Der Hausbesuch: Aus der Zeit gefallen
Enikö Ginzery spielt Neue Musik auf einem alten Instrument, dem Cimbalon. Als freischaffende Künstlerin hat sie es in der Corona-Krise schwer.
Musik ist Schönheit im Augenblick. Daran hält Enikö Ginzery sich fest, jetzt, wo sie in ihrer Einzimmerwohnung im Erdgeschoss in Berlin sitzt und nicht weiß, wovon sie leben soll.
Draußen: Gerade ist alles ruhig in der Lüderitzstraße im Berliner Bezirk Wedding. Keiner kommt krakeelend aus dem Späti, der nie schließt. Niemand stellt Müll neben die Bäume, alte Kühlschränke, zerbrochene Stühle. Die Bierkneipen sind zu und ob sie, wenn sie wieder öffnen, dann immer noch „Alte Liebe“ und „Alte Zeiten“ heißen, ist ungewiss. Nur der Kartoffelladen hat auf. Ein Brandenburger Bauer verkauft hier Gemüse und Suppenhühner. Er fragt sich, ob Corona nicht ein bewusst gestarteter Angriff auf die Alten sei, so was wie demografischer Terrorismus. Enikö Ginzery weiß keine Antwort darauf, aber Gemüse kauft sie dort gern.
Drinnen: Wäre es möglich, alles, was zum Leben gebraucht wird, übereinander zu stapeln, Ginzery würde es versuchen, um mehr Luft in ihrer kleinen Wohnung zu haben. So aber steht direkt neben dem Bett das große Cimbalon, das wie ein Miniaturflügel ohne Tasten aussieht. Gegenüber stehen ein kleineres Cimbalon, ein Schminktisch und ein Tischchen mit PC. Für ein Bücherregal und zwei kleine Sofas ist im Zimmer auch noch Platz. Vom Bett aus kann Enikö Ginzery ein Bild sehen, das ihr Vater für sie malte. Darauf ist ihr Hund. „Der hat mein Instrument gehasst.“
Die Enge: Ein richtiges Engegefühl entstehe abends, wenn sie die Rollläden runter lasse, weil die Menschen, die auf der Straße vorbeilaufen, ihr sonst ins Zimmer schauen. „Dann bin ich wie eingeschlossen.“ Zu Zeiten, als das Leben noch normal war, tauschte sie die Enge ihrer Erdgeschosswohnung oft mit Hotelzimmern, denn als Cimbalonspielerin ist sie viel unterwegs, wird angefragt, wenn Orchester oder Ensembles sie brauchen. Sie ist eine der wenigen Interpretinnen, die auf dem alten Instrument Neue Musik spielen.
Das Cimbalon: Im Mittelalter hieß das Instrument Psalter. Im persischen und arabischen Raum heißt es Santur, Hackbrett und Zither sind verwandte Instrumente. „Ein Instrument Hackbrett zu nennen, widerstrebt mir“, sagt Ginzery. Anders als in Westeuropa sei das Cimbalon in Osteuropa nie vergessen worden und hat in der traditionellen Musik überlebt. Die Saiten des Cimbalons werden nicht wie bei der Zither gezupft, sondern mit Schlegeln angeschlagen. Für alte Musik, die Enikö Ginzery auch spielt, mag sie die Lederschlegel am liebsten, „weil sie für einen präzisen, archaischen Klang sorgen“. Dass sie das Instrument spielt, hat mit ihrem Großvater zu tun.
Der Großvater: Ihre Eltern sind keine Musiker. Ihr Großvater war aber ein den Künsten nahe stehender Mann. „Ein Jurist, ein Musiker, ein feiner, talentierter Mensch.“ Enikö Ginzery hat ihn nie kennengelernt. Er wurde nach dem Zweiten Weltkrieg in einen stalinistischen Gulag deportiert. „Nach zwei Wochen war er tot.“
Die Familie schaffte es zwar noch, ihn krank zurück nach Bratislava zu holen, aber er starb an Lungenentzündung. Er hinterließ ein Cimbalon und eine Zither. Eines Tages sagte der Vater zu Enikö Ginzery, seinem einzigen Kind, sie solle Cimbalon lernen. Da war sie ungefähr elf. Man hätte das Instrument jetzt all die Jahre und all die Umzüge mitgeschleppt, sagte der Vater. Er hatte seiner Tochter sogar schon eine Lehrerin besorgt. Sie war von der Idee damals nicht begeistert.
Violine: Seit sie sieben Jahre alt war, hatte Ginzery Geigenunterricht. „Ich wollte kein traditionelles Instrument dazu lernen. Ich spielte doch schon Vivaldi auf der Geige.“ Dennoch ist sie zur Cimbalonstunde gegangen. „Und gleich beim ersten Mal durfte ich improvisieren. Das hat mir gefallen.“ Irgendwann habe die Lehrerin gesagt: „Weißt du, Geige spielen viele, mit dem Cimbalon hat man mehr Chancen.“
Sich heimatlos fühlen: Ginzery hat später in Budapest Cimbalon studiert und in Musiktheorie promoviert. Fremd fühle sich die ungarische Hauptstadt für sie nicht an. „Vertraut auch nicht wirklich.“ Sie spricht die Sprache, Ungarisch, „es ist meine Muttersprache“, aber, sagt sie, „dort ist nicht meine Heimat“. Ginzery ist eine Ungarin aus der Slowakei, wie etwa 600.000 der sechs Millionen Einwohner und Einwohnerinnen des Landes.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Laut Pass ist ihre Nationalität Ungarisch, ihre Staatsangehörigkeit Slowakisch. Allerdings fühle sich die Slowakei für sie auch nicht wie Heimat an. „Sie können ahnen, warum nicht.“ In den 90er Jahren sei die Situation für Ungarn in der Slowakei nicht einfach gewesen. Das habe tiefe Spuren hinterlassen. Sie habe in Bratislava auch jetzt noch miserable Sachen erlebt. „Ich bin eigentlich heimatlos.“
Saarbrücken: Im Jahr 2002 geht Enikö Ginzery nach Saarbrücken. „Ohne ein Wort Deutsch“, erzählt sie. In Saarbrücken kann sie Neue Musik im Aufbaustudium als Hauptfach studieren. „In Osteuropa ist man doch lange abgeschnitten gewesen von der Neuen Musik.“ Dabei werde in der zeitgenössischen Musik das Cimbalon wieder verstärkt eingesetzt. Strawinsky habe es neu entdeckt, „in einer Kneipe“. Ginzery, die seit 2006 als freischaffende Cimbalonspielerin in Berlin lebt, hat über 50 Stücke von zeitgenössischen Komponisten und Komponistinnen uraufgeführt. Mit Globokar, Pedro Oliveira, Hespos, Kurtág und Iranyi arbeitet oder arbeitete sie zusammen.
Shutdown: Komponisten hätten es leichter, jetzt, wo wegen der Coronakrise das öffentliche Leben nicht stattfindet. „Ich bekomme jeden Tag eine Mail von Oliveira, er nutzt die Zeit zum Komponieren.“ Sie dagegen, als Interpretin, sei wie rausgekickt: „Für mich ist die Einsamkeit das Allerschlimmste: keine Proben, kein Besuch, keine Kollegen, nur abgesagte Konzerte.“ Sie habe für Konzerte, die jetzt im April stattfinden sollten, seit Dezember geübt. „Die Arbeit von einem Vierteljahr, alles weg.“
Aus der Zeit gefallen: Seit dieser Coronasache käme sie gar nicht in der Gegenwart an, denn die Gegenwart, auf die sie in der Vergangenheit hingearbeitet habe, gebe es nicht. „Ich lebe noch in der Vergangenheit und dann auch in der Zukunft.“ Sie probe jeden Tag für etwas, das irgendwann stattfinden soll. Angst vor der Krankheit hat sie keine. Sie ernähre sich gesund.
In ihrer Küche steht ein Arsenal an Vitaminen und Kräutern fürs Immunsystem. Eine ihrer Cousinen sei Bürgermeisterin in einem slowakischen Dorf. „Alle müssen dort so einen Mundschutz tragen.“ Ihre Cousine hätte es den Leuten auf dem Dorf erklären müssen und sie hätten es verstanden. „Aber man kann das trotzdem fast nicht fassen, was passiert.“ Sie hofft auf ein Ende, denn lange kann sie nicht durchhalten ohne Gagen.
Zweifel: Manchmal fragt sie sich, ob sie nicht etwas anderes hätte machen sollen. Pädagogin vielleicht. Professorin werden an einer Musikhochschule allerdings kann sie nicht, Cimbalon ist kein Studienfach in Deutschland. Immerhin an zwei Berliner Musikschulen unterrichtet sie. Nur sind die gerade zu. Projekte mit Flüchtlingskindern hat sie auch gemacht. Viele Kinder aus Syrien kennen das Instrument aus ihrer Heimat. „Ich habe das geliebt, diese Arbeit mit den Kindern.“ Singend und tanzend hätten sie die Sprache schneller gelernt. Aber solche Kurse gibt es auch nicht mehr.
Wovon leben? Zwar hat Ginzery, weil sie wie viele Künstler und Künstlerinnen nicht weiß, wie sie sich wegen Corona nun über Wasser halten soll, eine Soforthilfe bekommen. Neuerdings aber heißt es, die sei nur für Betriebsausgaben, und wenn sie das nicht nachweisen könne, müsse sie sie zurückzahlen. „Wie stellen die sich das vor? Wovon soll ich die Miete bezahlen? Dann sollen sie es nicht Soforthilfe nennen“, sagt sie. Sie soll stattdessen Hartz IV beantragen. „Das musste ich noch nie.“
Sie hat Angst, dass ihr ihr weniges Erspartes genommen wird. Sie braucht es für ein Instrument, ein leichteres, das sie schon bestellt hat. Und das Auto braucht sie auch. „Die Instrumente sind schwer, ich kann sie nicht mitnehmen im Zug.“
Innen und außen: Es gebe so etwas wie ein Innenleben und ein Außenleben, sagt sie. Das Innenleben, das ist, wo alles sich staut. Und das Außenleben? „Das ist, wo es Raum gibt, wo es Musik gibt, wo es Applaus gibt.“ Dann setzt sie sich wieder an das Cimbalon. „Der Klang des Instruments ist tragisch-melancholisch wie mein Leben“, sagt sie.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Pelicot-Prozess und Rape Culture
Der Vergewaltiger sind wir
Trendvokabel 2024
Gelebte Demutkratie
++ Nachrichten zum Umsturz in Syrien ++
Baerbock warnt „Assads Folterknechte“
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt
100 Jahre Verkehrsampeln
Wider das gängelnde Rot
Bundestagswahlkampf der Berliner Grünen
Vorwürfe gegen Parlamentarier