Der Hausbesuch: Er hat in Fantasiewelten gelebt
Such dir ein Hobby, das für deine Behinderung „angemessen“ ist – das hört Johannes Bruckmeier als Kind. Heute skatet er mit Blindenstock.
Er dachte lange, er müsse der Größte sein, müsse Geschichten erfinden, um von anderen geliebt zu werden. Zu Besuch bei Johannes Bruckmeier in Nürnberg.
Draußen: Vielgeschossige Hochhäuser stehen im Carré um einen grünen Innenhof der Nürnberger Wohnsiedlung. Die Abendsonne scheint auf den Balkon von Johannes Bruckmeier, von unten sind spielende Kinder zu hören.
Drinnen: In der Wohnung steht nicht viel herum. An den Wänden hängt ein Pokémon-Plakat, im Wohnzimmer gibt es eine Pflanze, einen Fernseher, eine E-Gitarre. In einer Schranktür aus Glas ist ein Loch. Im Regal liegt „Asterix bei den Olympischen Spielen“. Bruckmeier kommt gerade von der Arbeit, er ist Physiotherapeut. „Mein Wohnzimmer ist aber eigentlich die Straße“, sagt er. Dort wo er skaten kann, mit seinem Blindenstock.
Erinnerungen: Seine frühsten Erinnerungen sind die beim Augenarzt. Seine Mutter weint. Der Arzt sagt, damit er sich nicht überall stoße, solle man ihm lieber einen Helm aufsetzen oder ihn durch die Gegend tragen, denn er werde niemals richtig sehen können. Der Grund: Retinitis Pigmentosa. Eine Augenerkrankung, die irgendwann zur kompletten Erblindung führt. Das hat Bruckmeier damals nicht verstanden. Er versteht nur, dass seine Mutter seinetwegen weint. So kamen die Schuldgefühle. „Für das was ich meinen Eltern antat.“
Wut: Bruckmeier wurde ein wütendes Kind. Im Internat für Sehbehinderte sei er gemobbt und geschlagen worden. Er zeigt eine Narbe: „Da hat mir jemand eine Tür vor den Schädel geknallt.“ Irgendwann habe er begonnen, auf Gewalt mit Gegengewalt zu reagieren. „Ich war der Bully und ich habe mich auch bemüht, diesen Ruf bis zur 10. Klasse zu halten.“ So habe er seine Ruhe gehabt.
Autoritätsproblem: „Mit meinen Lehrern kam ich nicht zurecht“, sagt Bruckmeier. Er habe ein Autoritätsproblem entwickelt, alle Grenzen ausgereizt. „Ich durfte ja nichts machen, weil ich mich verletzen konnte.“ Bruckmeier kann oder will nicht ruhig sein, wird mit ADHS diagnostiziert. Dann wird ihm gesagt, er solle sich eine Freizeitbeschäftigung suchen, die „angemessen“ ist „für einen Blinden“. Das ärgert ihn.
Deswegen begegnet er seinen Lehrern und der Welt mit dieser Einstellung: „Du willst mir was sagen? Mal schauen, wie viel du mir wirklich sagen kannst.“ Je mehr er sich gegen die Lehrer stellt, desto mehr wird ihm gezeigt, wie wenig er über sich selbst bestimmen kann. „Mein Problem ist nicht meine Behinderung, sondern wie mit mir umgegangen wurde“, sagt er.
Wie alle anderen: Eigentlich wollte er sein wie alle anderen, aber die Welt habe ihm gezeigt, dass er nicht wie alle anderen ist. Oder er hat sich eingeredet, dass die Welt ihm dies zeige. Er könne das heute nicht mehr unterscheiden, sagt Bruckmeier. Verwirrte Jugendliche nähmen ihre Umwelt manchmal anders wahr, als sie in der Realität ist.
Lügen: „Dieser Gedanke, dass mich niemand mögen kann, weil ich behindert bin, war lange da.“ Er dachte, dass er nur glücklich wird, wenn andere ihn mögen würden. Also fängt er an, seinen Mitschülern Lügengeschichten zu erzählen, die ihn in seiner Vorstellung zu einem besseren Johannes Bruckmeier machen. Was er an den Wochenenden alles erlebt habe. Dass er mit seiner Band Gigs hatte und er ein „krasser“ Musiker sei. Oder dass er mit seiner Eishockeymannschaft Erfolge gefeiert habe. Es ist nicht so, dass er sich alles ausdenkt.
Er spielte E-Gitarre. Lauten Metallsound, schnelle Technik mit einem Plektrum, das so groß ist wie ein Türstopper. Und er spielte trotz seiner Sehbehinderung auch Eishockey. „Aber halt nicht krass.“ In Wirklichkeit war er mit seinem Vater unterwegs. Sie machten Ausflüge, gingen auf Burgen oder Eis essen. Zu Hause hatte er keine Freunde.
Fantasiewelten: „Ich habe in Fantasiewelten gelebt.“ Die echten Geschichten erzählte er nicht, „weil ich mich damit nicht identifizieren wollte“. Dass er beispielsweise als Nachwuchstalent im Kugelstoßen gegolten habe und deswegen zu den Paralympics, nach London gefahren sei. Dass er im Biathlon den Deutschen Meistertitel geholt habe. Diese wahren Geschichten erzählte er nicht. „Ich habe das ja nicht gemacht, weil mir das Spaß gemacht hat, sondern weil meine Aggression irgendwohin musste.“
Wertschätzen: „Wenn ich so drüber nachdenke, hätte ich das früher viel mehr wertschätzen müssen“, sagt Bruckmeier. Die Jugend, die Teenagerzeit. „Es hätte so schön sein können“, wenn er nicht so ein „kleiner, frustrierter Jugendlicher“ gewesen wäre. Er erzählt von seiner Zeit als Eishockeytrainer mit 18 und wie er mal eine Fernbeziehung hatte in Rostock, wo er 19 Stunden lang mit Regionalzügen hingefahren ist. Damals wohnte er noch in der Nähe von Salzburg.
Das erste Skateboard: 2018 betritt Bruckmeier, mit 23 Jahren, einen Skateshop. Von seiner Sportlichkeit ist nicht mehr viel übrig. Er wiegt 140 Kilogramm und hat Liebeskummer, der Frust, der sich schon seit Kindheit anhäufte, war auf dem Zenit. „Ich habe mir gedacht: Leckt mich doch alle am Arsch. Ich mach jetzt, was ich will!“ „Ein Skateboard bitte“, sagte er zu dem Verkäufer. „Für wen?“, fragte der. „Für mich.“ „Einen Helm dazu?“ „Nein.“
Flüchten: Sein ganzes Leben habe er sich in Rollen geflüchtet. Der „krasse“ Musiker oder Eishockeyspieler, was er nicht alles Tolles machte. Skaten, sagt er, hat es ihm ermöglicht, sich eine Fantasie nicht nur zusammenzuspinnen, sondern sie auch wirklich zu leben.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Wohlfühlen: Er lernt schnell. Nimmt im ersten Jahr über 40 Kilogramm ab. Es kamen Menschen in sein Leben, die ihn nicht nur auf seine Behinderung reduzieren, die in ihm einfach so einen „coolen Typen“ sehen. Und so begann er, sich langsam wohlzufühlen. Mittlerweile skatet Bruckmeier an vielen Orten in Europa, er war in Maribor, in Innsbruck, in Frankfurt und Köln, er wurde nach Bergamo eingeladen und hat Sponsoren.
Treppen: Und offenbar ist er gut. Er springt Treppen runter. Dafür muss er sich erst mal mehrere Stunden mit dem „Spot“ beschäftigen: Er stellt eine Bluetooth-Box mit Musik auf, die ihm Orientierung gibt. Da wo die Musik am lautesten ist, springt er ab. „Stürze“, sagt er, „seien wichtig, um einen Ort kennenzulernen“.
Dieses eine Mädel: Seine Lügen allerdings habe er dennoch nicht in den Griff bekommen. Er sagt, er hat sich die Erzählungen selbst geglaubt. Das habe sich tief in seinem Leben verankert, er, der tolle Hecht, er, der Star, der alles kann. Das ging so lange gut, bis er vergangenes Frühjahr „dieses eine Mädel“ kennenlernt. Ab da erzählt er die Geschichten nicht mehr. „Da hatte ich das erste Mal in meinem Leben das Gefühl, dass ich einfach so sein kann, wie ich bin.“ Sie werden ein Paar, für vier „intensive“ Monate. Am Ende geht es schief, weil er doch nicht der ist, der er glaubt zu sein.
Komfortzone: Sie fahren zusammen nach Amsterdam. Bruckmeier, der nur etwas sehen kann, wenn es nicht zu hell oder dunkel ist, und dann auch nur 30 Zentimeter vor der Nasenspitze und in einem Umfang, als würde man durch einen Strohhalm schauen, hat ein Problem, weil ihm Amsterdam fremd ist. Kontrolle hat er nur an „Orten, an denen ich mich auskenne“. Orte, wo er seine Behinderung kaschieren kann.
Das geht nicht in Amsterdam, einer fremden Stadt in einem fremden Land, wo eine Sprache gesprochen wird, die er nicht versteht. „Jetzt merkt sie, dass ich behindert bin“, habe er sich gedacht. Und dann hat er sich verstellt. „Ich hab so getan, als sei ich der Geilste, der rumläuft“, erzählt er, „um meine Unzulänglichkeiten zu kaschieren.“ Er wird unauthentisch. Das hält an, bis sie wieder in Nürnberg sind. Sie sprechen nicht darüber. Und trennen sich.
Liebeskummer: Er flüchtet sich ins Skaten. Bei einem Contest bricht er sich den Arm. Er schlitterte über eine nasse Plastikplane, mit Absicht, mehrmals, die Menge feierte ihn dafür, er „ächzte“ nach dem Applaus und der Anerkennung – und fällt. Im Krankenhaus wird ihm klar, dass er etwas ändern muss. Er verlässt die Klinik, besucht Freunde, die er belogen hatte, erzählt ihnen die Wahrheit. Dass viele Geschichten nicht stimmen, dass er ein „x-beliebiger Typ“ ist, der keine Freunde hatte, bis er 16 war. Sie verzeihen ihm. „Das war das erste Mal, dass ich richtig glücklich war.“
Zukunft: Jetzt schaut er nach vorne. Er gibt Workshops und versucht, andere Blinde zum Skaten zu bringen. Viele gibt es nicht. Mit Freunden aus den USA setzt er sich dafür ein, dass Skaten bei den Paralympics als Sportart zugelassen wird. Er hat akzeptiert, sagt er, dass es für andere nicht normal ist, wenn er als Blinder, jetzt mit Stock, auf sein Brett steigt. „Ich habe aber vielleicht die Chance, dazu beizutragen, dass es für die nächste Generation normal wird.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“