Der Krieg aus Sicht von Jugendlichen: Lieber nicht drüber sprechen
Vor einem Jahr hatte eine Schule in Bremen der Opfer des Kriegs gedacht. Gewöhnt hat sich niemand daran, auch wenn es erst so aussieht. Ein Besuch
Er hatte Sorge, dass der Krieg auf dem Schulhof ausgetragen würde. Denn in der Vahr leben so viele Menschen mit russischem Migrationshintergrund wie in keinem anderen Stadtteil Bremens und überdurchschnittlich viele aus anderen ehemaligen Sowjetrepubliken – auch aus der Ukraine.
Nach der Gedenkstunde hatten wir in einer vom Politiklehrer improvisierten Gesprächsrunde zusammengesessen, vier Schüler, eine Schülerin und die Lehrerin Viktoriia Donchuk, die schon vor zehn Jahren aus dem von Russland besetzten Donbass nach Deutschland gekommen ist. Ernst hatten sie ausgesehen, die fünf jungen Menschen zwischen 16 und 19 Jahren. Viktoriia Donchuk hatte nicht mit uns am Tisch gesessen, sondern am Fenster gestanden, zwischen ihren Augenbrauen eine Furche.
Jetzt, kurz vor dem Jahrestag des Krieges, sitzen wir wieder zusammen, in anderer Zusammensetzung; in einem Klassenraum im Stuhlkreis und nicht wie damals im Foyer des Oberstufengebäudes. Ein paar Schüler:innen aus Jens Winters Politikkurs sitzen in zweiter Reihe um uns herum. Viktoriia Donchuk macht einen entspannten Eindruck, ihre Stirn ist glatt.
Große Angst um den Vater
Alex, 18 Jahre alt, hat vor einem Jahr mit hängenden Schultern zwischen seinen Mitschüler:innen gesessen und kaum aufgeschaut. Er, der wie alle Schüler:innen in diesem Text anders heißt, ist immer noch sehr still, aber er lächelt und zeigt sein Gesicht. Damals war sein aus Usbekistan stammender Vater als Kriegsreporter in Kyiv, Alex hatte große Angst um ihn gehabt. Jetzt ist der Vater wieder in Bremen, genau wie die Großmutter und der Vater der ukrainischen Lehrerin. Nur ihr Onkel ist mit 58 Jahren noch zu jung, er darf nicht ausreisen.
Zwei der vier Schüler vom vergangenen Jahr haben mittlerweile die Schule verlassen. Vom vergangenen Mal dabei sind noch der 17-jährige Mateusz mit polnisch-ukrainischen Vorfahren sowie die 18-jährige Mariam. Mariams Cousin lebt im Heimatland ihrer Eltern, Tschetschenien, das zur Russischen Föderation gehört. Er sei aber trotzdem von Russland als Soldat eingezogen worden, sagt Mariam. Sie sitzt heute ruhiger auf ihrem Stuhl als vor einem Jahr, sie checke nicht mehr pausenlos ihr Handy, ob es eine Nachricht von ihm gibt, sagt sie. Obwohl er immer noch zu Kriegseinsätzen muss.
Neu dabei sind an diesem grau-verregneten Donnerstag Mitte Februar Mariams Freundin Anja, deren Familie aus mehreren ehemaligen Sowjetrepubliken stammt, darunter Russland, und Thomas, dessen Vater aus Kasachstan und dessen Mutter aus Russland kommt. Anja erzählt auf Bitten ihres Lehrers Jens Winter von ihrer Clique. Die einen hätten Verwandte in der Ukraine, die anderen in Russland. „Wir diskutieren nicht über Politik“, sagt Anja, „wir sind uns einig, dass der Krieg scheiße ist, egal, woher jemand kommt.“
Und dann ist da noch Maria, eine 17-Jährige, die mit ihrer Mutter und ihrer Lehrerin aus dem Süden der Ukraine geflohen ist. Sie hat Schatten unter den Augen, lächelt kaum und wirkt ernst und bedrückt. Sie spricht sehr gut Deutsch und hat durchgesetzt, dass sie direkt in die elfte Klasse gehen kann und nicht erst einen Vorkurs zum Deutschlernen besuchen muss. „Sie ist sehr hartnäckig und durchsetzungsstark“, hatte mir der Politiklehrer Jens Winter im Rektorenzimmer vor dem Gespräch mit den Schüler:innen erzählt. Sie hat damit sowohl ihn als auch den Schulleiter sehr beeindruckt, das ist ihnen anzumerken.
Maria sagt oft: „Alles gut“, etwa auf die Frage, ob es ihr nicht zu viel werde, wenn sie für ihre Mutter und Nachbarinnen übersetzen muss. Etwa 20 Personen helfe sie auf diese Weise, sagt sie. „Alles gut.“ Aber sie sagt auch, dass der Krieg ein Tabuthema sei, wenn sie mit ihren Freund:innen in der Ukraine telefoniere, weil es so traurig mache, darüber zu sprechen.
Ihre Freundinnen sind in der Ukraine
„Habt ihr das Wort: tabu?“, fragt sie leise und blickt Viktoriia Donchuk, die Lehrerin, an. Die nickt. „Wir wollen nicht darüber sprechen“, sagt sie, lieber über andere Themen, die Jugendliche in dem Alter eben bewegen, so wie es auch Anja vorhin gesagt hat. Marias Vater lebt noch in ihrer Heimatstadt, die sich direkt an der Front befindet, sowie einige ihrer Freund:innen. Eine will sie im April besuchen kommen, allein.
Nicht allen geflüchteten Kindern und Jugendlichen ist die Belastung so deutlich anzumerken. Eine Stunde zuvor hatte ich eine Klasse besucht, in der 14 Zehn- bis Sechzehnjährige gemeinsam Deutsch lernen. Auch sie sind – meistens mit ihren Müttern – im vergangenen Jahr aus der Ukraine geflohen. Demnächst sollen sie auf die Klassen verteilt werden. Die meisten von ihnen sind ziemlich lebhaft, ihre Lehrerin, ebenfalls aus der Ukraine geflohen, ermahnt sie immer wieder zur Ruhe, wenn sie sich mit ihren Sitznachbar:innen unterhalten.
Die Lehrerin muss viel übersetzen, sowohl meine Fragen als auch die Antworten. Zwischendurch schreibt sie neue, in diesem Gespräch gelernte Vokabeln an die Tafel. Die Schüler:innen erzählen von Hobbys, und ob sie diese auch hier in Bremen ausüben können. Einer 14-Jährigen ist das Volleyball-Team, in dem sie hätte mitspielen können, nicht gut genug. Eine Elfjährige hätte gern Klavierunterricht an der Musikschule, steht aber nur auf der Warteliste. Eine ist im Judo-Verein, ein anderer lernt Gitarre an der Musikschule, ein Junge möchte Basketball lieber nur auf der Straße spielen, nicht im Verein.
Dann sprechen wir kurz darüber, was sie in Deutschland gut finden und was ihnen nicht gefällt. Keine Termine bei Ärzt:innen ist ein wiederkehrendes Thema und dass man für so viele Medikamente ein Rezept brauche. Als eine Zehnjährige auf Deutsch sagt, in Deutschland lebten „gute und lustige Menschen“, widerspricht eine 14-Jährige und schimpft auf die Geflüchteten aus anderen Ländern, die nicht gut zu den ukrainischen Geflüchteten seien. So übersetzt es die Lehrerin.
Der beste Freund ist gefallen
Bisher hätte sich seine Befürchtung von damals, der Krieg werde auf die Schüler:innen übergreifen, nicht bestätigt, hat morgens Schulleiter Christian Sauter gesagt, bevor er in eine Klasse eilte. Deshalb habe ihn der Titel meines taz-Artikels „Der Krieg auf dem Schulhof“ gestört, er sei oft darauf angesprochen worden.
Die Zeitungsseite hängt in einer Ecke des Treppenhauses im Oberstufengebäude an einer Pinnwand, eine der wenigen sichtbaren Erinnerungen an die Situation vor einem Jahr. Wenn man heute das Hauptgebäude der Schule betritt, fällt der Blick als Erstes auf eine von den Schüler:innen gestaltete Stellwand zu den Erdbebenopfern in der Türkei und in Syrien.
Der Schulleiter sagt noch, er hoffe, es bleibe friedlich, wenn demnächst die ukrainischen Schüler:innen aus dem Vorkurs in die Klassen wechseln. Als ich der Lehrerin Viktoriia Donchuk von dem Disput über die Geflüchteten aus anderen Ländern erzähle, sagt sie: „Da haben wir noch viel zu tun.“ Und sie sagt, dass sie sich zwar an den Krieg gewöhnt habe und nicht ständig daran denke könne, weil nur so ein Weiterleben möglich sei. „Man kann aber nicht sagen, dass es mir besser geht“, sagt sie. Im Mai ist ihr bester Freund in der Ukraine gefallen.
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