Der Kurs der SPD nach dem Parteitag: Jetzt erst recht
Sigmar Gabriel interpretiert das miese Wahlergebnis als Vorsitzender auf seine Weise. Was bedeutet die Klatsche für den Chef für die SPD?
Berlin taz | Sigmar Gabriel hat ein Gedächtnis wie ein Elefant. Und diese Klatsche wird er der SPD nie vergessen. Die Basis hat ihm mit dem Wahlergebnis von 74,3 Prozent ja nicht nur ein Misstrauensvotum verpasst. Sie demütigte einen Mann, der das Gefühl hat, sich für die SPD aufzureiben. Gabriel sei „geschockt“ gewesen, berichten Spitzengenossen. Was sind die wichtigsten Folgen des denkwürdigen SPD-Parteitages in Berlin?
Beschädigung
Natürlich hat Gabriel sofort verstanden, was das für ihn bedeutet: „In den Zeitungen wird stehen, Gabriel wurde abgestraft.“ Die Medien würden fragen: „Kann er eine Partei, die so unsicher ist, zum Wahlsieg führen?“ Das waren seine ersten Sätze nach der Klatsche. Er ist ab sofort der Drei-Viertel-Chef, ein geschwächter Vorsitzender.
In der Tat stellen sich nun viele Fragen. 74,3 Prozent, das ist das schlechteste Ergebnis, das je ein einzelner Bewerber für den SPD-Vorsitz bekam. Bisher hielt Ex-Kanzler Gerhard Schröder den Minus-Rekord - mit knapp 76 Prozent im Jahr 1999. Ändert Gabriel jetzt den Kurs der SPD-Spitze, geht er auf seine linken Kritiker zu? Kann er die Partei weiter führen? Darf er, mit so viel Misstrauen im Rücken, die Kanzlerkandidatur übernehmen?
Reaktion
Gabriels Reaktion ist typisch für ihn. Entschlossen, kampfeslustig und sehr undiplomatisch. Motto: Jetzt erst recht. Nun sei mit Dreiviertelmehrheit entschieden, wo es langgehe, sagte er kurz nach der Bekanntgabe des Ergebnisses. „Und so machen wir das auch.“ Eins muss man Gabriel lassen. Er bleibt sich auch in harten Niederlagen treu.
Wie wenig Lust er verspürt, sich linkem Druck aus der Partei zu beugen, zeigte er in der Debatte über Freihandel am Samstag. Spontan schaltete er sich nach engagierten Plädoyers von TTIP- und CETA-Kritikern in die Diskussion ein. Seine Intervention geriet zu einer Belehrung in Staatskunde. Der Parteitag tue so, als könne er die Verhandlungslinie Europas bestimmen, rief Gabriel. In der Außenpolitik gelte das Prinzip „pacta sunt servanda“, also: Geschlossene Verträge seien einzuhalten. „Wer regieren will, muss die Regeln des Regierens kennen.“ Das saß, aber beliebt macht sich Gabriel mit solchen Sätzen in der SPD nicht.
Kurs der SPD
Dass Gabriel den staatstragend-bürgerlichen Kurs der SPD ändert, ist unwahrscheinlich, wenn nicht ausgeschlossen. Während des Parteitages hat er den Delegierten nie verschwiegen, was mit ihm zu machen ist und was nicht. Gnadenlose Ehrlichkeit war offenbar der rote Faden, den er sich vorgenommen hatte.
Gabriel ist Wirtschaftsminister in einer Großen Koalition. Er findet Steuererhöhungen falsch, weil Wirtschaftswachstum mehr Staatseinnahmen bringt. Er hält den in drei Tagen hektisch beschlossenen Syrien-Einsatz der Bundeswehr für notwendig. Er ist zwar gegen Obergrenzen in der Flüchtlingspolitik, aber er möchte den Zuzug der Geflüchteten verlangsamen. In seiner Grundsatzrede wies er ausdrücklich auf diese Differenzen zu den SPD-Linken hin, für viele in der Messehalle waren das Provokationen.
Gabriel wird die SPD weiter in die viel beschworene bürgerliche Mitte, in die alle wollen - auch Merkels Union und die Grünen. Wobei Gabriel Mitte etwas anders definiert, als etwa CDU-Strategen. Er spricht gerne von der „sozialen“ oder „arbeitenden“ Mitte, weil das proletarischer klingt. Aber auch, weil das schlecht verdienende Krankenpfleger einschließt, die nicht zum CDU-Klientel gehören.
Ursachenforschung
Über die Gründe für die Abstrafung kursieren in der SPD viele Theorien. Viel spricht dafür, dass das Ganze eine Art Betriebsunfall war. „Da äußerte sich unkoordiniert die Unzufriedenheit verschiedener Leute“, sagt ein Mitglied der Parteispitze.
Die einen Delegierten haben Bauchschmerzen mit TTIP, die anderen finden den Syrien-Krieg falsch. Manche werfen Gabriel vor, dass er die Vorratsdatenspeicherung durchdrückte. Andere fanden sein Hin- und Her während der Griechenlandkrise fürchterlich, als er stets Solidarität in Europa betonte, aber mit markiger Rhetorik über die „Spieltheoretiker“ der Athener Regierung wetterte. Eine SPDlerin aus einem eher linken Landesverband berichtet, ein Fünftel ihrer Delegierten sei „mit der Faust in der Tasche“ zum Parteitag gefahren.
Gabriel und die Frauen
Sigmar Gabriel ist beides, Staatsmann und Raufbold. Seine Wortgefechte mit Journalisten sind legendär. Er bügelte 2013 Marietta Slomka ab, die Moderatorin des „heute-journal“, als sie ihn kritisch zum Mitgliederentscheid vor der Großen Koalition befragte. Im Oktober zoffte er sich mit der ZDF-Journalistin Bettina Schausten. Stets blieb derselbe Eindruck hängen. Schlecht gelaunter Mann arbeitet sich an professioneller Frau ab.
Auf dem Parteitag traf es Juso-Chefin Johanna Uekermann, die allerdings wenig professionell agiere. Uekermann hatte Gabriel zuvor per Interview eine „Vier minus“ in der Asylpolitik erteilt. Als sie ihm dann am Rednerpult vorwarf, nicht zu glauben, dass er wirklich umsetze, was er verspreche, platzte Gabriel der Kragen. In einer fulminanten Attacke machte er die Juso-Frau platt. Mit so einem Vorwurf, spiele sie denen in die Karten, die Politiker für Lügner halten. „Taktisch war das ungeschickt“, räumt ein Spitzengenosse ein. Viele Delegierte hielten den Goliath-gegen-David-Angriff für übertrieben. Er dürfte Gabriel ein paar Stimmen gekostet haben.
Ventil-Theorie
Ja, dann wäre da noch die unter Journalisten beliebte These, jeder SPD-Parteitag verschaffe seinem allgemeinen Ärger durch ein Ventil Luft. In der Vergangenheit mussten zum Beispiel Generalsekretäre schlechte Ergebnisse hinnehmen, obwohl der Chef gemeint war. Dieses Mal hat der Parteitag das größte Ventil geöffnet, das er finden konnte.
Interessant ist, dass die SPD-Delegierten Gabriel ansonsten bei allen Inhalten folgten. Der - kaum geänderte - Antrag zu Flüchtlings- und Integrationspolitik wurde mit großer Mehrheit angenommen. Auch TTIP taugte nicht zum Aufreger. Die Delegierten beschlossen am Samstag sang- und klanglos die minimal angepasste Vorstandslinie. Anderes war nach dem Dämpfer, den sie ihrem Chef verpasst hatten, aber auch nicht zu erwarten, weil es sonst auf eine komplette Demontage Gabriels hinausgelaufen wäre.
Kanzlerkandidatur
Wäre die SPD-Kanzlerkandidatur ein attraktiver Job, würden die Karten neu gemischt. Sigmar Gabriel hat ja bereits verraten, dass er die Kandidatur übernehmen würde, falls die Partei ihn wolle. In einem Wahlkampf wäre aber entscheidend, dass die SPD engagiert mitzieht, im Fachsprech: voll mobilisiert ist. Ob Gabriel das 2017 gelingen wird, kann man nach diesem Parteitag bezweifeln.
Das Problem ist aber, dass den Job außer Gabriel keiner machen will. Das ist zumindest der Stand heute. Angela Merkel ist trotz der Unions-internen Querelen in der Flüchtlingspolitik eine sehr starke Konkurrenz, die Deutschen lieben sie. Für die SPD gilt: Verlieren mit Ansage ist sehr uncool. Mögliche KonkurrentInnen wie Martin Schulz, Andrea Nahles oder Olaf Scholz dürften wenig Lust verspüren, sich in einem aussichtslosen Wahlkampf zu verbrennen. Sie warten eher auf die Post-Gabriel-Ära.
Aber nach Gabriels Parteitagsdesaster ist die Situation offener. Schien die Kandidatur bisher auf den Chef zuzulaufen, ist das jetzt kein Automatismus mehr.
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