Der Bundeskanzler auf Balkanreise: Das Beste aus zwei Welten
Olaf Scholz will die festgefahrenen Beitrittsverhandlungen der Westbalkanländer beleben. Hintergrund ist die Sorge, dass Russlands Einfluss wächst.
Um die europäische Integration voranzubringen und den russischen Einfluss in der Region zu begrenzen, hält es das Kanzleramt für angezeigt, wieder Schwung in den Beitrittsprozess der Westbalkanstaaten zu bringen. Die vier offiziellen Beitrittskandidaten – Albanien, Serbien, Montenegro und Nordmazedonien – stecken seit Jahren im Kandidatenstatus fest, ohne dass es einen konkreten Beitrittstermin gibt, oder wie im Falle von Nordmazedonien und Albanien überhaupt den Start von Verhandlungen.
Das sorgt vor Ort für Frust, die einstige EU-Begeisterung schwindet in den jeweiligen Bevölkerungen. Von der EU enttäuschte Länder gepaart mit einem aggressiven Russland, das Nachbarländer überfallt und nach jeder Gelegenheit greift, um Zwist unter den Europäern zu säen – das ist derzeit eine gefährliche Koinzidenz.
Dazu kommt, dass auch die Ukraine nun in die EU will, die EU-Kommission könnte schon am Freitag eine Empfehlung abgeben. Kommissionschefin Ursula von der Leyen war am Wochenende ebenfalls unterwegs in Sachen Beitritt und auf Überraschungsbesuch in Kiew. Wenn aber die Ukrainer sich vordrängeln dürften, während andere jahrelang Schlange stehen, könnte das bei aller Solidarität für großes Murren sorgen.
Eine Reise in die Schmerzzonen
Also macht der Bundeskanzler den Beitritt der Westbalkanländer wie einst seine Vorgängerin zur Chefsache und will ein neues Zeichen der Zuversicht senden, „dass dieser Beitrittsprozess von der EU gewollt ist.“ Aus Sicht des Deutschen hat die EU hier einen Ruf zu verlieren. Meint sie es tatsächlich ernst mit der europäischen Integration und belohnt jene, die sich anstrengen. Oder büßt sie an Glaubwürdigkeit ein und gibt Russland Gelegenheit, sich als Partner in der Region anzudienen.
Scholz, der abgesehen von Fototerminen, auch was bewegen will, reist deshalb direkt in die Schmerzzonen. Denn dass der einst vollmundigt verkündete Beitritt der Westbalkanländer sich seit fast 20 Jahren dahinschleppt, liegt nicht nur an einer erweiterungsmüden EU, sondern auch an ungelösten Konflikten in der Region.
Da ist zum einen das angespannte Verhältnis zwischen Serbien und Kosovo. Serbien erkennt die Unabhängigkeit des Kosovo nicht an, sondern betrachtet es als abtrünnige Provinz. Die Beitrittsverhandlungen laufen seit acht Jahren, Perspektive unklar.
Das Muster: Erst die Willigen, dann die Blockierer
Und da ist das kleine Nordmazedonien, das seit 17 Jahren Beitritts-Kandidat ist und noch immer auf eine Einladung zu entsprechenden Verhandlungen wartet. Erst blockierte das EU-Mitglied Griechenland, dann hatten die Franzosen Bedenken und aktuell legt Bulgarien sein Veto ein. Alle 27 EU-Mitglieder müssen der Aufnahme eines neuen Mitglieds zustimmen.
Scholz Reise folgt einem klaren Muster: Erst die Willigen, dann die Blockierer. Und: Erst mal ne Ansage machen, dann schauen was sie auslöst. Da die Kontrahenten jeweils aufmerksam die Pressekonferenzen im jeweils anderen Land verfolgen, sorgt diese Taktik auch für entsprechend Bewegung, zumindest am Rande des sonst starren Protokolls.
Als der Kanzler am Freitagvormittag im Kosovo verkündet, nur Länder die gegenseitig ihre Unabhängigkeit respektierten, könnten Mitglied der EU werden – eigentlich eine Binse – treibt das dem serbischen Präsidenten Aleksandar Vucic am Nachmittag hektische, rote Flecken ins Gesicht. Davon höre man zum ersten Mal, behauptet Vucic, um dann fast unterwürfig zu beklagen: Ob man glaube, Serbien drohen zu müssen. „Deutschland ist groß und mächtig, wir sind klein.“ Das ist umso skurriler als Vucic den Kanzler, der neben ihm steht, um mindestens einen Kopf überragt.
Fast ein postsozialistisches Reenactment in Belgrad
Vucics Auftritt ist eine große Show, vor allem gedacht fürs heimische Publikum, deren Titel lauten könnte: Die Verteidigung der serbischen Interessen durch Aleksandar Vucic gegen den Druck der deutschen Großmacht. Die ziemlich gleichgeschalteten Medien übertragen den Besuch des Deutschen Kanzlers live, die Straßen der Hauptstadt sind entlang der Reiseroute mit deutschen und serbischen Fähnchen beflaggt, alle Zufahrtsstraßen gesperrt. Fehlen bloß noch Menschenmassen mit Winkelementen entlang der Strecke, fertig wäre das postsozialistische Reenactment.
Bundeskanzler Olaf Scholz plant einem Medienbericht zufolge eine Reise nach Kiew – und das noch vor dem G7-Gipfel Ende Juni. Auch der französische Präsident Emmanuel Macron und der italienische Regierungschef Mario Draghi sollen mit dabei sein, wie die Bild am Sonntag am Samstag unter Berufung auf französische und ukrainische Regierungskreise berichtete. Ein Sprecher der Bundesregierung kommentierte den Bericht am Abend nicht. Aus dem Élyséepalast in Paris hieß es nur: „Nein, wir bestätigen diese Information nicht.“
Scholz hatte zuletzt gesagt, er würde nur nach Kiew reisen, wenn konkrete Dinge zu besprechen wären. Aus dem Élyséepalast hieß es am Freitag, Macron stehe für einen Besuch in der Ukraine zwar zur Verfügung, konkrete Reisepläne und Daten gebe es aber noch nicht. Eine solche Reise könne vor, aber auch nach dem EU-Gipfel stattfinden. Von einem gemeinsamen Besuch mit Scholz oder Draghi war nicht die Rede. Der Zweck einer Reise von Macron werde darin bestehen, der Ukraine eine europäische Perspektive zu eröffnen oder diese in Gang zu setzen, hieß es.
Selenskyj hatte Scholz bereits vor Wochen nach Kiew eingeladen. Zuerst standen aber Verstimmungen wegen der kurzfristigen Absage einer Reise von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier von ukrainischer Seite im Weg. Nachdem die Irritationen ausgeräumt waren, verwies Scholz darauf, dass es ihm bei einer solchen Reise nicht um Symbole, sondern um Inhalte gehe: „Ich werde nicht mich einreihen in eine Gruppe von Leuten, die für ein kurzes Rein und Raus mit einem Fototermin was machen. Sondern wenn, dann geht es immer um ganz konkrete Dinge.“ (dpa)
Überhaupt scheint der Pomp, mit dem der Besuch des Bundeskanzlers zelebriert wird, in umgekehrtem Verhältnis zur Bereitschaft ernsthafter Zugeständnisse zu stehen. Vucic lässt jedenfalls nicht erkennen, dass er seine zweigleisige Politik, die einerseits auf Russland als Verbündeten und Lieferanten billigen Gases setzt und andererseits auf die EU, aufgeben will.
Als einziges europäisches Land hat Serbien bislang keine Sanktionen gegen Russland verhängt. Als Scholz forderte, Serbien solle diese umsetzen und am besten „jetzt und nicht wenn alles vorbei ist“, wendet Vucic ein: Man verurteile den russischen Überfall auf die Ukraine, aber bei Sanktionen „da haben wir eine andere Position.“ Hier will einer das Beste aus zwei Welten für sein Land bewahren.
In Deutschland hofft man darauf, dass die Attraktivität Russlands schwindet je mehr die Sanktionen wirken und Russland ökonomisch geschwächt wird. Doch es bleibt abzuwarten, ob das tatsächlich ein Selbstläufer ist oder ob die EU Staaten wie Serbien doch weitere Brücken bauen muss.
In der nordmazedonischen Hauptstadt Skopje ist am Tag darauf alles drei Stufen schlichter. Der rote Teppich ist durchweicht und die Grünpflanzen im Regierungsgebäude kämpfen tapfer ums Überleben. Dennoch scheint Scholz sich hier wohler zu fühlen als im luxuriös ausgestatteten serbischen Regierungspalast, wo kunstvolle Blumengestecke süßlich dufteten.
Es sei wirklich schön hier zu sein, sagt Scholz im kargen nordmazedonischen Regierungssitz. Gleich zweimal posieren er und Ministerpräsident Dimitar Kovacevski händeschüttelnd für die Kameras. Es es sei ja auch bereits der zweite Besuch des Kanzlers innerhalb kurzer Zeit, freut sich der Nordmazedonier. Man merkt, Scholz will zeigen, dass er sich wirklich kümmert.
Anders als Serbien trägt Nordmazedonien die Sanktionen gegen Russland mit und ist dennoch noch viel weiter vom EU-Beitritt entfernt. Alles Händeschütteln kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass man in Skopje gründlich frustriert ist über die EU. Man könne nicht ständig Opfer der EU-Gipfel sein, beschwerte sich Kovacevski im Beisein von Scholz. Schon in zwei Wochen, am 23. und 24. Juni, treffen sich die EU-Staatschef:innen erneut zur Ratssitzung. Eingeladen sind auch die Westbalkanländer. Man erwarte dort, den Beginn der Beitrittsverhandlungen, sagt der Nordmazedonier bestimmt. „Wir brauchen jetzt grünes Licht zu EU-Beitritt.“ Mazedonien verdiene das zu 100 Prozent.
Und in der Tat hat Nordmazedonien etliche Verrenkungen gemacht bis hin zur Änderung des eigenen Namens von Mazedonien in Nordmazedonien, ohne dass es dem Land bisher genützt hat. In der Bevölkerung sei die Zustimmung zum EU-Beitritt von 75 auf inzwischen nur noch 55 Prozent gefallen, berichtet der nordmazedonische Journalist Luka Andreev vom Fernsehsender Alsat-M. „Und mit jedem neuen Veto sinkt sie weiter.“
Relativierung und Vermittlung in Sofia
Ob der 23. Juni die Wende bringen werde, wird Scholz von der nordmazedonischen Presse gefragt. Und der Kanzler antwortet in ungewohnter Klarheit: Aus seiner Sicht könne die erste Beitrittskonferenz sofort starten. „Nordmazedonien und Albanien haben es verdient, dass die Gespräche beginnen.“
Eine klare Ansage, die der bulgarische Ministerpräsident Kiril Petkow vier Stunden später relativiert. Die Gespräche gingen weiter, aber Bulgarien habe eben klare Bedingungen formuliert. Bedingungen, die die kulturelle und sprachliche Identität der Nordmazedonier betreffen und die Anerkennung von Bulgaren als geschützte Minderheit. Was nach einem Streit über Befindlichkeiten klingt, hat in Bulgarien gerade zum Bruch der Koalition geführt. Petkow wurde Verrat vorgeworfen, er habe heimlich Zugeständnisse machen wollen. Keine einfache Situation für den Regierungschef, um mal eben eine schnelle Einigung herbeizuführen und den Weg für Nordmazedonien in die EU freizugeben.
Ob Scholz eine Lösung habe oder nur als Vermittler komme, fragte ihn eine bulgarische Journalistin. Letzteres ist der Fall. Der Bundeskanzler kann nur an die Bulgaren appellieren fair zu bleiben und das was sie selbst erfahren hätten, nämlich die EU-Mitgliedschaft, auch anderen zu gewähren.
Ob beim EU-Gipfeltreffen in zwei Wochen für die Länder des Westbalkans ein neues Kapitel auf ihrem Weg in die EU aufgeschlagen wird, ist ungewiss. Journalist Andreev glaubt nicht daran.
Bei diesem Gipfel könnte aber auch die Entscheidung fallen, ob die Ukraine Beitrittskandidatin wird. Den Beweis, dass das nicht bloß ein anderer Ausdruck für „Warteschleife“ ist, ist die EU noch schuldig.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit