Der Hausbesuch: Wenn man in der Nacht singt
Erst beforschte sie das Lachen, dann der Nachtigallen Gesang. Heute ist Silke Kipper lieber Lehrerin auf dem Land als Wissenschaftlerin in der Stadt.
Sie träumte davon, Journalistin zu werden und wurde Biologin. Als Wissenschaftlerin interessierte sie sich für das menschliche Lachen. Dann aber kam die Nachtigall dazwischen.
Draußen: Wie der Bug eines Schiffes ragt die Dachterrasse des Hauses, in dem Silke Kippers wohnt, über Wittenberge. Auf der einen Seite ist die Altstadt mit Kirchtürmen und Fachwerkhäusern zu sehen, auf der anderen die grüne Auenlandschaft der Elbe. „Da hinter der Brücke ist Sachsen-Anhalt“. Hier auf ihrer 80 Quadratmeter großen Terrasse mit Rosen, Kräutern, Lavendel in Kübeln und Hängematte ist noch Brandenburg. Von oben sieht man Spaziergänger*innen an der Uferpromenade, Fischerhäuschen, einige herumfahrende Motorboote, weil Sonntag und dazu Hafenfest ist. Die Boote mag Kipper nicht, die Live Musik vom Fest im Hintergrund und das Sonntagsflair schon. Seit zwei Wochen erst wohne sie in diesem dreistöckigen Altbau. Davor lebte sie mit ihrem Mann und der zehnjährigen Tochter in Seddin, einem 100-Einwohner-Dorf in der Prignitz. „Immerhin haben wir hier Leihfahrräder'‘, sagt sie und lacht. „15 Stück“. Und Möwen und Krähen. Und Gebüsch, wo die Nachtigallen nisten und sich mit Beeren voll füttern, bevor sie den langen Flug nach Afrika unternehmen.
Drinnen: Auch von innen sieht es nach Seefahrt aus. Es ist ein rumpfförmiger Raum mit einer Reihe kleiner Fenster, die über dem Wasser hängen. Die Wand zur Terrasse ist mit trapez- und rechteckförmigen Fenstern verglast. Wer raus geht, hat das Gefühl, ein Deck zu betreten. Insgesamt vier Wände sind voller Bücher – nicht nur über Vögel, doch ihr kürzlich erschienenes Buch „Die Nachtigall: Ein legendärer Vogel und sein Gesang“ steht schon da. Außerdem gibt es ein Piano („Das Kind spielt.“) und Werkzeug der Ornithologen im Zimmer: Ferngläser. Das von ihrem Mann, der auch zu Nachtigallen forscht, soll in der Tasche bleiben, sie sei nicht so vorsichtig.
Treptower Park: „Mit einem Fernglas unterwegs zu sein, ist besser als mit einem Hund, jeder spricht dich an“, sagt Silke Kipper. Die Erfahrung habe sie im Berliner Treptower Park, wo sie fast 20 Jahre lang nachts zu Nachtigallen forschte, oft gemacht. Die Geschichten, die man hört und die Abenteuer, die man während der Feldarbeit erlebt, seien ein Geschenk, sagt sie. Anfangs wollten weder Polizist*innen noch Dealer verstehen, was sie um solche späten Uhrzeiten im Gebüsch mache („Ach ja, nach Vögelchen suchen?“). Nach einiger Zeit kannten sie dort alle.
DDR-Kombi: Mit dem Park hatte sie bereits als Kind eine Beziehung. „Es war mein Spielgarten.'' Da habe sie das erste Mal geknutscht, „die Nachtigall hat natürlich dabei gesungen“. Auch sei sie nicht weit entfernt vor 51 Jahren geboren worden. „Ein Ostkind“, sagt Silke Kipper und lacht wieder. „Ich komme aus einer klassischen DDR-Kombi'‘, sagt sie. „Mein Vater war Ingenieur, meine Mutter Kinderkrankenschwester“. Ihre ältere Schwester ist wie der Vater Ingenieurin geworden, das sollte sie auch werden. Nur sie war eine der „Schreibenden Pioniere“ und wollte Journalistin werden.
Von Journalismus zur Biologie: Mit 18 war sie Volontärin bei der linken Zeitung Junge Welt. Das war kurz nach der Wende. „Weil alle so beschäftigt mit der Übergangsregierung waren, übernahm ich viele Termine, die mit den Öko-Skandalen der DDR zu tun hatten.'' Und so hörte sie einmal vom ehemaligen Umweltminister Klaus Töpfer während eines Interviews: „Was ist das für eine junge Dame mit bissigen Fragen?“ Sie entschied dann, „nie wieder etwas zu machen, ohne ausführlich darüber Bescheid zu wissen“ und schrieb sie sich an der Uni für Biologie ein.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Lachen und singen: Zu der Nachtigall und der Nachtigallforschung sei sie zufällig gekommen. Eigentlich wollte Kipper das Lachen als menschliche Kommunikationsform erkunden und schrieb ihre Doktorarbeit darüber. Doch später wäre sie mit dem Lachen als Thema „sehr einsam“ gewesen. Deshalb widmete sie sich dem Vogelgesang. „Die Ornithologen-Community ist größer.“ Und warum gerade die Nachtigall? Zur Nachtigall sei sie schon im ersten Semester per „Ausschlussverfahren“ gekommen: Alle Kurse, die sie interessierten, waren ausgebucht. „Alle wollten den Teneriffa-Vogelpark-Ausflug machen“.
Das Los entschied: Sie landete in einem Moosbestimmungskurs und einem zur Bioakustik der Nachtigall. Während der Moosbestimmungskurs keine Spuren bei ihr hinterlassen habe, habe die Bioakustik irgendetwas in ihr geweckt. „Bioakustik'‘ – was war das denn jetzt wieder? Und eine Nachtigall meinte ich noch nie gehört zu haben“, schreibt sie in ihrem Buch.
Strophen: „Ich bin kein Fan der Nachtigall“, sagt Silke Kipper. „Doch ich bin von ihr fasziniert“. Einen Widerspruch sehe sie nicht. Dass ein vom Aussehen eher unauffälliger, nicht besonders hübscher Vogel (etwa im Vergleich mit Kolibris) Generationen von Poeten, Komponist*innen und Künstler*innen inspiriert und als Symbol für Verliebte steht, habe er seinem nächtlichen Gesang zu verdanken. Während andere Vogelarten wie der Buchfink oder die Amsel bis zu vier Strophen singen, bestehe der Gesang eines Nachtigall-Männchens aus ungefähr einhundertachtzig. „Dabei werden identische Strophen nicht direkt hintereinander wiederholt“, erklärt Kipper im Buch. Das machen nur Männchen, um die Weibchen zu locken. „Wenn man in der Nacht singt, braucht man kein umwerfendes Gefieder. Und wer braucht es auch schon, wenn man so singen kann?“
Nachtigallisch: Silke Kipper zischt, um die ersten Strophen eines Nachtigallgesangs nachzumachen – der Rest ist nicht für die menschliche Stimme erreichbar. Dazu übernehmen Nachtigallen regionale Dialekte (in der Reihenfolge der Strophen erkenne man, ob eine Nachtigall berlinert oder einen sächsischen Akzent hat). Also „Nachtigallisch“ zu sprechen oder gar zu verstehen, bleibt ein Traum der Ornitholog*innen. Jungvögel können 70 bis 150 Variationen singen (die sie von anderen Männchen lernen). Ältere schaffen bis zu 250. Damit teilen sie Alter und Gesundheitszustand, aber auch, wie viel sie sich um die Jungen kümmern werden und andere häusliche Informationen mit. „Die Weibchen hören sich das an und wählen dann aktiv aus“, sagt Silke Kipper.
Männchen und Junggesellen: Warum Weibchen nicht singen, weiß die Wissenschaft nicht. „Doch die wissenschaftlichen Narrative sind auch sehr männlich. Man könnte es anders formulieren: Die Weibchen können ja die Strophen, sonst würden sie nichts verstehen, und entscheiden sich trotzdem, zu schweigen“, sagt Kipper. „Menschen freuen sich, wenn sie noch im Juni eine Nachtigall singen hören. Doch der war nicht gut genug und so hat er keine gekriegt“.
Angst: Was würde passieren, wenn sie den Gesang der Nachtigallen nicht mehr hören könnte? Kipper überlegt und erzählt: „Neulich habe ich meinen Mann gefragt, ob er die Fledermäuse auf dem Dach höre, aber die ganz hohen Töne hört man ab einem Alter von etwa Mitte vierzig nicht mehr so gut“. Das fand sie traurig, doch das Sehen zu verlieren, jage ihr letztlich viel mehr Angst ein. „Ich bin ein visueller Mensch. Ich habe keine musikalische Ausbildung und bin auch nicht akustisch begabt.“
Glück: Die Nachtigallforschung setzt Silke Kipper nunmehr in ihrer Freizeit „leidenschaftlich, als Hobby“ fort. Ihr Hauptberuf? Sie unterrichtet Kinder (inklusive ihrer Tochter) in einer Montessorischule. Und sie freut sich, diese Entscheidung getroffen zu haben. „Nie im Leben wollte ich Lehrerin werden und jetzt bin ich so glücklich damit!“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Nachhaltige Elektronik
Ein blauer Engel für die faire Maus
James Bond
Schluss mit Empfindsamkeit und Selbstzweifeln!
Bodycams bei Polizei und Feuerwehr
Ungeliebte Spielzeuge
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach