie redet, greift in weiche Materie. Arbeitsplätze und Kapital hingegen sind harte Materie, sie liegt vielen Funktionären näher. Doch das Beharren darauf wäre eine gefährliche Täuschung - die weichen Themen sind heute wichtiger als die vermeintlich harten.
Unter Schwarz-Gelb dürften die Verteidigungskämpfe für Gewerkschaften härter werden. Schlechte Zeiten für eine Neubesinnung?
Nicht unbedingt. Neue, werteorientierte Diskurse können in den Gewerkschaften erstarrte Energien lösen, identitätsstabilisierend wirken und ein neues Selbstwertgefühl etablieren. Utopien können also ein Befreiungsakt sein. Auf der Ebene tarifpolitischer Kämpfe ist die Wirksamkeit von Gewerkschaftspolitik begrenzt. Dieser Kampf auf kleinem Gelände, der zudem auch noch ständig verloren wird, führt zu depressiven Strukturen. Und Depressionen sind gefährlich, ja existenzgefährdend für Organisationen. Ohne utopischen Schub werden sie reduziert auf einfache, auf mit Unternehmenverbänden konkurrierende Interessenvertretungen. Und das wäre tödlich für die Gewerkschaften. Utopie ist ein Antidepressivum.
Arbeit wird sich weiter verknappen. Wo wir gerade bei Utopie sind: Müsste Ver.di jetzt nicht die 20-Stunden-Woche fordern?
Die 35-Stunden-Woche, die Gewerkschaften Anfang der 80er erkämpft haben, sollte ein Schritt in genau diese Richtung sein. Als ich das damals mit dem Sozialphilosophen Nell-Breuning diskutierte, sagte er: Junger Freund, sie kämpfen für 35 Stunden. Dabei wären 10 Stunden völlig ausreichend, wenn die Menschen vernünftig mit ihren Ressourcen umgingen. Arbeitszeitverkürzung ist ein zentraler Punkt der Umverteilung von Arbeitsplätzen, deshalb wird diese Debatte wieder kommen. Außerdem muss sich das öffentliche Bewusstsein stärker auf Gemeinwesenarbeit richten, Aufgaben also, die nicht über den Markt zu finanzieren sind - in der Ökologie, in der Bildung oder in der Erziehung.
Sie beschreiben in Ihren Schriften eine Dreiteilung der Gesellschaft - in integrierte Gewinner mit festem Arbeitsplatz, in prekär lebende Menschen und in die Abgehängten, die für die Warenproduktion überflüssig sind. Wie wird sich das in den nächsten Jahren verschieben?
Die Zahl der prekär Beschäftigten, die für niedrige Löhne oder zeitlich befristet arbeiten, wird zunehmen, davon bin ich überzeugt. Es müssen sich grundsätzlich Blickrichtungen verändern, etwa der Blick auf Wachstum.
Der wird parteiübergreifend als Voraussetzung für neue Jobs begriffen. Falsch?
Natürlich kann man nicht gegen Wachstum sein, aber gleichzeitig muss man doch feststellen: Wachstum ist nicht geeignet, Arbeitsplätze zu schaffen. Helmut Schmidts Formel, die Gewinne von heute sind die Investitionen von morgen und die Arbeitsplätze von übermorgen, hat sich umgekehrt. Heute gilt: Die Gewinne von heute sind die Arbeitslosen von morgen.
Vorstände berufen sich auf die Bedürfnisse des Markts, wenn sie diese Logik vertreten.
Der Markt ist nicht imstande, eine würdige und sinnvolle Gesellschaft zu organisieren. Marktmechanismen sind auf Ausgrenzung, auf Vernichtung des anderen ausgerichtet, und nicht auf Kooperation. Der ursprüngliche Gewerkschaftsgedanke war der einer solidarischen Kooperation, im Sinne einer Hilfe für diejenigen, die sich nicht helfen können. Dieser Gedanke ist verloren gegangen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“