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Der HausbesuchCouscous und ein neues Leben

Naceur Charles Aceval stammt aus einer Nomadenfamilie. In Deutschland schlug er sich als Arbeiter durch, bis er Märchenerzähler wurde.

Er trommelt, er erzählt: Naceur Charles Aceval in seinem Wohnzimmer in Weil im Schönbuch Foto: Leonie Ruhland

Wahlheimat, was ist das für ein schönes Wort. Die Heimat von Naceur Charles Aceval, die er sich aussuchte, ist die kleine Gemeinde Weil im Schönbuch südwestlich von Stuttgart.

Draußen: Es ist still an diesem Mittwochabend, kein Mensch ist zu sehen. Familienhaus steht hier neben Familienhaus, meist dreistöckig, tief reichen die Spitzdächer bis über die Fenster im Erdgeschoss. Zwischen ihnen steht ein schlichtes weißes Haus mit nur zwei Etagen, es hat zwei Balkone. Ein warmes Licht scheint aus einem Fenster im zweiten Stock. Dort wohnt Aceval, 66 Jahre alt.

Drinnen: Vor Acevals Eingangstür hängt ein kleiner Mistelzweig, es riecht nach Weihrauch. Im Flur und im Wohnzimmer hängen Teppiche an den Wänden, aber auch bunte Gemälde, Familienfotos und orientalische Souvenirs: ein bronzener Gong, den ein steinerner Pferdekopf bewacht, ein hölzerner Pfeil mit Bogen, eine Trommel. Wer schon einmal auf einer von Acevals Erzählstunden war, kennt die Trommel schon, er bringt sie oft mit, schlägt zwischen seinen Erzählungen auf ihr herum. Auf dem Esstisch stehen eine silberne Teekanne, kleine Glastassen in Grün, Blau und Orange mit goldenen Verzierungen. Es gibt Minztee.

Algerien: „Die Räucherstäbchen sind für meine Mutter“, sagt Aceval, während er den Tee reicht und eine weiße Schale mit Datteln füllt. „Sie ist dadurch immer hier, bei mir.“ Früher in Algerien hat sie in den Zelten stets Weihrauch angezündet. Naceur Aceval ist in der Nähe der algerischen Stadt Sougueur geboren und aufgewachsen. Mit einer Nomadin zur Mutter, die einen baskischen Siedler liebte, wuchsen er und seine fünf Geschwister eher ungewöhnlich auf.

Die Mutter ließ sich vom Vater entführen, er besaß eine Farm, um die herum die Nomadenfamilie ihre Zelte aufschlug. 1959, als Aceval acht Jahre alt war, starb sein Vater und die Familie lebte von da an ganz im Nomadenstamm. Gehasst von Arabern, weil die Mutter einen Basken geheiratet hatte, gehasst von den Franzosen, weil sie eine Araberin war. „Ich habe mich damals immer für mein Nomadentum geschämt“, sagt er.

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Heimat: Nomaden ziehen mit ihren Tieren auf der Suche nach Futter. In Städten, erzählt Aceval, wurde das Nomadentum immer ausgelacht. Er fühlte sich in seinem eigenen Land nie akzeptiert, deshalb verließ er Algerien 1973 und ging mit seinem französischen Pass nach Marseille. Dort beschimpften sie ihn als „dreckigen Araber“, er solle doch zurück dorthin, wo er herkommt. Das wollte er nicht, er wollte aber weg. Also folgte Aceval ein Jahr später seinem Bruder nach Deutschland, wo er in Reutlingen Soldat wurde.

Erst im Alter von 54 Jahren erhielt er einen algerischen Pass. Da habe er endlich eine Identität bekommen. „Eine Sekunde und ein Blatt Papier, und ich war frei von allem. Unglaublich, das habe ich nie erwartet. Da war ich auf einmal ich selber. Ich wollte immer Algerier sein.“

Die Kamelstute: Während des algerischen Unabhängigkeitskrieges 1954 bis 1962 litt die Familie ständig Hunger. Einmal wollte die Mutter Suppe machen, aus einer Zwiebel, Wasser, Salz und einer Handvoll Gries. Mehr hatte sie nicht. Als sie fertig war, schwamm darin eine Kakerlake. „Die Haustiere des Krieges“, sagt Aceval immer. Aus Angst, die Kinder zu vergiften, schüttete die Mutter die Suppe weg. Aceval und seine Geschwister weinten. „Ihr wisst ja gar nichts von eurem Glück“, sagte da die Mutter.

„Genau heute Nacht wird die Kamelstute kommen, ihr Euter ist prall gefüllt mit Milch, und auf ihrem Rücken trägt sie Honig und süße Datteln, nur für euch.“ Doch bis sie kommt, wird die Mutter ihnen Märchen erzählen. Und so erzählte sie, bis die Kinder einschliefen. „Sie hat uns Märchen erzählt, damit wir den Hunger und die Angst vergessen. Für uns waren sie Nahrung.“ Das weiß Aceval heute. Es sind Geschichten wie diese, die er weitergibt.

Leben in Deutschland: ­Aceval verliebte sich in Deutschland, heiratete seine Frau Ute, ein paar Jahre jünger als er, mit der er zwei Kinder hat. Er arbeitete sieben Jahre bei Mercedes am Band, fand das zu langweilig und schulte um. Zwölf Jahre arbeitete er anschließend als Energieanlagenelektroniker. In der Philosophie fand er eine Leidenschaft, las sehr viele Bücher. Auf Reisen nach Algerien besuchte er seine Mutter, lernte von ihr, wie er den typischen Couscous selber machen kann. So wurde er zum Hobbykoch, servierte das Gericht ab und zu auf privaten Veranstaltungen. 2000 verlor er schließlich seinen Job. Eine depressive Phase folgte und Wut auf die gesamte Menschheit.

Die Rettung: Nach der Jahrtausendwende lädt ihn seine Schwester nach Frankreich ein. Sie erzählt und schreibt dort Märchen. Aceval soll für einen Erzählerkongress sein Couscous kochen. „Sie hat mein Leiden gespürt.“ Was Aceval nicht weiß: Bruno Lassalle, ein begnadeter Märchenerzähler, wird ihn aufrufen, ein Märchen zu erzählen. Es wird Acevals Stunde der Wahrheit werden. „Ich wollte nein sagen, aber mein Mund hat ja gesagt.“ Vorher habe er sich immer geweigert, vor Menschen zu sprechen. Aber nach diesem Tag habe sich alles verändert.

Im zweiten Stock brennt Licht: Hier wohnt Naceur Charles Aceval Foto: Leonie Ruhland

Märchen: Als er zurückkommt, ist er ein anderer Mensch. Statt wie jeden Morgen alle Geräte in der Wohnung einzuschalten, lässt er alles aus. Läuft rastlos im Wohnzimmer herum. „Alles, was ich angeschaut habe, hat mir eine Geschichte erzählt.“ Dann geht es schnell. Er sammelt Geschichten, die seiner Mutter, aber auch eigene, ganz persönliche Erinnerungen; er wird der algerische Märchenerzähler. „Durch das Erzählen habe ich meine Depression überwunden. Vorher habe ich Menschen gehasst. Durch die Märchen finde ich Menschen wunderbar – sie haben mich mit Gott und den Menschen versöhnt.“

Sein Geschenk: Aceval will seine Ahnen sprechen lassen. „Ich erzähle gar nicht – die Märchen werden durch mich erzählt.“ Er habe zwar eine Vorstellung davon, welche Geschichten er erzählen will, aber oft komme es vor, dass sich das je nach Publikum und Stimmung im Raum ändere. „Dann klopfen mir die Märchen auf die Schulter.“ Seine Lesungen finden deutschlandweit statt, aber auch in Österreich, Frankreich oder Algerien. Er tritt in drei Sprachen auf: Deutsch, Französisch, Algerisch-Arabisch. Leben kann er allein davon nicht; er ist arbeitslos gemeldet und dankbar, dass seine Frau arbeitet. Aceval erzählt nie zweimal genau dasselbe, seine Geschichten sind auch nach der hundertsten Wiederholung neu. „Märchen sind wie ein Geschenk, und wenn der Beschenkte sich freut, freue ich mich auch.“

Und wie findet er Merkel? Aceval kennt sich nicht gut mit Politik aus, verortet sich lieber im sozialen Bereich. Zu Angela Merkel hat er deshalb keine große Meinung. Doch aufgewachsen unter den Fittichen einer starken Frau ist für ihn „eine Frau in einer Führungsrolle immer bereichernd“.

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