Der Hausbesuch: Drei, die ihren Weg gefunden haben
Was ist schöner, als irgendwo anzukommen? Die Kashefs versuchen es in Hannover. Trotz aller Probleme klappt es – auch mit Hilfe von Ebay-Kleinanzeigen.
Sie kamen aus Kairo und strandeten in Hannover. Hier finden sie es auch schön.
Draußen: Wenn Mostafa und Miada Kashef ihr Wohnhaus in Hannover-Kleefeld verlassen, blicken sie auf die Eilenriede, den größten Stadtwald Europas. Das empfinden sie als großes Glück. Die Wohnung hat Mostafa vor vier Jahren über Ebay-Kleinanzeigen gefunden. Erst lebten er und Miada im Dachgeschoss, nach zwei Jahren wechselten sie in die größere Wohnung mit Garten im Erdgeschoss. Die Gegend ist bürgerlich, 80er-Jahre-Einfamilienhäuser mischen sich mit Villen.
Drinnen: Die Dreizimmerwohnung ist festlich geschmückt: Bei ihrem letzten Besuch haben Miadas Eltern Ramadan-Dekoration mitgebracht, bunte Wimpel, Decken, Lichterketten. Der dreijährige Murad knabbert an einem Brötchen und fährt mit seinem Dreirad durchs Wohnzimmer. Miada, studierte Modedesignerin, hat die Wohnung liebevoll eingerichtet, besonders stolz ist sie auf den abgetrennten Raum für Murad, der so im Wohnzimmer fast sein eigenes Reich hat.
Love is in the air: Das Paar lernte sich vor knapp zehn Jahren bei einem Fahrrad-Event in der Nähe von Kairo kennen. Etwa 100 Radfahrer sollten zusammen 20 Kilometer radeln. „Kein Rennen, sondern nur Spaß am Radfahren mit anderen.“ Im Ziel sah Mostafa Miada und wollte sie unbedingt kennenlernen. Aber mehr als ein schüchternes „Hallo“ war nicht drin. Er trifft sie zufällig an der Uni wieder. Als vor der Uni mal wieder eine Demo tobt, ist er in Sorge um sie, bringt sie nach Hause zu ihren Eltern. Ab da bleiben sie in Kontakt, telefonieren viel. Drei Monate später werden sie ein Paar. „Wir haben die gleichen Gedanken“, sagt er. „Ich liebe es, mit ihr zusammen zu sein.“
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Umdisponieren: Fünf Jahre studierte er in Kairo, um Ingenieur für Erdöl-Technik zu werden. Als er 2015 den Bachelor in der Tasche hat, ist klar: In seiner Heimat Ägypten wird er keinen Job finden, die Branche ist von der Ölpreis-Krise schwer angeschlagen, die Firmen wollen Personal loswerden, nicht einstellen. Er erweitert seinen Radius, weltweit, hat trotzdem keine Chance.
Der Plan: Er entscheidet sich für einen internationalen Masterstudiengang, fernab der Heimat. „Ich hatte Middle East bis dahin noch nie verlassen, das war für mich ein krasser Schritt.“ Er und Miada sind damals schon verlobt. „Dass sie mit mir kommen kann, das war für mich das wichtigste Kriterium bei der Suche nach einer Uni.“ Auch andere Punkte sind wichtig: „Ich hatte nicht viel Geld, die Lebenshaltungskosten durften nicht zu hoch sein und ich musste arbeiten können. Außerdem wollte ich die Möglichkeit haben, nach dem Studium in dem Land zu bleiben. Ich wusste, dass sich die Situation in Ägypten erst mal nicht verbessern würde.“ Als er eine Zusage für den Master in Bauingenieurwesen in Hannover bekommt, ist er froh: „Das Studium in Deutschland ist quasi kostenlos.“
Sprung ins kalte Wasser: Im September 2016 landet er in München, ohne ein Wort Deutsch zu können. Vieles ist anders. Im Zug nach Hannover sucht er den Fahrscheinautomaten, in Hannover angekommen fragt er, wo er ein Ticket kaufen kann. „Da haben die Leute gelacht und gesagt, jetzt ist es zu spät. Das war das einzige Mal, dass ich ohne Fahrschein gefahren bin.“ Was ihn außerdem verwundert: Dass U-Bahnen, S-Bahnen und Busse wirklich kommen, wenn es auf dem Plan steht.
Allein in Hannover: Online hatte er ein Zimmer bei einem indischen Studenten gefunden. Dort angekommen, öffnet niemand. Neun Stunden sitzt er auf seinem Koffer und wartet vor der Tür. Schließlich stellt sich heraus: Es ist das falsche Haus. Als er endlich ankommt, liegt auf dem Mietvertrag eine Tafel Schokolade. „Das hat mir gut gefallen.“
Im Turbogang: Die ersten Monate vergehen schnell: Alles ist neu; die Unterlagen für die Ausländerbehörde zusammensuchen, Uni, Jobsuche. Für Heimweh hat er keine Zeit. Der Druck ist groß: 8.640 Euro müssen Studierende vor Unibeginn vorweisen, damit sichergestellt ist, dass sie ein Jahr lang alleine über die Runden kommen. „Meine Vater ist vor zwölf Jahren gestorben, ich habe vier Schwestern, die auch alle studiert haben, das war nicht leicht.“
Zu viele Baustellen: Die Kommilitoninnen sind fast alle international. Zeit, sich mit ihnen anzufreunden, hat er nicht, er muss Geld verdienen. Schnell findet er einen Job in einem Lager, wo er Produkte scannt, heuert zusätzlich bei VW an. „Alle zwei Minuten ein Auto.“ Er installiert Kabel und Schläuche, 164 Autos am Tag. „Es waren zu viele Themen, man kann sich nicht auf alles konzentrieren, irgendwann ist der Kopf kaputt.“
Nicht allein: Als er beschließt, ins Ausland zu gehen, ist für seine Verlobte klar, dass sie mitgehen wird. Einfach wird das nicht. Miadas Vater ist Ingenieur, ihre Mutter Ingenieurin; mit ihnen und ihren beiden Schwestern lebte sie lange in Kuwait. „Für mich war es nicht völlig neu, in einem anderen Land zu leben.“ In Kuwait sei es ihr zu heiß gewesen, sagt sie. „Ich habe mich auch auf die Kälte in Deutschland gefreut. Aber jetzt weiß ich die Sonne wieder zu schätzen.“ Sie liebt die Natur in Deutschland, sagt sie, das viele Grün. Mostafa nickt. „Nur zehn Prozent von Ägypten ist bevölkert, der Rest ist Wüste.
Bürokratie: Es war nicht einfach, seine Verlobte nach Hannover zu holen. Nach einem Jahr in Deutschland flog er zurück nach Kairo, zu seiner eigenen Hochzeit; seine Schwiegereltern hatten sie organisiert. Zurück in Hannover fällt es ihm immer schwerer, ohne seine Frau zu sein. Er stockt auf Vollzeit auf und lässt die Uni schleifen, er muss Geld sparen, damit sie nach Hannover kommen kann. Doch es ist nicht so einfach, wie gedacht, vier Absagen kassiert er von der Ausländerbehörde; sieben Monate lang passiert nichts. „Die dachten, das sei eine Scheinehe.“ Zwischenzeitlich wohnte er bei einer alleinstehenden Frau, die ihm zur mütterlichen Freundin wurde und bei Behördengängen hilft. Sie finden heraus, dass Miada ein Visum bekommt, wenn sie selbst in Deutschland studiert.
Ehrgeiz: Als sie in Kairo ihr Modedesign-Studium abgeschlossen hatte, fing sie wie wild an, Deutsch zu lernen, mit Online-Kursen. 2019 kommt sie nach Deutschland. Ihr Deutsch ist besser als das ihres Mannes. Sie lernt weiter, macht Deutschkurse. Er sagt: „Ich habe nie einen Kurs gemacht, den Unterschied merkt man enorm. Ich mache viele Fehler.“
Was fehlt: Hier sei es schwerer, Freundschaften aufzubauen, finden beide. „In Ägypten ist immer was los auf der Straße, alles spielt sich draußen ab. Hier bleiben die Menschen lieber unter sich.“ Sie hat die Freundinnen aus ihrem Sprachkurs behalten, sie kommen aus Syrien, Polen, China, Mexiko. Außerdem hat das Paar viele ägyptische Freund:innen gefunden, über Facebook, aber auch im Supermarkt. „Es macht mich glücklich, wenn ich Ägyptisch höre, dann spreche ich die Leute einfach an“, sagt er. Was er liebt: Ebay-Kleinanzeigen. „Das gibt es bei uns nicht. Ich finde es toll, dass man nicht alles neu kaufen muss.“
Ihr schwerer Start: In Hannover beginnt Miada ein Mediendesignstudium. Die Kommiliton:innen sind deutsche Muttersprachler:innen. „Es war sehr schwer, sie haben sehr schnell gesprochen, umgangssprachlich.“ Als sie wenig später schwanger wird, muss sie das Studium unterbrechen. „Ich hatte eine schwere Schwangerschaft, von Anfang an, war bettlägerig, musste ins Krankenhaus.“ Für sie ist das die schwerste Zeit in Deutschland. „Ich musste im Internet recherchieren, um herauszufinden, was diese medizinischen Begriffe bedeuten, ich habe die Ärzt:innen nicht verstanden.“ Zuvor hatte sie schon eine Fehlgeburt. Ihre Familie fehlte ihr damals sehr.
Angekommen: Ab September wird Murad in den Kindergarten gehen, Miada besucht Online-Kurse in Textildesign, entwirft Kleider. Sie will unbedingt arbeiten, sagt sie. „Bei uns in Ägypten gibt es wenige Mütter, die nicht arbeiten, das gehört dazu.“ Sie sei wahnsinnig talentiert, schwärmt er. „Ich bin mir hundertprozentig sicher, sie wird Karriere machen.“ Mostafa hat einen Job als Technischer Support bei einem Landvermesser, der ihm Spaß macht und gut bezahlt wird. „Ich habe tolle Kolleg:innen und einen netten Chef.“
Familie ist alles: Sie wollen in Deutschland bleiben, erst mal. „Hier entwickelt sich alles zum Guten, alle Anstrengungen haben sich gelohnt.“ Sie nickt und lächelt dabei. „Ich würde aber gerne noch mehr Kulturen entdecken, andere Länder kennenlernen.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste