Der Hausbesuch: Frauenwahlrecht in der Schweiz
Isabel Rohner war zehn, als im Kanton Appenzell über das Frauenwahlrecht abgestimmt wurde. Gleichberechtigung wurde ihr Lebensthema.
Wer erlebt hat, wie den Frauen die Eignung für die politische Mitbestimmung abgesprochen wird, kann nur Feministin werden. Davon ist die Schweizerin und Wahlberlinerin Isabel Rohner überzeugt.
Draußen: Das Eckhaus in Kreuzberg, in dem Rohner mit ihrem Mann lebt, ist eher unscheinbar. An einer Seite liegt eine wild befahrene Hauptverkehrsstraße mit U-Bahn-Station, an der anderen eine Einbahnstraße mit vielen Graffiti.
Drinnen: Aus allen Fenstern der zweistöckigen Maisonette-Wohnung blickt man auf den begrünten Innenhof. Die Einrichtung ist maximalistisch: An den roten, grünen und gelben Wänden hängen große Gemälde in knalligen Farben. Einige stammen von Rohners Großvater, „der war Kirchenmaler“, andere von ihrem Mann, „der malt bislang nur für uns“. Isabel Rohner bietet frischgebackenen Apfelkuchen nach Mutters Rezept an.
Sich binden: Ihr Mann hat sich in die obere Etage zurückgezogen. Als sie jünger war, dachte Rohner, dass sie niemals zum Standesamt gehen würde: „Ich habe die Ehe immer als Institution gesehen, die Frauen unterdrückt.“ Heute meint sie: „Ehe bedeutet, sich ganz zu jemandem zu bekennen.“
Geballte Faust: Dass Gleichberechtigung ihr Thema ist, zeigt sich überall in der Wohnung: Über dem Klavier hängt ein Porträt von Virginia Woolf, im Bad liegen feministische Comics, auf einem Stiftehalter im Arbeitszimmer steht der Slogan „Paygap schließen“. Und am orangefarbenen Kühlschrank hängt das Cover des von Isabel Rohner in der Schweiz herausgegebenen Buches „50 Jahre Frauenstimmrecht“. Darauf: eine Frau mit geballter Faust.
Vor und zurück: In Deutschland dürfen Frauen seit 1918 wählen: Folgerichtig heißt Rohners deutsches Äquivalent zum Schweizer Buch: „100 Jahre Frauenwahlrecht – Ziel erreicht! … und weiter?“ Auf die Frage nach dem Stand der Frauenrechte meint sie: „Wir sind weiter als vor 100 Jahren. Trotz Backlash.“ Bei Backlash, also Rückschritt, fällt ihr spontan Afghanistan ein, wo die Taliban Frauen erneut die Grundrechte weggenommen haben. „Aber wenn Leute jetzt sagen, es sei ein Fehler gewesen, da reinzugehen, sage ich: ‚Nein!‘ In den Jahren, in denen die Taliban nicht da waren, haben Mädchen Schulbildung erhalten. Allein dafür war es das wert.“
Lösungsansätze: Auch in Deutschland gebe es viel zu tun: „Frauen übernehmen mehr Sorgearbeit und stecken beruflich zurück.“ Sie sieht die Politik in der Pflicht, den Rahmen zu setzen für eine wirkliche Gleichberechtigung. Dazu würde beispielsweise gehören, Elternzeit partnerschaftlich aufzuteilen
Misogynie: Am langen Holztisch im Wohnzimmer erzählt Isabel Rohner, dass ihr Bewusstsein für Frauenrechte mit der Diskussion über die Einführung des Frauenwahlrechts im Kanton Appenzell begonnen habe. Ihre Patentante wohnt dort. Appenzell liegt mitten in ihrem Herkunftskanton St. Gallen, wie ehemals Westberlin in der DDR. Okay, den Vergleich findet sie hart, aber sei’s drum. „Damals habe ich im Fernsehen und Radio lauter misogyne Stimmen gehört. So was wie: ‚Aber können Frauen überhaupt wählen?‘ Oder: ‚Sollten Frauen wirklich über den Bau einer Turnhalle mitbestimmen dürfen?‘“ Rohner macht den Ton der Herren im Radio nach und sagt dann: „Wenn Frauen nicht mitwählen dürfen, ist eine Demokratie keine Demokratie.“ Die Debatten seien besonders absurd gewesen, da auch die Appenzellerinnen seit 1971 auf Bundesebene wahlberechtigt waren. Auf kantonaler Ebene wurde ihnen das Wahlrecht jedoch verwehrt.
Gerechtigkeit: Ihre Eltern hätten sich immer bemüht, Rohner und ihre Brüder gleich zu behandeln: „Alle mussten helfen.“ Zudem lebten sie ihnen eine gleichberechtigte Partnerschaft vor: „Die haben sich beide aufgeregt, wenn meine Mutter eine Unterschrift von meinem Vater brauchte, um beispielsweise eine Anschaffung zu machen.“ Durch ihre selbstbestimmte Mutter, die ihr schon als Kind Bücher über die Geschichte der Suffragetten geschenkt habe, entwickelte auch sie früh ein Gespür für Ungleichheiten in der Behandlung von Jungs und Mädchen: „Meine Brüder haben oft Geld geschenkt bekommen, ich Schokolade.“ Die Brüder beneideten sie: „Aber ich fand es doof. Mit Geld kann man mehr machen.“
Kindheitsheldinnen: Da sie in Büchern und Filmen keine Rollenvorbilder fand, erschuf sie selbst welche: „Ich habe Jamie Bond oder Tarzanina gespielt.“ Auch in den Geschichten, die sie zu schreiben begann, spielten Mädchen die Hauptrollen: „Das waren krimiähnliche Texte, inspiriert von den ‚Drei Fragezeichen‘.“
Gesellschaftssatire: Heute schreibt sie mitunter Krimis, die sie als „trojanische Pferde“ bezeichnet, und die, wie ihre Sachbücher, in einem Verlag rauskommen, der sein frauenspezifisches Profil nie aufgeweicht hat. „Die Geschichten sind vermeintlich unterhaltsam, dabei geht es um ernste Themen wie Sexismus und Gewalt gegen Frauen“ – wie in Rohners neuestem Buch „Kalte Sophie“. Gelabelt werden ihre Romane als feministische Kicherkrimis: „Wäre ich ein Mann, würde man sie als politische Gesellschaftssatire bezeichnen.“ Mit ihrem Schreiben sieht sie sich in der Tradition Hedwig Dohms, der Publizistin, Romancière und Literaturkritikerin, die bereits 1873 das Stimmrecht für Frauen forderte und für deren rechtliche, soziale und ökonomische Gleichstellung eintrat – „etwas, was wir bis heute nicht erreicht haben“.
Vorbild: Entdeckt hat sie Hedwig Dohm im Germanistikstudium. Der Roman „Schicksale einer Seele“ stand auf der Literaturliste: „Ich war fasziniert.“ Rohner fragte sich damals: „Warum kenne ich sie nicht? Was ist der Unterschied zwischen ihr und Fontane?“ Ab 1998 begann sie, alles von Hedwig Dohm zu sammeln.
Wiederentdeckung: „Erst in den 70er Jahren wurden einige wenige Texte von Hedwig Dohm neu aufgelegt, waren dann aber schnell wieder vergriffen.“ Die Frauen der damaligen Frauenbewegung seien über die Entdeckung erstaunt gewesen, sagt Isabel Rohner: „Sie hatten doch gemeint, dass sie die ersten seien, die erkannten, dass sie auf die Mutterrolle reduziert werden.“ Rohner wirft ihre Arme in die Luft, als ergebe sie sich: „Der Witz ist, dass jede Frauenbewegung denkt, sie müsste das Rad neu erfinden.“ Dabei habe es auch schon vor Hedwig Dohm Frauenrechtlerinnen gegeben. „Die Geschichte der Frauen ist eine unerzählte – bis heute“, sagt sie.
Kanon: Die Gründe, warum die zu ihren Lebzeiten wirklich bekannte Hedwig Dohm kurz nach ihrem Tod im Jahr 1919 weitestgehend vergessen wurde, sind laut Rohner mannigfaltig: Dohm, übrigens die Großmutter von Katja Mann, der Frau von Thomas Mann, stammte aus einer jüdischen Familie, deren Nachfahren unter den Nazis Deutschland verlassen mussten. Auch hatte Dohm ihren Nachlass nicht geordnet: „Und der Fokus auf Frauen, die sich politisch äußern, war ohnehin nie groß.“ Sowieso seien Autorinnen bis heute weniger sichtbar als Autoren. Rohner zitiert aus einer Studie der Universität Rostock: „In allen Medien wird Autoren bei Besprechungen mehr Aufmerksamkeit entgegengebracht: Zwei Drittel der rezensierten Bücher sind von Männern verfasst.“ Und dass, obwohl mehr Frauen Bücher lesen als Männer. „Als Leserin beschäftigt man sich ständig mit dem männlichen Blick.“
Durchhalten: Seit 2006 arbeitet Isabel Rohner gemeinsam mit einer Historikerin an einer mehrbändigen Gesamtausgabe der Werke Dohms: „Hätten wir, wie sonst bei solchen Editionen üblich, eine Förderung erhalten, wären wir längst fertig. So machen wir alles auf unsere Kosten und müssen aufs Rentenalter warten, um Zeit für den Rest zu finden.“
Kraft: Hauptberuflich arbeitet Rohner in der Bildungspolitik: „Ich habe vier bis fünf Wochen im Jahr frei, in denen ich zum Schreiben komme.“ Damit sei sie glücklich: „Ich habe einen Traumjob, eine große Sinnhaftigkeit.“ Ihr Schreiben sieht sie nicht als Arbeit: „Jeder Mensch braucht doch etwas, woraus er Kraft schöpft.“
Humor: Dass es keine Fördergelder für die Gesamtausgabe Dohms gegeben habe, hält Isabel Rohner nicht für Zufall. Ein möglicher Geldgeber habe gesagt: „Ich fasse das mal zusammen: Sie wollen das Werk einer toten Feministin rausbringen. Und sind zwei lebende Feministinnen. Das sind gleich drei Gründe für eine Absage.“ So etwas sitzt. „Ohne Humor können sich Feministinnen nur einen Strick nehmen“, sagt sie
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