„Der Sandler“ von Markus Ostermair: Panorama des Lebens auf der Straße
Jede Figur hat ein Anrecht auf ihre Geschichte. Autor Markus Ostermair schreibt in seinem Roman über Obdachlose.
Es gibt keine offiziellen Zahlen, wie viele Menschen in Deutschland derzeit wohnungs- und obdachlos sind. Schätzungen aus dem Jahr 2017 zufolge sind 650.000 Personen ohne Wohnung, und besonders die Zahl der Obdachlosen schwankt stark. Es sollen zwischen 48.000 und 85.000 sein. Doch eines ist sicher: Die Zunahme sozialer Ungleichheit hat zur Folge, dass immer mehr Menschen auf der Straße leben.
Mit der Lebensform Obdachlosigkeit hat sich nun der Münchner Schriftsteller Markus Ostermair beschäftigt. Er legt seinen Debütroman „Der Sandler“ vor, der die Geschichte des Mathematiklehrers Karl Maurer erzählt.
Ostermairs Roman ist in zweierlei Hinsicht bemerkenswert: in politischer und poetischer. Das macht ein gutes Buch der engagierten Literatur aus. Oftmals wird die Obdachlosigkeit als Faszinosum geschildert, als maximaler Freiheitsentwurf, manchmal wird Vagabunden auch eine tiefe Naturverbundenheit zugeschrieben.
Das mag mitunter zutreffen, doch die Geschichte der Obdachlosigkeit ist seit Jahrhunderten vor allem eine von Armut, Repression und Erniedrigung. Von Bettelverboten im öffentlichen Raum, den zunehmend Ökonomisierungsprozesse dominieren, getrieben von der gesellschaftlichen Norm nach Verortung.
Markus Ostermair: „Der Sandler“. Osburg, Hamburg 2020, 371 Seiten, 20 Euro
Viele Bekannte und Feinde auf der Straße
In sechs Tagen und sechs Nächten schildert der Roman vielstimmig die soziale Realität der Betroffenen. Anfangs erfordert das zugegeben ein wenig Ausdauer. Doch daran misst sich das Buch: Jede Figur hat ein Anrecht auf ihre Geschichte, und dieser Raum wird ihr gegeben. Da ist Karl Maurer, der ehemalige Mathematiklehrer, der aus kleinen Verhältnissen stammt und den der Unfalltod eines Kindes aus der Bahn wirft. Auf der Straße hat er viele Bekannte, auch Feinde und einen Freund: Lenz.
Dann sind da noch der gerade aus dem Gefängnis entlassene Eisenkurt, der schon mit einem Bein auf der Straße steht, und Mechthild, die sich jeden Morgen den Kopf kahl rasiert. Ostermair trifft den Ton, reagiert mit einer einfühlsamen Sprache: Wenn es laut sein muss, ist die Sprache es hier, wenn es zart zugeht, ebenso.
Er beschreibt die sozialen und psychologischen Verhältnisse genau: Es geht um Misstrauen und Rechtlosigkeit. Und um Angst. Um unruhigen Schlaf, um Alkohol als Bewältigungsstrategie, betteln zu müssen, unsichtbar zu sein und die Langeweile auszuhalten.
Er beschreibt, wie Karl inmitten der Verheißung der Münchner Werbe- und Warenwelt lebt. Und dann ist da noch Lenz, der auf einer Zettelsammlung Utopien für ein Zusammenleben entwirft, für eine neue Gesellschaft ohne soziale Ungleichheit und Gewalt, der alles in einer Radikalität betrachtet, die zum Besseren führen soll.
Normverstoß durch Nicht-Sesshaft-Sein
Mechthild, der ein Beratungsgespräch aufgezwungen wird, dem sie sich immer wieder entzieht, denn am Ende des Systems, das viele überfordert, steht als „Belohnung“ die eigene Wohnung. Doch dazu sind viele nicht in der Lage, auch Mechthild nicht.
In dem Essay „Unbehaust“, der 2017 im mikrotext Verlag erschien, beschäftigt sich die Literaturwissenschaftlerin Elke Brüns mit dem Thema Obdachlosigkeit. Sie spannt den Bogen von der Romantik bis zum „Tatort“, von Dickens bis Foucault. Sie verfolgt Obdachlose als widersprüchliche Sozial-, Imaginations- und Reflexionsfiguren. Mit ihrem Nicht-Sesshaft-Sein verstoßen sie gegen die Norm.
Sie verweist auch auf Maxim Gorkis Drama „Nachtasyl“, das Anfang des letzten Jahrhunderts in Nischni Nowgorod spielt. Das holt Ostermair nach München: Karl, der sich an den belegten Broten in der Bahnhofsmission bedient, Eisenkurt, der um einen Schlafplatz kämpft, Mechthild, die durch die Parks zieht.
Der Roman entwirft ein breit gefächertes Panorama des Lebens auf der Straße, und Ostermair gibt seinen Figuren den Raum, den sie brauchen. An diesem Roman wird es lange Zeit kein Vorbeikommen geben, wenn von Obdachlosigkeit in Deutschland die Rede ist.
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