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Der HausbesuchVom Bett aus betrachtet

Er war Maschinenschlosser, bis der Alkohol sein Leben zerrüttet hat. Heute versucht Erik Neuroth, Fanta zu trinken.

Eric Neuroth in seiner Wohnung in Aachen Foto: Heike Lachmann

Eigentlich Ist Erik Neuroth ein Held. Weil er nicht aufgibt und das Schöne sieht, weil er nicht unglücklich ist, obwohl vieles schlecht gelaufen ist in seinem Leben.

Draußen: Ein luxuriöses Thermalbad mit angeschlossener Saunaanlage. Die heißen Quellen Aachens sind seit mehr als zweitausend Jahren bekannt. Auch Karl der Große und Napoleon Bonaparte waren zur Entspannung im heißen Thermalwasser in Aachen. Heute ziehen die „Carolus Thermen“ im Stadtgarten in der Passstraße unter dem Motto „Sanus per aquam“ – Gesund durch Wasser – tausende Touristen an. Direkt gegenüber wohnt Erik Neuroth. Er ist Alkoholiker.

Drinnen: Seine Wohnung liegt im Erdgeschoss. Die Eingangstür öffnet sich zur Küche. Sie ist klein und dunkel. Auf dem Boden stehen Kisten mit Fanta. Durch die Küche geht man ins Wohnzimmer; es ist ein winziges Viereck. Es gibt einen Esstisch mit den Stühlen drum herum. Sie werden fast nie bewegt. Mit nur drei weiteren Schritten ist man schon im Schlafzimmer. „Es reicht mir, ich sitze sowieso nur hier“, sagt Neuroth.

Schlafzimmer: Dort an der Wand steht ein großes Bett, das sich tagsüber in ein Sofa verwandeln lässt. Neuroth legt immer zwei riesige Kissen hinter seinen Rücken, damit er sich beim Fernsehen gut anlehnen kann. Vor dem Bett steht sein Rollator, daneben ein kleiner Couchtisch, darauf eine Flasche Fanta. Er hat einen Knopf an der Wand installiert, damit er den Ton der großen Lautsprecher neben dem Fernseher über das Maximum hinaus erhöhen kann, wenn der Sender Sky die Formel 1 zeigt.

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Adrenalin: Kein einziges Rennen verpasst er. „Da ist Spannung, das Adrenalin.“ Seine Favoriten unterstützt er vor dem Fernseher mit vollem Enthu­sias­mus und lautem Rufen. „Doch wenn der Niederländer rennt, schlägt mein Herz noch schneller“, er meint den belgisch-niederländischen Rennfahrer Max Verstappen, den Kart-. Welt- und Europameister. Es scheint, als ob er seine psychische Kraft in der Formel 1 wiederfindet. Es ist eine Art Therapie, die er für sich ausgedacht hat. Und das funktioniert anscheinend. „Danach geht es mir viel besser“, sagt er.

Nachbarschaft: Für ihn ist der beste Sound der an der Strecke, je lauter, desto besser. So hört auch die Nachbarschaft den Rennlärm. Doch bisher hat sich niemand beschwert. „Wenn das Erik hilft, dann freue ich mich für ihn. Das ist das Wenigste, was wir für ihn tun können“, sagt eine Nachbarin. „Er ist ein Netter, der niemandem etwas Böses will.“

Der Mann, der reparierte: Erik Neuroth ist 58 Jahre alt. Ein Aachener, ein kräftiger Mann, frisch rasiert. Er war Maschinenschlosser in verschiedenen Firmen in der Stadt. Seinen letzten Job als Haustechniker hatte er bei der Fraunhofer-Gesellschaft. „Nun kann ich gesundheitsbedingt nicht mehr Fenster und Türen reparieren oder kaputte Schlösser auswechseln.“

Krankheiten: Herzflattern, Durchblutungsstörungen, Bluthochdruck, Polyneuropathie, bei der es zu Schäden an peripheren Nerven kommt – die Liste seiner Krankheiten ist lang. Einen Herzinfarkt hatte er auch, er atmet schwer, seine Beine und Füße sind geschwollen.

Alkohol: „Alles kommt vom Alkohol“, sagt er. Neuroth weiß, dass Alkoholismus eine Krankheit ist und er darunter leidet. „Uff, ich habe zu viel getrunken, hartes Zeug, Wein und Wodka.“ Und jetzt? „Wodka vertrage ich nicht mehr. Das Dreckszeug ging auf meinen Magen.“ Aber Wein trinke er ab und zu wieder mal, doch nicht so viel wie früher.

Tabletten: Er kämpft und will nicht aufgeben. Zweimal war er stationär auf Entzug im Alexianer Krankenhaus in Aachen. Er ist unzufrieden. „Zwei bis drei Wochen bekommt man Tabletten und das ist alles“, sagt er. „Sie behandeln nicht.“ Er wünscht sich therapeutische Gespräche. Er will es noch einmal versuchen. Im Klinikum in Dormagen, erzählt er, mit einem viermonatigen Aufenthalt.

Alleinsein: Weil er alleine wohne und keine Beschäftigung habe, sei es so schwer, nur bei Fanta zu bleiben. „Ich habe richtig Zeit, um wieder auf blöde Ideen zu kommen, nämlich saufen“, sagt er. Er sei isoliert, aber nicht eingesperrt, allein, aber nicht einsam. Seit der Coronapandemie treffe er sich nicht mehr mit seinen Freunden. Die Männertour, die er früher gern mit ihnen machte, vermisst er. „Aber irgendwie habe ich auch keine Lust mehr.“ Auch zum Einkaufen geht er nicht raus, er bestellt seine Lebensmittel online. Irgendwie mag er sein Alleinsein auch. „Ich muss es alleine schaffen.“ Doch seine Haushaltshilfe sei schon eine Erleichterung im Alltag. „Und ich habe das Fernsehen“, sagt er noch.

Schnell fahren: „Solange ich mich erinnere, habe ich gern Formel 1 angeschaut“, sagt er. Woher diese Liebe dazu kommt, weiß er nicht. Auf die Frage, ob er es nicht einmal selbst ausprobieren wollte, schüttelt er den Kopf. „Nee, niemals, um Gottes willen. Das ist nichts für mich.“ Er hatte aber immer Autos, und zwar immer unterschiedliche: Ford Granada, VW Golf, Opel Astra Kombi, Peugeot Expert und einen Kleintransporter T5 von Volkswagen, mit einer Schlafcouch hintendrin, „für Camping“. Doch wenn er heute überhaupt zum Fahren kommt, dann fährt er sein Elektrobike.

Die Ehe: An der Wand hängt eine Postkarte mit der Aufschrift: „Das Auto ist eine Erfindung, die es dem Mann ermöglicht, glücklich zu sein.“ Das ist die Philosophie vieler Männer und auch die von Erik Neuroth. Ob er deswegen ohne Frau geblieben ist? Er lacht. Die Postkarte habe ihm seine Ex-Frau geschenkt. Als er 40 war, hat er geheiratet. Die Ehe hält aber nicht lange. Nur vier Jahre war das Paar glücklich gewesen. Wirklich glücklich? Was bedeute schon Glück. „Wir haben damals sogar ein Haus gekauft, doch dann haben wir uns irgendwie auseinandergelebt“, sagt er. „Ich war der Hauptschuldige. Ich habe sie innerlich verlassen.“ Dazu kam der Alkohol.

Ein Engel aus Laubholz in der Wohnung von Eric Neuroth Foto: Heike Lachmann

Der Vater: „Mein Trinkproblem hat mit meinem Vater zu tun“, sagt er. Das habe er aber erst später verstanden. „Er hat mich zu schulischen Leistungen gezwungen und ins Gymnasium gesteckt, in dem ich nur gelitten habe.“ Im Gegensatz zu seinen Geschwistern bekam er immer schlechte Noten. Und alle sechs Kinder wurden immer gezwungen, wenigstens einmal in der Woche in die Kirche zu ­gehen. Da sei immer dieser Zwang gewesen.

Beim Alkohol entspannt: Als Erik Neuroth 15 war, ist sein Vater gestorben. Fühlte er sich damals befreit? „Von den Zwängen vielleicht.“ Er lernte Maschinenbau und meldete sich zur Meisterschule an. „Ich war 26, machte Frühschichtdienst und abends ging ich in die Schule. Danach war ich immer platt, bin nach Hause gekommen und habe mich beim Alkohol entspannt“, erzählt er. „So kam ich langsam zum Alkohol.“

Der Traum: Seine Eltern leben seit langem nicht mehr. „Ich träume sehr häufig von meiner Mutter. Aber nie vom Vater“, sagt er. Und, finden Sie das beruhigend? Irgendwie schon, meint er, vor allem, wenn die Mutter einfach da sei.

Nicht unglücklich: Er denkt viel darüber nach, was wäre, wenn er die Zeit zurückdrehen könnte. Dorthin, wo alles angefangen hat. „Alkohol hat mein Leben zerstört.“ Doch als unglücklich bezeichnet er sich nicht. Auch als Alkoholiker könne er stolz auf sich sein. Er hat seine Meisterschule abgeschlossen, hart gearbeitet, Geld gespart und wohnt in seiner Eigentumswohnung. Für ihn ist klar: Alkohol trinken ist kein Hobby. „Achte auf die eigene Gesundheit und auf die der anderen Menschen“, lautet sein Appell. Ob er trocken bleiben kann? Erik Neuroth sagt: „Ich habe keine Alternative.“

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