: Der Chinese des Rückenschmerzes
Die Welt wird Stuhl. Das Hygiene Museum in Dresden zeigt eine Ausstellung über das Sitzen zwischen Disziplinierung und Autonomiegewinn ■ Von Harry Nutt
Im Alter von etwa 24 bis 28 Wochen lernt das Kind, seinen kleinen Körper aufzurichten, ohne daß er gleich wieder nach hinten oder zur Seite umfällt. Pädagogisch gebildete Eltern, die auf kindliche Entwicklungsschritte zu achten gelernt haben, schaffen nun den Tripp- Trapp-Stuhl an, ein z-förmiges Holzgestell in skandinavischem Design, das durch verstellbare Sitzflächen an das Wachstum des Kindes angepaßt werden kann. Für die erste Sitzphase geben ein kleines, den Po unterstützendes Sitzkissen sowie ein geschwungener Bauchbügel den nötigen Halt. Später wird der Tripp Trapp einfach an die Tischkante herangeschoben, damit die Kinder am Tisch der Großen sein können, ohne zu zappeln. Die älter werdenden Kinder sind sich bei den Verstellungen der Sitz- und Fußflächen stolz ihres Größerwerdens bewußt. Am Tripp Trapp, so könnte man sagen, erfahren die Kleinen sowohl soziale Disziplinierung als auch einen Zugewinn an Autonomie.
Bald nach Betreten der Ausstellung „Sitzen“ im Deutschen Hygiene Museum Dresden heißt uns Ausstellungsmacher Hajo Eickhoff derlei selbstgeschnitzte Sitztheorien aber sofort wieder vergessen. Mit dem ersten von drei Rundräumen, die als Übergänge zu den den großen Ausstellungshallen fungieren, betreten wir den unbestuhlten Kosmos, wenig mehr als das Nichts, ein in die Steppe gewehtes Geäst. Ein Innehalten im Stehen, kein Gedanke ans Sitzen. Im weißen Staub soll sich der Besucher seiner Herkunft bewußt und eingestimmt werden auf die Kulturgeschichte des Sichniederlassens. Nomaden haben keine Stühle. Ihr Dasein ist flüchtig, jede Form der Bleibe vorübergehend. Keine Stühle, kein Besitz.
Die älteste Form des Stuhls ist der Thron. Er leitet sich aus dem Opferstein ab, auf dem, so Eickhoff, eine Gemeinschaft einen Menschen zur Besänftigung der Götter darbrachte. Mit der Ablösung des Menschen- durch das Tieropfer teilt sich der Opferstein in Opfertisch und Opferstuhl. „Der einst dem Tode geweihte Mensch wird auf den Thron gesetzt, festgehalten und mit Macht ausgestattet.“ Der Thron bedeutet so gesehen alles andere als das bequeme Sitzen des Herrschers. Seine Setzung ist ein Akt der Gewalt in der Annahme, daß vom Thronenden Kräfte ausgehen, die den Kosmos hervorbringen und zusammenhalten. Die unkomfortable, kauernde Sitzhaltung bringt Geist hervor, aber der ist nicht gratis zu haben. Wer herrschen will, muß leiden. Das Kreuz Christi sei bekanntestes Symbol einer solchen gewaltsamen Setzung, in diesem Fall auf den Himmelsthron.
In den ersten Räumen der Ausstellung legen Hajo Eickhoff und der Gestalter Thomas Hamann Wert auf die Sakralisierung des Profanen. Beim Wort Sitzen schwingt fortan die Signifikantenkette von Vorsitz bis Satzung, Ersatz und Besitz mit. So weihevoll der Raum, so stringent die Erläuterungstafeln zu der ausgestellten Betrachtung der bestuhlten Gesellschaft. Das Sitzen auf Stühlen ist keine natürliche Angelegenheit und seine Geschichte vergleichsweise jung. Sie reicht, auf einem langen, an der Decke verlaufenden Ausstellungsstrahl dargestellt, vom Gebärstuhl der Antike bis zum Thonetstuhl des 19. Jahrhunderts, der als erster aus Einzelteilen industriell zu fertigender Kaffeehausstuhl weltweite Verbreitung fand. Die Geschichte des Stuhls ist eine der Demokratisierung des Sitzens. Aus dem Chorgestühl der Kirchen, das dem Klerus vorbehalten war, entwickelt sich der Profanstuhl, den die protestantischen Gläubigen im Zuge der Reformation für sich beanspruchen oder besser: durchsetzen. Wer sich am Leben Christi ausrichtet, der darf auch sitzen. Der lange Weg zum Sitzen führt vom Seßhaftwerden der Umherziehenden bis zur Zivilisierung in den Städten. Die Schulbank des 19. Jahrhunderts ist ein signifikantes Bild für die Disziplinierung der Aufwachsenden, auf ihr werden sie vorbereitet und zugerichtet für das Leben in der sedierten Gesellschaft.
„Die Sitzgesellschaft“, so Hajo Eickhoff, „hat das Stuhlsitzen auf Stühlen zu einem Grundbedürfnis gemacht und bestimmt es zu unserer alltäglichen Haltung, zu unserer Norm und Religion.“ Mit anderen Worten: Es ist ungesund. Womit wir vollkommen zu Recht im Hygiene Museum in Dresden angekommen wären, das Wert darauf legt, kein Badehaus zu sein, als vielmehr den Menschen in seiner biologischen, psychologischen, kulturellen und sozialen Gesamtheit darzustellen. Das rechtfertigt einen Raum über die Beschaffenheit und das Leistungsvermögen unserer Wirbelsäule, die wir durch Hinsetzen eben nicht entlasten, sondern zu einem schwierigen Balanceakt zwingen. Eine Balance zwischen Anthroplogie und Orthopädie hat auch das Hygiene Museum mit der Ausstellung über das Sitzen versucht, die sich in ihrer kulturgeschichtlichen Zuspitzung bisweilen in anthropologisches Phantasieren verliert. Eickhoffs Nachdenken über die sedierte Gesellschaft wird zur profanen Kulturkritik. „Der Sitzkultur“, schreibt er im Katalog, „sind die Gründe ihres Aufbruchs, der Sinn ihres emsigen pausenlosen und lauten Tuns, ihres Bemühens um Verbesserung und um neue technische Errungenschaften abhanden gekommen, wie die Mythen, die dem Menschen einst Nahrung waren. (...) Der materielle Reichtum und der immense Konsum in den westlichen Nationen haben sich nicht als befriedigender Ersatz für die nicht geglückte innere Befriedigung erwiesen.“ Die sitzende Gesellschaft driftet bewegungslos per Internet in den Kosmos, der eben nur noch bestuhlt zu haben ist. Der Sportarzt weiß den philosophischen Befund zu bestätigen. Die Dresdener Ausstellung macht solche Denkexkursionen aber zum Glück nicht in letzter Konsequenz mit. Am Ende trifft man auf eine Stühlesammlung, die von der romantischen Ausarbeitung eines Folterstuhls bis zum Büroensemble des Ausstellungssponsors Dauphin reicht, der am ergonomisch korrekten Computertisch umgehend zum Blättern in der eigenen Internet-Homepage animiert, als wolle man sagen, daß die Sache mit dem bösen Ende der bestuhlten Gesellschaft auch ganz anders sein könne. Mit einer Leihgabe ist übrigens auch der Suhrkamp Verlag vertreten. Von einem Verlagsposter blickt Peter Handke herab. Ein Freund der Steppe, vielleicht, aber zuallererst auch ein am Schreibtisch Sitzender.
Deutsches Hygiene Museum Dresden, Lingner Platz 1. Bis 4. Januar 1998, dienstags, donnerstags, freitags, 9–17 Uhr, samstags, sonn- und feiertags 10–17 Uhr, Katalog in der Ausstellung 38 DM
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