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Der Erzähl-Zug ruckelt und schwankt

■ Ilija Trojanows Debütroman „Die Welt ist groß und Rettung lauert überall“

Die deutsche Literaturgeschichte war bislang von Flüchtenden und Einwanderern nicht eben bevölkert. Seit einigen Jahren beginnt sich das zu ändern durch die „deutschen Dichter aus dem Morgenland“ – von Saliha Scheinhardt aus der Türkei bis Rafik Schami aus Syrien.

Zu ihnen zählt auch Ilija Trojanow. Seine Biographie ist bewegt: 1965 in Sofia/Bulgarien als Sproß einer großbürgerlichen Familie geboren. 1971 Flucht nach Italien, anschließend erhält er politisches Asyl in Deutschland. Es folgt ein zehnjähriger Aufenthalt in Kenia, Rückkehr nach Deutschland, wo Trojanow studiert und als 24jähriger Jungverleger für afrikanische Literatur und Musik wird. Das erhält ihm die Weitläufigkeit, auf den auch der vertrackt-optimistische Titel seines Debütromans anspielt: „Die Welt ist groß und Rettung lauert überall“. Darin geht's um die Familie des Alexandar Luxow, der in einem osteuropäischen Land aufwächst und als Kind mit der Familie nach Italien flieht. Doch das gelobte Land mit Alfa Romeo und Maserati präsentiert sich für die Flüchtlinge als drückende Langeweile eines Flüchtlingslagers. Jahre später lebt Alexandar ziemlich deprimiert und krank in einer deutschen Großstadt. Sein Patenonkel Bai Dan, der 99jährige Meister-Spieler, macht sich auf, den Gescheiterten zu mobilisieren. In einer phantastischen Reise per Tandem erkunden sie die Welt und ihre rettenden Auswege...

„Die künstlerische Deutung der Welt hat die Form einer Reise“, zitiert der Autor als Eingangsmotto Gustave Flaubert. Für seine grenzüberschreitende Roman-Reise lädt Trojanow nicht ins Flugzeug oder den ICE. Seine Reisenden gleichen eher dem unruhigen Publikum, das sich hierzulande per Wochenendticket durchzuschlagen versucht: Die Jugendcliquen, Ausländer- und Asylbewerberfamilien, Leute, die das Butterbrot teilen oder sich die Abteiltür vor der Nase zuschieben. Trojanows Erzähl-Zug hält auch an kleinen, heruntergekommenen Bahnhöfen. Das ruckelt und schwankt: Da wird fabuliert und refelktiert, der Schwank kippt zur Satire, die Familiensaga zum Sozialreport. Und wieder zurück. Nach einem Tunnel verblüfft uns schon mal eine völlig neue Landschaft, und bei mancher Weiche droht der Waggon aus den Gleisen zu springen. Aber das Geschehen wird mit offensichtlicher Erzählfreude und überraschenden Nah- und Fernsichten präsentiert.

„Es werden mehr Asylanten abgeschoben als geehrt“, erklärte Ilija Trojanow kürzlich bei der Verleihung des Marburger Literaturpreises. Da verleiht jemand einer Gruppe Stimme, die immer weniger Lobby hat und literarisch kaum vorkommt. Der gebürtige Bulgare schreibt sich nicht allein Autobiographisches von der Seele. Noch wichtiger: Er setzt Flüchtlingen nicht die Charaktermaske des guten Opfers auf. In der Trostlosigkeit des Lagers wird nicht nur gemeinsam gelitten und geliebt, da werden auch die Beleidigungen per Messerstecherei gesühnt. Jemand versucht seine beschädigte Männerwürde mit Aufschneidereien zu wahren. Ein Bus voll Steaua-Bukarest-Fans steuert nach der Europapokalschlappe bei Juventus Turin das italienische Flüchtlingslager an. „Asil, Asil“, rufen die frustrierten Fans. „Nachdem selbst Steaua nicht mehr gewinnt, gab es keinen Grund mehr, in die Heimat zurückzukehren, die Jungs beschlossen kurzerhand, diese Niederlage in einen persönlichen Sieg umzuwandeln und sich abzusetzen.“ Selbst der zur Überwachung mitgefahrene Parteisekretär läßt schließlich das verzweifelte Gestikulieren und schwenkt rasch ins Lager derer über, die politisches Asyl beantragen.

Warum können sich trotzdem die Kanthers und Becksteins nicht bedient fühlen? Weil Trojanow weder von oben noch von unten, weder in mitleidiger noch heroisierender Perspektive erzählt. So souverän-phantastisch die Schlüsselfigur Bai Dan das Leben spielt: Der Autor geht nah ran an seine Romanfiguren, bleibt auf Augenhöhe. Daraus ergibt sich die Tragikomik seiner Figuren von selbst. Und weil das beim Thema Flucht und Asyl ungewohnt ist und noch kulinarisch serviert wird, verwundert der Erfolg des Autors nicht: Bertelsmann-Preis, beim Klagenfurther Ingeborg-Bachmann-Preis ganz vorn, in Marburg Nummer eins und auf der Buchliste des „Literarischen Quartetts“. Ilija Trojanow hat sich an die Erkenntnis des weisen Bai Dan zum Würfelspiel gehalten: Alles Zufall, aber du hast ihn in der Hand. Richard Laufner

Ilija Trojanow: „Die Welt ist groß und Rettung lauert überall“. Carl Hanser Verlag, München 1996, 283 Seiten, 36 Mark

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