Der Hausbesuch: „Mich interessieren keine Opfernarrative“
Früher war Nairi Hadodo Goth und Punk, heute spielt sie Kim Kardashian am Maxim-Gorki-Theater. Sichtbarkeit wird in dem Stück zur Überlebensstrategie.

Selbstinszenierung und Selbstbestimmung gehen zusammen, meint die Schauspielerin und Dramaturgin Nairi Hadodo. Vor allem bei Frauen. Denn auf diese Weise machen sie sich sichtbar.
Draußen: Dunkelblau, fast schwarz ist der Himmel über dem Wrangelkiez in Berlin-Kreuzberg. Graffiti bedecken Hausfassaden. Vor einem Supermarkt an der Ecke stehen Männer, die – wie einige alte Kneipen der Gegend – scheinbar schon immer da waren. „Ich liebe meine Nachbarschaft“, sagt Hadodo. „Sie ist so random“ – so vom Zufall bestimmt.
Drinnen: Hinter der Wohnungstür ist ein Haufen bunter Schuhe: Nairi Hadodos Mutter und Schwestern sind zu Besuch. Ihr Schlafzimmer sehe deshalb „wie ein Lager“ aus. Die Küche ist minimalistisch: Ein Sofa, ein Tisch, ein Kandelaber, weiße Blumen. Auch die Wände sind weiß. Vom Balkon aus sieht Nairi Hadodo in den grünen Hinterhof und kann die Nachbar*innen beobachten. Das sei eine „déformation professionnelle“ von Schauspielerinnen, sagt Hadodo und lacht.
Pläne: Bereits mit zehn Jahren wusste sie, dass sie Schauspielerin werden wollte. Ihre Mutter brauchte noch zehn Jahre, um das ernst zu nehmen, der Vater konnte mit dem Wunsch wenig anfangen. „Für mich war aber klar: Ich ziehe das durch – egal, wer dagegen ist.“ Zuerst studierte sie dann aber Freie Kunst an der Kunstakademie in Düsseldorf, erst danach Schauspiel in Bochum.
Nairi Hadodo
Obsession: An der Kunstakademie in Düsseldorf hat sie als 19-Jährige aus der „The Kardashians“-Realityshow eine Kunstinstallation entwickelt. Seither lässt Kim Kardashian sie nicht mehr los. Gerade hat Hadodo am Maxim Gorki Theater in Berlin ein Stück namens „KIM“ auf die Bühne gebracht, in dem sie selbst Kim Kardashian spielt. „Kim wurde für mich vor zehn Jahren zur Personifizierung von allem, was im feministischen Diskurs schiefgelaufen ist“, sagt sie. Heute sieht sie Kardashian positiver: „Sich konsumieren zu lassen und Resonanzräume zu schaffen für alles, was man tut, hat als Frau mit Migrationsgeschichte doch emanzipatorisches Potenzial.“ Warum? Weil sie sich sichtbar macht, und das sei für Angehörige von Minderheiten wichtig.
Herkunft: Nairi Hadodo wurde als älteste Tochter eines Architekten und einer Krankenpflegerin in Köln geboren und wuchs in Düsseldorf auf. Ihre Mutter ist Armenierin, ihr Vater war Aramäer. „Ich bin in einem Haushalt mit sehr selbstbewussten Eltern groß geworden. Schon früh wurde mir klargemacht, dass ich Armenierin bin, nicht Deutsche“, sagt sie. Sprache, Kultur, Gemeinde und Kirche waren die Fixpunkte in ihrem Alltag. Die Eltern engagierten sich humanitär, die Familie war tief eingebunden in das Leben in der Diaspora.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Unsichtbarkeit: Den kulturellen Hintergrund teilt die 29-jährige Schauspielerin Nairi Hadodo mit der 44-jährigen US-amerikanischen Unternehmerin Kardashian: Auch sie hat einen armenischen Hintergrund. Kardashians Vorfahren überlebten den Genozid von 1915 und emigrierten in die Vereinigten Staaten. Hadodo, deren Herkunft sowohl armenisch als auch aramäisch ist, gehört zwei ethnischen Gruppen an, „die vom Völkermord betroffen waren und deren Geschichte bis heute kaum aufgearbeitet wurde“, wie es im Programmheft zu „KIM“ heißt. „Meine Familie hat mir ein Bewusstsein für die Unsichtbarkeit unserer Kultur vermittelt. Wenn du mit dem Gefühl aufwächst, einer Minderheit anzugehören, macht das etwas mit dir.“
Ein Gesicht haben: Dabei sei es so wichtig, dass Kultur sichtbar ist. Das habe sie in den vergangenen zehn Jahren begriffen. Kultur könne nur leben, wenn man ihr ein Gesicht gebe. Deshalb nehme Hadodo sich die Freiheit, alles auf der Bühne zu machen, worauf sie „Bock“ hat: Als Kim rappt und tanzt sie, sie trägt Minikleider und Stilettos, sie hebt Gewichte und trinkt Eiskaffee, glänzend bahnt sie sich einen Weg durchs Publikum. Und doch sei sie auch wütend, wenn es sein muss. „Kim Kardashian ist die Sichtbarkeit in Person“, sagt Hadodo. Vielleicht auch deswegen habe sie sich diese Figur ausgesucht.
Mehr sein: „Kim, was sind deine Talente? Du kannst nicht singen, du kannst nicht tanzen, du kannst nicht schauspielern …“ – diese Frage verfolgt die Figur Kim Kardashian, gespielt von Hadodo, auf der Bühne. „Es gibt in meiner Karriere keine Frage, die ich öfter gehört habe“, sagt Hadodo alias Kim – und antwortet sich selbst: „Ich bin einfach mehr.“ Sie zählt auf: Ich, Kim Kardashian, Mutter von vier Kindern, Ex-Frau des Rappers Kanye West, Gründerin von Lifestyle- und Beauty-Marken. Ich gebe Vorträge, möchte Anwältin werden. Ich bin mehr als eine Medienfigur. Ich bin Symbolfigur.
Weniger machen: „Kann es nicht weniger sein?“, lautet dagegen eine Frage, die Nairi Hadodo sehr oft gestellt wird. Was damit gemeint ist? „Ich mache immer zu viel, ich schreibe selbst meine Texte, spiele, führe Regie. Einige Menschen sagen, das sei mutig, andere wiederum meinen, ich könnte es einfacher haben und die Rollen annehmen, die mir andere anbieten.“
Die Coolste im Raum: Nairi Hadodo ist klein, aber nicht zierlich, sondern kraftvoll und athletisch. Sie habe keine Schönheitsoperationen und kein Millionenvermögen. Und doch sieht man, wenn sie Kim Kardashian auf der Bühne spielt, genau diese Kim. „Ich bin die Coolste und Krasseste hier im Raum“, sagt sie als Kim in Unterwäsche. Als Hadodo erklärt sie: „Wenn man als Frau sozialisiert wird, lernt man früh, sich klein zu machen.“ Deshalb stößt sie in ihrer Performance manchmal an persönliche Grenzen: „Wie viel Raum darf ich einnehmen? Wie viel Haltung ist erlaubt? Wie lange darf ich meinen Hintern schwingen und dabei auch gut aussehen?“
Haltung: Weil Nairi Hadodo insgesamt „aus einer patriarchalisch geprägten Umgebung“ stammt, war ihr schon als Teenager klar, „wie viel Kraft es als Frau kostet, sich bestimmte Aussehen anzueignen, so wie Kim es tut“, erklärt sie. Anders als ihre Bühnenfigur suchte sie selbst jedoch nicht nach einem klassischen weiblichen Look: „Ich habe meine Jugend als Goth, Punk und vieles mehr gelebt und dabei die visuellen Codes des weiblichen Körpers immer wieder genutzt, um Widerstand zu leisten.“
Räume: Vier Jahr hatte sie nach dem Schauspielstudium ein festes Engagement am Theater Basel. Schon damals fing sie an, ihr Stück „KIM“ zu entwickeln. „Als ich mir nach dem Studium die Menschen in der Branche anschaute, wurde mir klar: Wenn ich, um als Schauspielerin zu arbeiten, auf das Wohlwollen von Leuten hoffe, die weder wissen, wo ich herkomme, noch wie es ist, so aufzuwachsen wie ich – dann kann ich ewig warten“, sagt sie. „Genauso wenig weiß ich, wie es ist, als weißer, blonder Mann aufzuwachsen.“ Lieber gebe sie sich also selbst die Rollen, die sie spielen möchte und nehme sich die Räume, die sie braucht.
Narrative: Diese Freiheit komme aus dem Schmerzgefühl, nur auf sich selbst zählen zu können. „Die Narrative, die meine Herkunft als Plus und nicht als Minus verstehen, muss ich selbst erzählen.“ In der heutigen politischen Lage sei es wichtiger denn je, handeln zu können. Das habe sie gemeinsam mit Kim Kardashian: Sie handelt, ob man es mag oder nicht. „Mich interessieren keine Opfernarrative, sondern Narrative des Tuns“, sagt sie. „Das erfüllt mich mit Freude und Stolz.“
Matriarchat: Was Nairi Hadodo auch mit Kardashian gemeinsam hat, ist die starke Frauenpräsenz in der Familie und deren Bedeutung. „Wir sind drei Mädchen mit einer sehr starken Mutter“, sagt sie über sich und ihre Schwestern.
Aliens: In Nairi Hadodos Familie gebe es kaum Männer. „So gut wie keine – und wenn doch, wirken sie wie Aliens, die auf unserem Raumschiff landen. Dann müssen wir erst mal herausfinden, wie wir mit ihnen klarkommen“, sagt sie lachend.
Und der Alien Friedrich Merz? „Bei ihm geht es ums Zurückschlagen, nicht ums Gestalten. Ich mag es nicht, wenn Menschen nur reagieren, statt aus echtem Bewusstsein heraus zu handeln“, sagt Nairi Hadodo.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!