Der Ethikrat: Retten, was zu retten ist
Was tun, wenn der Nachbar vielleicht die Katzenjungen um die Ecke bringt? Der Ethikrat wüsste es vermutlich, ist aber selbst in Bedrängnis.
N ach der Weihnachtsfeier auf meinem Balkon hatte ich nicht erwartet, den Ethikrat in nächster Zeit noch einmal zu treffen. Der Ethikrat, das sind drei ältere Herrn von geringer Größe, die mich gelegentlich aufsuchen, um mir Handreichungen in praktischer Ethik zu geben. Aber natürlich hatte ich den Rat unterschätzt. Als ich am Donnerstagabend mein E-Mail-Postfach öffnete, fand ich dort die Einladung zu einem Zoom-Treffen.
Es begann unmittelbar darauf, deswegen saß ich noch am unabgedeckten Abendbrottisch, als der Ethikrat auf dem Bildschirm auftauchte. Die Mitglieder trugen Anzug mit Hemd und Fliegen in dunklem Grün, das gut zu dem Adventskranz passte, der auf einem Hocker neben ihnen lag. Sie saßen an einem langen Tisch, hinter dem ein Bücherregal mit einer Kant-Büste aufragte.
„Guten Abend“, sagte der Ratsvorsitzende und nickte mir zu. „Haben Sie eine Frage, die Sie nicht mit ins nächste Jahr nehmen wollen?“ Natürlich waren mir alle Fragen, die mir in letzter Zeit dringlich erschienen waren, entfallen, aber in diesem Moment sprang der Kater auf den Tisch. Er stammt aus einer Scheune in der Nähe unserer Wochenenddatscha, in der halbwilde Katzen leben. Als eine Katzenmutter überfahren wurde, suchten wir nach den Jungen, fanden eines und nahmen es mit in die Stadt.
Wir dachten, dass wir es vor dem Tod retteten, bis wir seine Geschwister trafen, die allein überlebt hatten. Wir dachten weiterhin, dass sich die zunehmende Wildheit des Katers legen würde, tatsächlich fällt er uns immer heftiger an. Wenn ich ehrlich bin, ist meine Liebe zu ihm ein wenig eingetrübt.
ist taz-Redakteurin in Hamburg und schreibt bevorzugt über ökonomisch wertlose Beschäftigungen. Ihr Buch „Warten. Erkundungen eines ungeliebten Zustands“ erschien 2014, „Schlafen. 100 Seiten“ 2019.
Was die Leute im Dorf erzählen
„Wie weit darf man sich einmischen?“, fragte ich in den Computer hinein und versuchte, den Kater vom Tisch zu schubsen, „wenn man glaubt, dass jemand seiner Verantwortung nicht nachkommt?“ Der Ratsvorsitzende war inzwischen aufgestanden und suchte etwas im Regal, aber die beiden anderen Mitglieder schienen mir noch zuzuhören.
Die Leute im Dorf erzählen Unterschiedliches darüber, was der Besitzer der halbwilden Katzen mit dem immer neuen Nachwuchs tut, es reicht von Verschenken bis Ertränken. Sicher ist, dass er sich nicht überzeugen lässt, die Kater zu kastrieren. Unsere Überlegung, sie selbst zum Tierarzt zu bringen, scheiterte schon daran, dass sie sich nicht anfassen lassen. Neulich guckte ich noch einmal nach den Katzen, und wenn ich mich nicht versehen habe, ist eine wieder schwanger.
„Wäre es übergriffig, die Tierhilfe anzurufen?“, fragte ich den Rat und fühlte mich wie eine Mischung aus Else Kling und der Art Stadtmenschen, die zwei Wochen auf dem Land verbringen, um neuen Input für ihren Blog zu sammeln. Der Ethikrat tuschelte. „Ich weiß, dass Sie Philosophen sind!“, rief ich. „Vielleicht ist die Kastrationsfrage zu banal. Abstrakter gefragt, ginge es um die Abwägung zwischen der Achtung der Autonomie des anderen und der Notlage eines Dritten, oder?“ Aber da brach die Verbindung zusammen und der Rat verschwand vom Bildschirm.
Ein paar Tage später lief ich durch die Fußgängerzone, als ich Flötentöne hörte, die mir bekannt vorkamen. Ich drehte mich um und sah den Ethikrat: Zwei Mitglieder spielten Flöte und Triangel, der Vorsitzende sang dazu „O du fröhliche“. Sie trugen Weihnachtsmützen, vor ihnen flackerte ein künstliches Teelicht und daneben stand ein Karton, auf den geschrieben war: „Für bedürftige Alte“. Sie hatten nur eine Zuhörerin, eine alte Frau mit Pudelmütze, deren rattenartiger Hund am Mantel des Ratsvorsitzenden schnüffelte.
Ich fragte mich, ob der Ethikrat möglicherweise selbst bedürftig war. Der Gedanke war mir noch nie gekommen. Aber ich wagte nicht, zum Karton zu gehen, ich dachte, dass es den Rat beschämen könnte. „Ist das falsche Scham?“, fragte ich mich, aber es gab niemanden, der mir hätte antworten können. Stattdessen gab ich das Geld einer bettelnden Frau zehn Meter weiter. „Vielleicht“, rief sie mir heiter hinterher, „kann ich mal was für Sie tun!“
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