: Der Fluß weiß schon, was er will
Wenn im Tal des Napa-Flusses in Kalifornien der Durchfluß von Wasser, Wein und Dollars neu geregelt wird, entsteht eine profitable Symbiose von Ökologie und Ökonomie – die nicht allen Freude macht ■ Aus dem Napatal Peter Tautfest
Es ist Sonntag an einem sonnigen Morgen. Außer Jim Hench ist niemand auf dem Fluß. Für seine 69 Jahre kommt der hagere Mann mit dem Paddelboot gut gegen die Strömung voran. Unmittelbar vor ihm streicht ein grüner Reiher übers Wasser. Am lehmigen Flußufer schwirrt es vor Schwalben, die sich das Baumaterial zum Nestbau unter der Brücke holen. Am rechten Ufer treten Bäume und dichtes Unterholz ans Wasser. Wer mit verbundenen Augen aus heiterem Himmel in Jims Boot gefallen wäre, würde nicht glauben, daß hinter der Uferböschung eine Stadt liegt. Allenfalls die Obdachlosen, die sich mit den Schwalben den Raum unter der Brücke teilen, deuten darauf hin. „Die werden wohl wegmüssen“, erklärt Jim.
Die Stadt trägt wie das County den Namen des Flusses, der Amerikas berühmtestes Weinbaugebiet bewässert, und alle drei – Stadt, Land und Fluß Napa – liegen an Kaliforniens Westküste. Warum um Himmels willen sollte man an diesem idyllischen Flußlauf irgend etwas ändern wollen? Dem Napa River aber steht Großes bevor. Er ist zu einem Wallfahrtsort für Umweltschützer, Stadterneuerer und Wasserbauingenieure geworden.
Jim, der seit 29 Jahren hier Boot fährt, kennt jeden Meter Flußufer. Da ist wieder ein Stück Böschung abgesackt, hier ist eine Sandbank entstanden, die letzte Woche noch nicht da war, und jenseits der Lincoln Bridge beginnt sich eine Flußschleife zu bilden. Der Fluß ist nicht immer idyllisch. Umgestürzte Bäume und seine schokoladenbraune Farbe verraten auch bei niedrigem Wasserstand, daß er zerstörerische Kraft haben kann.
In ihrer unendlichen Weisheit hat die Natur die meisten Flüsse dieser Erde durch Städte und landwirtschaftliche Nutzflächen geleitet. Menschen haben davon Vorteile – und manchmal auch Nachteile. Flüsse nämlich pendeln, in der Vertikalen und Horizontalen. Ruhelos schweifen sie, ihren Lauf ändernd, hierhin und dahin, und ihre Wasserstände steigen, wenn Regen fällt oder Schnee schmilzt. Menschen dagegen bauen Dämme und Deiche, die den Fluß nach ihren Bedürfnissen betten und seine steigenden Wassermassen zurückhalten sollen – oft erfolglos. Überschwemmungen gehören zu Flüssen wie Trunkenheit und Kater zum Wein. In den letzten 125 Jahren ist der Napa 27mal über seine Ufer getreten, und in den letzten 30 Jahren hat er Gesamtschäden in einer Höhe von rund einer Milliarde Mark angerichtet.
Die Flut 1986 kostete drei Menschen das Leben und führte zur Evakuierung von 7.000 Bewohnern, die Flut 1995 verursachte Schäden an über 200 Betrieben und Geschäften mit Verlusten von über 100 Millionen Mark. All das trotz Dämmen und Flußbegradigungen. Trotz? Wegen! Das sagen Umweltschützer schon seit langem: Laßt den Flüssen ihren Raum, dann werden Hochwasser nicht mehr so katastrophal sein.
Die Verheerungen, die der Napa River anrichtet, sind vergleichsweise harmlos, verglichen mit den Katastrophen an Oder und Mississippi. Was die Aufmerksamkeit auf den Napa River zieht, sind seine Menschen, die das bisher Undenkbare wagten: Sie wollen dem Fluß wieder ein wenig freien Lauf lassen. Dämme sollen eingerissen, Uferböschungen abgeflacht werden, oft überflutete Regionen werden evakuiert, Feuchtwiesen werden wiederhergestellt, Brücken werden abgerissen oder höher gebaut, und durch die Flußschleife in der Stadtmitte wird ein Durchstich gegraben, der die meiste Zeit des Jahres trocken sein wird, bei hohem Wasserstand aber den Abfluß beschleunigt. „Wir wollen den Fluß in ein Bett nach unseren Bedürfnissen legen, es ihm darin aber so bequem wie möglich machen“, sagt Rudolf Ohlemutz, ein deutscher Wasserbauingenieur, den es hierher verschlagen hat. „Daß der Fluß an manchen Stellen wieder über seine Ufer treten darf, wird wie ein Schwamm wirken, der Hochwassermassen aufnimmt und andere Räume schützt.“
Seit den 70er Jahren hatte das Ingenieurskorps der US Army Pläne für den Ausbau der Deiche am Napa sowie die Hälfte des Geldes dafür. Die Armeeingenieure bauten sogar ein Stück der Uferbefestigung zu Demonstrationszwecken – eine Teststrecke sozusagen. Wie scheußlich das war, kann man noch heute sehen. Die Bürger von Napa waren jahrelang dagegen, nicht aus ökologischen oder ästhetischen Gründen, sondern weil die Freigabe von Bundesmitteln daran gebunden war, daß Stadt oder County die andere Hälfte beisteuerten. Dagegen stand Kaliforniens berühmte Volksabstimmung 13, wonach für alle Steuererhöhungen eine Zweidrittelmehrheit erforderlich ist. Daran scheiterten bisher alle Versuche, das Projekt zu finanzieren. „In den 90er Jahren kam das Corps of Engineers wieder auf uns zu“, erzählt Judith Sears von den „Friends of the Napa River“. „Sie mußten die Mittel ausgeben, sonst wären sie das Geld und ihre Daseinsberechtigung los gewesen. Sie waren also auf uns angewiesen. Ihre Pläne aber sahen aus wie in den 70ern: Unmengen von Beton, die aus dem Napa eine Abflußrinne im Herzen der Stadt gemacht hätten.“
Die „Freunde des Flusses“ sahen ihre Chance. Sie wandten sich an Luna Leopold, einen Flußwissenschaftler an der Berkeley University und Sohn des berühmten Vaters der US-Umweltbewegung, Aldo Leopold. Er verwies sie an Phil Williams, einen Wasserbauingenieur aus San Francisco. Der war bereit, den Plan des Army Corps zu prüfen und mit den Flußfreunden eine Alternative zu entwickeln. „Als wir uns das erste Mal mit Paul Bowers vom Army Corps zusammensetzten, verstand der nur Bahnhof. Und beim zweiten Treffen brachte er alle Ingenieure aus dem Hauptquartier in Sacramento mit. Es war ihm nicht gelungen, denen deutlich zu machen, was wir wollten.“
Den Flußfreunden kam entgegen, daß seit der Flutkatastrophe am Mississippi 1993 ein Umdenken eingesetzt hatte, sogar im Corps of Engineers. Die Bundesregierung hatte begonnen, am Oberlauf des Mississippi Überschwemmungsland aufzukaufen, was billiger ist, als Dämme wiederherzurichten. „Es gelang uns, das Corps dazu zu bewegen, Phil Williams' Firma mit Revision und Ausführung des Flußregulierungsprojekts zu beauftragen.“ Das war allerdings nur die halbe Arbeit. Noch mußten Stadt oder County dazu gewonnen werden, in einer Volksabstimmung für eine Steuererhöhung zu stimmen, damit die andere Hälfte des benötigten Geldes zusammenkam.
Daß die Natur die meisten Flüsse durch Städte legte, hat noch einen anderen Nachteil. Wo sie als Transportmittel gegenüber Eisenbahn oder Auto ihre Bedeutung verloren haben, veröden sie und mit ihnen ihre Städte. Was an Leben auf dem Fluß an jenem Sonntag morgen fehlte, das tummelte sich auf der Highway 28, die durch das Napatal führt. Dort sieht es aus wie in der Toskana, nicht nur der Zypressen und sanft geschwungenen Hügel wegen. Hier staut sich der Verkehr auf dem Weg zu den 150 Winzern und Weinkellern, die seit den 70er Jahren die Obstgärten verdrängt haben.
Die vielen Touristen, die von der Bay heraufkommen, lassen Napa links liegen und bringen ihr Geld direkt zu den Weinhändlern und nach Calistoga, wo der Highway 28 in einem süßen kleinen Kurort mit heißen Quellen mündet. Das hat natürlich nichts mit den Überschwemmungen in Napa zu tun; gleichwohl verfing das Argument, daß Hochwasser die Ansiedlung von Geschäften und Restaurants verhinderten, die einen Teil des Touristen- und Dollarstroms nach Napa geleitet hätten. Und dann hatten die Flußfreunde eine geniale Idee. Der Fluß selber könnte doch zur Wiederbelebung der Stadt führen. An seinen Böschungen könnten Cafés, an seinen Ufern Wanderpfade und in seinen Auen Parks entstehen. „Sehen Sie sich San Antonio an“, erklärt Judith Sears, „da reichen Liegewiesen bis an den Fluß hinunter, auf dem Fluß selbst treiben Paddelboote durch eine Landschaft aus Boutiquen und Cafés, Arkaden und Kneipen.“ Der Weinbauer und -großhändler Mondavi will für 50 Millionen Dollar ein Wein-, Kunst- und Kulturzentrum mitten in der Stadt auf der halbinselförmigen Flußschleife bauen, die sonst immer überflutet wird. Er kommt den Weininteressenten damit räumlich entgegen und der Stadt auch, die entsprechend bereit war, die wasserbaulichen Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß dieses Gebiet nicht mehr überschwemmt wird.
Aber worum geht es hier eigentlich? Soll hier ein Fluß renaturiert oder als Publikumsattraktion ausgebaut werden? Freunde des Flusses wie Jim Hench und Judith Sears weichen einer Antwort aus. „Es ist ja nur ein kleiner Flußabschnitt.“ Die Volksabstimmung für eine Steuererhöhung kam jedenfalls mit 67 Prozent der Stimmen durch. „Das ist eine Revolution“, erklärt Judith. Nicht alle sind so glücklich. Harry Martin, Stadtratsmitglied von Napa, findet, daß die Stadt zuviel an Touristen und zuwenig an ihre Bevölkerung denkt. „Hier stirbt eine Stadt für die Geburt einer City.“
Und Heinrich Schmidt kann richtig böse werden. Er wohnt in einer Ansammlung von Schuppen und Werkstätten, Häuschen und Läden, Büros und Lagerhallen und gilt als eine Art Sprecher dieses Stadtviertels. „Das hier soll alles dem Fluß weichen“, schimpft er. Dabei sei hier die Flut noch nie hingekommen. „Überhaupt haben die Hochwasser dieses Ausmaß erst angenommen, seit sich die Weinbauern am Oberlauf des Flusses vermehren. Weingärten haben ökologisch den Wert von Parkplätzen. Sie sind artenarm und nehmen kaum Niederschlag auf.“
Auch Richard Carter wird gehen müssen, ein Bildhauer, der hier einen Riesenschuppen mit Blick auf den Fuß gemietet hat. Auch die Malerin Judy Unterkofler und der Lebenskünstler Vince Alcouloamri, der sich mit seinen Rastalocken abwechselnd über Volkswagenmotoren und Computerfestplatten beugt. „So billig finden wir hier nie wieder Ateliers. Napa war mal eine der schönsten Städte Kaliforniens. Die ewigen Stadterneuerungsversuche haben sie ruiniert. Man hat historische Gebäude am Flußufer geschleift, um Büro- und Geschäftsräume zu schaffen, die jetzt leerstehen. In dieser unansehnlichen Anhäufung von Baracken regt sich mehr städtisches Leben als je in dieser Disneyland-Kulisse, die man jetzt am Flußufer errichten will, sein wird.“ Auf die Vorteile des Konzepts vom „Freien Fluß“, wie es die „Freunde des Flusses“ propagierten, angesprochen, antwortet Richard mit Bitterkeit: „Die Freunde des Flusses sind in erster Linie Freunde des Weinbauern Mondavi. Wir hier unten sind nie gefragt worden.“
Flußabwärts läßt Jim Hench sein Paddelboot treiben. Noch immer ist er der einzige, der an diesem Sonntagmorgen die Sonne auf dem Wasser genießt. Da: ein seltener Eisvogel fliegt auf. Der Fluß wirkt wie eine stillgelegte Bahnstrecke, die im Laufe der Jahre von der wuchernden Natur wiedererobert wurde. Hier ist Wildnis inmitten der Stadt entstanden. Warum um Himmels willen sollte man hier etwas ändern?
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