Der Fortsetzungsroman: Kapitel 30: Die Liebe ist wie Twitter

Mütterchen konnte das Wissen der Welt in kurze Sätze packen. Sie wäre bereit gewesen für das Internetzeitalter.

Mütterchen hat das Internetzeitalter noch erlebt. Bild: Archiv Streisand

Die Liebe dauert, solange ein Kind braucht. Hat Mütterchen gesagt. Steht in meinen Aufzeichnungen. Sie hätte twittern sollen, meine Großmutter.

Ich weiß noch, wie wir versucht haben, ihr zu erklären, was „Internet“ ist, mein Cousin Matti und ich. Wir saßen bei ihr zu Hause. Manchmal trafen wir Enkel uns zufällig bei Mütterchen, wenn wir Schule schwänzten. Unsere Eltern waren alle Heimarbeiter, so konnten wir uns nicht einfach hinten wieder reinschleichen, wenn sie ins Büro gegangen waren. Ja, schwere Kindheit.

Matti hatte erzählt, dass es jetzt so eine neue Webseite gäbe, die das Wissen der Welt speichern sollte. Wie son Lexikon. Im Internet!

„Watt für’n Ding?“, hatte Mütterchen gesagt und ich sagte „Haha“ zu Matti: „Na, nu sieh mal zu, wie du da wieder rauskommst!“

Matti atmet tief ein. „Also Omi, pass mal auf“, sagt Matti, „du weißt doch, was ein Computer ist.“ Ich pruste. „Jetzt warte doch ma!“, sagt Matti. Ich beiße mir auf die Lippe. Mütterchen guckt amüsiert von einem zum andern und sagt: „Türlich weeß ick ditt! Sone elektrische Schreibmaschine. Wie deine Mutter hat.“ Matti will widersprechen, ich komme ihm zuvor. „Richtich, Mütterchen“, sage ich. Man muss die Leute da abholen, wo sie sind. Hab ich im Callcenter gelernt. Ich übernehme: „Und jetzt musst du dir vorstellen, sind da ganz viele elektrische Schreibmaschinen. Auf der ganzen Welt. Und zwischen den elektrischen Schreibmaschinen, da ist ein Netz.“ – „Watt?“, sagt Matti und fängt an zu lachen. Mütterchen lacht auch. „Ihr seid doch meschugge“, sagt sie und tippt sich mit dem Zeigefinger an die Stirn. So schnell gebe ich nicht auf. „Doch!“, sage ich, „Ein unsichtbares Netz!“ Mütterchen ist nicht mehr bei der Sache. Sie kichert die ganze Zeit. „Omi!“, sage ich, „Hör mir mal zu.“ – „Ja, mein Mäuschen“, sagt Mütterchen, „ick höre zu.“ – „Man kann auch Briefe schicken“, sage ich, „im Internet. Wie Post, nur schneller. Wie Telegramme.“ – „Apropos Telegramme“, sagt Mütterchen, „Matti. Kannst du ma gucken. Dett Ding is schon wieder kaputt.“ Sie zeigt auf das Tischchen neben ihrem Sessel. Da steht der Anrufbeantworter. Mütterchen bezeichnet alles in ihrem Haushalt als Ding. Mit Ausnahme des Telefons, dazu sagt sie Apparat, zum Fernseher sagt sie Röhre und zur Nähmaschine Maschine. Am Anrufbeantworter blinkt kein Lämpchen. Ich fürchte, es ist dasselbe Problem wie immer. „Der is nich kaputt, Mütterchen“, sage ich, „der is aus!“ – „Quatsch mit Soße“, sagt Mütterchen. „Doch!“, sage ich. „Jetz lass da ma’n Mann ran“, sagt Matti und drängelt sich dazwischen. „Der is aus!“, sage ich. „Geh ma weg, Leachen“, sagt Matti und markiert den Macker. Er weiß ganz genau, dass ich recht habe. Ich könnte fuchsteufelswild werden. Wenn ich nur nicht die ganze Zeit kichern müsste. Matti wirft einen Blick auf das Ding. „Guck“, sagt Mütterchen und drückt auf die Play-Taste. Wir haben ihr beigebracht, dass sie so ihre Nachrichten abhören kann. Nichts passiert. Wie auch! Ich versuche, an Matti vorbei an den Powerknopf zu kommen. Matti macht die Schultern breit. Ist das ätzend, wenn man die Kleinste ist! „Ditt jeht nich“, sagt Mütterchen und setzt ihre fachmännische Mine auf. „Maaa-ttiii!“, krakele ich und kriege Bauchkrämpfe vom Lachen. Es piept laut, als er das Ding wieder einschaltet. „Da“, sagt Matti, „nu gehta wieder.“ Mütterchen streichelt ihn dankbar am Arm.

Die Liebe dauert, solange ein Kind braucht, hat Mütterchen gesagt. Neun Monate. Ich weiß nicht, wann sie diese Erfahrung gemacht hat. Vielleicht schon mit Jupp, ihrer ersten großen Liebe, dem jüdischen Arzt in Frankfurt am Main Anfang der dreißiger Jahre.

„Der war sich meiner Liebe sehr sicher“, hat sie gesagt. Einmal hat sie bei ihm übernachtet. Sie lag im Bett und er saß im Nebenzimmer mit einem Freund. Sie redeten über Treue.

„Hast du keine Angst, dass die dich betrügt?“, fragte der Freund. Oder: „Woher weißt du eigentlich, dass die dich nicht betrügt?“ Und Jupp antwortete ganz selbstverständlich, im Brustton der Überzeugung: „So was tut die nich!“

Mütterchen war stinksauer, hat sie gesagt. „Wenn ich es nich schon längst jetan jehabt hätte, wär ick noch inna selben Nacht losjegangen“, sagt sie. Ich bin schockiert: „Wie? Du hast den betrogen?“ Mütterchen winkt ab: „Betrogen ist ein großes Wort. Passiert eben.“

Keine Ahnung, wann Mütterchen und Sandy merkten, dass nicht alle Knabenmorgenblütenträume reiften.

Ich frage mich, ob sie es zur selben Zeit merkten. „Du, mein Spiegelbild“, hat Sandy sie in seinen Briefen oft genannt, „die perfekte Reflexion“. Reflexion seiner perfekten Gedanken, meinte er.

Letzte Woche habe ich einen Artikel gelesen über die Liebe in Zeiten des Internets. Den hatte jemand bei Twitter geteilt. Darin schreibt der Autor Tomasz Kurianowicz, dass Luhmann in „Liebe als Passion“ dem Schreiben den Vorzug gegenüber dem Reden gebe „mit dem Hinweis auf dessen Inkommunikabilität“. Wie Robert Musil sagt: „Eine Liebesbeziehung kann man zerreden. Zerschweigen kann man sie nicht.“ Und zerschreiben auch nicht. Deswegen schreibt Goethes Werther seine Liebesbriefe nämlich auch nicht an das Objekt seiner Begierde, Lotte, sondern an seinen Kumpel Willi, seinen Intimus. Damit auch kein bisschen Realität die schöne Illusion stört.

„Was in Werthers narzisstischen Briefen zu beobachten ist, funktioniert auch bei einem intimen WhatsApp-Chat“, schreibt Kurianowicz. (Und in den Briefen meiner Großeltern, ergänze ich.) „Wir müssen unser heißes Begehren nicht mit dem anderen über komplexe, mehrdimensionale Kommunikationsweisen wie Berührungen und Blicke und Gesten abgleichen, sondern es reicht, dass wir passiv ein egozentrisches Textverständnis finden, das auf unseren intimsten Fantasien basiert.“

Stellt euch vor, Werther und Lotte hätten geheiratet. Oder Romeo und Julia wären notoperiert und der Magen ausgepumpt worden. Neun Monate Knabenmorgenblütenträume. Höchstens.

Übrigens. Goethe wäre auch ein toller Twitterer geworden.

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