Der Hausbesuch: In Organisation steckt Organ

Fabien Matthias erlebte 2015 das Erdbeben in Nepal. Kurze Zeit später gründete er mit Kommilitonen eine Hilfsorganisation für das Land.

Zwei Männer sitzen auf einer Matratze vor deinem Fenster

Fabien Matthias (rechts) und Nils Henning auf dem Dachboden des Hauses von Matthias' Großvater Foto: Stefanie Loos

Es sind mehr als 6.000 Kilometer Luftlinie zwischen Berlin und Nepal. In einem Haus im Berliner Stadtteil Zehlendorf dreht sich dennoch alles um das südasiatische Land..

Draußen: Eine Kopfsteinpflasterstraße in Berlin, gesäumt von Einfamilienhäusern. Kaum jemand ist unterwegs. Eines der Häuser liegt versteckt hinter einer dunklen Holzpforte und einer großen Tanne. Gebaut wurde es in den dreißiger Jahren im letzten Jahrhundert; der braune Putz zeigt die Spuren der Zeit. In einem Fenster im Obergeschoss brennt Licht, ansonsten wirkt es verlassen.

Drinnen: Fabien Matthias öffnet die Tür. „Willkommen in unserer Zentrale“, sagt er. Der Flur ist dunkel, die Dielen knarren beim Gehen. Rechts liegt die kleine Küche, links sind die Zimmer zum Garten und geradeaus das ehemalige Esszimmer. Dort tippen zwei Männer auf ihren Laptops. Es sind Kollegen von Matthias, gemeinsam arbeiten sie bei der Hilfsorganisation Nidisi. An der Wand hängt eine graue Pinnwand, daneben ein Jagdhorn. Gegenüber stapeln sich Flyer mit QR-Codes in einem alten Holzregal. Im Haus verschmilzt altes Flair mit der Hoffnung auf Zukunft.

Die Vergangenheit: Früher wohnte Matthias’ Großvater hier. Als er vor einigen Monaten starb, war unklar, was mit dem Haus geschehen soll. Verkaufen wollte die Familie es zunächst nicht; teuer renovieren ebenso wenig. Also brachte sich Matthias ins Spiel. Er benötigte Büroräume für seine Hilfsorganisation, wollte das Haus auf Vordermann bringen. Als Kompromiss darf er es nun vorübergehend nutzen – ein schmaler Grat. „An dem Haus hängen viele Emotionen“, sagt Matthias. „Jedes Stück, das hier verändert wird, bricht ein bisschen mit der Vergangenheit.“

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Der Großvater: Sein Opa sei „alte Schule“ gewesen. Lustig drauf, aber nur, wenn er die Witze machte. „Zu mir meinte er immer, ‚Junge, du verzettelst dich, mach mal was Richtiges‘.“ Ethische Grundsätze oder Umweltaspekte, die Matthias für wichtig hält, hätten für den Opa keine Rolle gespielt. „Er konnte mir nie sagen, dass er gut findet, was ich mache.“ Anderen hätte er aber erzählt, wie stolz er auf seinen Enkel sei.

Neuer Anstrich: Ein halbes Jahr haben Matthias und seine Freunde aufgeräumt und aussortiert. Der Großvater war ein Sammler, das Haus sei vollgestopft gewesen. Vom Erdgeschoss führt er über eine schma­le Holztreppe unters Dach. Hier liegen noch massenhaft Dinge, die einst dem Opa gehörten, Teppiche und Nippes; entlang der Schrägen stapeln sich Bücher – vom Naturreiseführer bis zum Katalog des Museum of Modern Art.

Die Zukunftsvisionen: Im Erdgeschoss dagegen stehen erst zwei Bücher im Regal neben dem alten Holztisch im Gartenzimmer: „Utopia for Realists“ und „Im Grunde gut“ von Rutger Bregman. Dort sitzt nicht nur Matthias, sondern auch Nils Henning am Tisch, Mitgründer und bester Freund. Der eine ist 26, der andere 28 Jahre alt. Beide haben längere braune Haare und tragen große Pullover. Was sie noch verbindet: der unbedingte Wille, einen Sinn in der eigenen Arbeit zu finden. Das habe sich so entwickelt.

Ein in die Jahre gekommenes Einfamilienhaus umringt von Bäumen

Hier wohnte einst der Großvater von Fabien Matthias, jetzt lebt und arbeitet dieser dort Foto: Stefanie Loos

Die Suche: Zu ihrem Engagement kamen sie durch Zufall. Beide sind in Berlin aufgewachsen. Matthias ging in Schöneberg zur Schule, Henning in Wilmersdorf. Was sie später machen wollten, wussten sie da noch nicht. „Ich war nirgendwo aktiv“, sagt Henning. „Ich hatte gar keinen Kopf dafür, meine Zeit in sinnstiftende Sachen zu stecken.“ Stattdessen wollte er seine Freizeit genießen, Freunde treffen. Nach dem Abi­tur machte er eine Ausbildung zum Geomatiker. „Aber schon im zweiten Jahr wusste ich, das mache ich nicht die nächsten 40 Jahre.“ Matthias wollte nach der Schule weit weg. Er googelte, in welches Land die wenigsten deutschen Touristen reisen. Und stieß auf Nepal.

Das Erdbeben: Drei Monate arbeitete Matthias dort Anfang 2015 als Englischlehrer. Das sieht er heute kritisch: „Ich war grade erst mit dem Abitur fertig, also eigentlich nicht in der Lage, irgendjemandem irgendetwas beizubringen.“ Im April 2015 erschütterte ein Beben der Stärke 7,8 das südasiatische Land. Matthias wollte helfen. Mit anderen Freiwilligen mietete er Jeeps, brachte Lebensmittel und Zelte in die abgeschnittenen Bergdörfer. „Dort lag kein Stein mehr auf dem anderen“, sagt er. Er sammelte per E-Mail Spenden bei Freunden und der Familie – mehr als 30.000 Euro kamen zusammen.

Learning by Doing: Matthias kehrte mit einem gefüllten Konto und einem Plan nach Deutschland zurück. Er wollte weitermachen, sich professionalisieren. In Friedrichshafen studierte er Soziologie, Politik und Ökonomie und stieß auf Gleichgesinnte. Auch Henning hatte es zum Studieren an den Bodensee verschlagen. Er erfuhr auf einer Party von Matthias’ Vorhaben. Die Lust auf Veränderungen und das Schachspiel hätten sie damals verbunden. Neben dem Studium organisierten sie und andere Freiwillige mit den Spenden den Wiederaufbau von Häusern und die Schulbildung für Kinder, die ihre Eltern durch das Beben verloren hatten. „Es war alles Learning by Doing“, sagt Matthias.

Der Aha-Moment: Die Hilfsorganisation begann schnell seine ganze Energie zu absorbieren. Matthias schrieb seine Seminararbeiten über die Projekte in Nepal. Dabei fielen ihm auch viele kritische Stimmen zur Entwicklungszusammenarbeit in die Hände. Das sei augenöffnend gewesen. Nach zwei Jahren kam die Erkenntnis: „Was wir machen, ist eigentlich kontraproduktiv. Wir schaffen Abhängigkeiten.“

Hilfe zur Selbsthilfe: Sie wollten damals vor allem mit Geld helfen. Das verbesserte zwar die Lebenssituation vor Ort, drückte die Menschen aber in die Rolle der Nehmenden und war nicht nachhaltig. Also strukturierten sie um. Sie begannen etwa, Trinkwasser zu einem günstigen Preis zu verkaufen. „Einer der größten Kritikpunkte an der Entwicklungszusammenarbeit ist, dass wir etwas tun, was die Leute vor Ort gar nicht haben wollen“, sagt Matthias. „Wenn die Nepalesen am Trinkwasser nicht interessiert wären, würden sie nichts dafür zahlen.“ Den Verdienst steckt die NGO in die Entwicklung der Dörfer – so soll ein Kreislauf entstehen. „Die Projekte sollen durch wirtschaftliches Handeln aktiv sozia­le und ökologische Herausforderungen lösen“, sagt er. Auch heute ist die NGO spendenbasiert, dazu kommen Preisgelder, Unternehmenskooperationen und Reinvestitionen aus Projekten.

Verantwortung: Während der Pandemie musste die NGO wieder einiges umstellen. Dabei wollten sie eigentlich nicht mehr bloß geben. „Aber ich habe mich zurückgeworfen gefühlt in die Zeit nach dem Erdbeben, weil Menschen wieder in Notsituationen waren und aktiv schnelle Hilfe benötigten“, sagt Matthias. Ihre Mitarbeitenden vor Ort lieferten Essen in Gegenden, in denen vor allem Lohnarbeiter wohnen. Durch den harten Lockdown hatten sie weder ein Einkommen noch Rücklagen. Eine Hilfsleistung, die auch mit viel Verantwortung einhergeht. „Du entscheidest über Hunger und nicht Hunger“, sagt Matthias.

Motivation: Wenn Matthias und Henning über ihre Arbeit sprechen, fallen oft Worte wie „Impact“ und „Purpose“. Sie wollen die Leben von anderen zum Besseren verändern. Dass sie sich in einer privilegierten Position befinden, wissen sie. Einfach ist es trotzdem nicht. „Die Arbeit kostet uns viel Zeit und Nerven, und manchmal willst du natürlich alles gegen die Wand klatschen“, sagt Matthias. „Aber mich erfüllt es, andere Menschen zum Helfen zu befähigen.“

Das Jagdhorn: Aus ein paar Studierenden sind 32 Mitarbeitende geworden, ein großer Teil ehrenamtlich. Mittags bläst jemand mit dem Jagdhorn zur Pause, dann essen sie gemeinsam am Holztisch. Abends sitzen sie vor dem Kamin im ehemaligen Wohnzimmer oder um die Feuerschale im Garten. Alle, die mitmachen, seien mittlerweile Freunde, sagt Henning. Er, Matthias und dessen Schwester wohnen zudem derzeit in den Schlafzimmern im ersten Stock. Sie leben in ihrem Büro und arbeiten in ihrem Zuhause.

Der Organismus: Ihre Zusammenarbeit gleiche einem Organismus, sagt Henning. „Jedes Teammitglied ist ein Organ, das mit den anderen in Wechselwirkung steht. Nur gemeinsam schaffen sie es.“

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.