: Der Anfang, der ein Abschied war
aus Berlin JENS KÖNIG
Dies ist eine Geschichte über Politik, insbesondere über das, was es in diesem kühlen, brutalen Geschäft normalerweise nicht gibt. Dies ist eine Geschichte über Zuneigung, um genau zu sein, über einen ganz kleinen Moment der Zuneigung.
Als Gerhard Schröder gerade zum Kanzler wiedergewählt worden ist, bildet sich vor ihm eine lange Schlange von Abgeordneten und Ministern, die ihm alle gratulieren wollen. Müntefering, Göring-Eckardt, Merkel, Fischer, Gerhardt, Schily, sogar die beiden einsamen PDS-Abgeordneten haben sich ganz selbstbewusst unter diejenigen gemischt, die glauben, zu den Damen und Herren Wichtig der deutschen Politik zu gehören und deshalb auf einen Glückwunsch-Soloauftritt vor laufenden Fernsehkameras nicht verzichten zu können. Fast ganz am Ende der Schlange steht ein kleines Männchen, das in diesem Moment des Triumphs eine genauso unglückliche Figur abgibt wie all die vier Jahre zuvor, in denen es für den Machtmenschen gearbeitet hat, der gerade einen neuen Gipfelpunkt seiner Karriere erklimmt.
Es ist Walter Riester, der da mit hängenden Schultern darauf wartet, Gerhard Schröder die Hand schütteln zu dürfen. Als er vor seinem alten Chef steht, packt dieser plötzlich dessen rechten Arm und zieht den armen Walter Riester fest an sich. Es dauert eine Sekunde, zwei Sekunden, drei Sekunden, vier Sekunden, schier eine Ewigkeit, bis Schröder seinen ehemaligen Arbeitsminister wieder aus seiner Umklammerung freigibt. Plötzlich stehen mitten im Bundestag zwei Männer, als wären sie ganz allein im Saal, und schauen sich wehmütig in die Augen.
Das ist keine Umarmung für die Fernsehkameras, keine dieser berechnenden Gesten, die der Medienmensch Schröder so meisterhaft einzusetzen versteht. Es ist es wohl einfach das ehrliche Eingeständnis des Kanzlers, dass ihm das mit dem Walter und dessen Entlassung irgendwie leid tut. Das unterscheidet diesen Moment auch von anderen, vergleichbaren Szenen dieses Tages. Etwa, als Schröder Joschka Fischer um den Hals fällt, so, wie man das nur bei Menschen macht, mit denen einen mehr verbindet als ein gemeinsamer Arbeitsplatz. Oder als der Kanzler auch noch seinen entlassenen Verkehrsminister Kurt Bodewig umarmt, was etwas linkisch aussieht, weil weder Schröder noch Bodewig zu wissen scheinen, ob diese vertraute Geste zu ihrem Verhältnis passt.
Nun soll ja keiner glauben, Schröder sei ein sentimentaler Hund, das nun nicht gerade. Der Kanzler selbst war es schließlich, der nur ein paar Minuten gebraucht hat, um seinen Arbeitsminister vor die Tür zu setzen, nachdem er sich mit dem neuen Supermann Wolfgang Clement einig geworden war. Aber Schröder hat auch nicht das kühle Herz einer Angela Merkel, schon gar nicht den Killerinstinkt der CDU-Vorsitzenden. Er trennt sich nicht gern von Mitarbeitern. Selbst an schwer angeschlagenen oder unfähigen Ministern hält er noch lange fest, ehe er das Unvermeidliche tut. Umso dankbarer ist Schröder dann, wenn die Betroffenen ihm den Abschied nicht schwer machen. Riester hat sich seinem Schicksal klaglos gefügt. So etwas rührt Schröder. Also nimmt er seinen ehemaligen Minister an diesem Vormittag einfach in den Arm und hält ihn ein paar Sekunden lang fest.
Dieser kurze Moment der Zuneigung ist von allen im Parlament natürlich beobachtet worden, und manche haben sich sogar einen Reim darauf gemacht, der grüne Abgeordnete Winfried Herrmann zum Beispiel. Hermann ist einer der letzten Linken in seiner Fraktion und nicht gerade dafür bekannt, den Kanzler besonders zu mögen. Aber die Umarmung von Schröder und Riester hat ihn ganz wehmütig werden lassen. Hermann steht vor dem Plenarsaal und erzählt plötzlich ganz unvermittelt, dass er in den Siebzigerjahren auch einmal Mitglied in der SPD gewesen sei. Und selbst als er mit den Sozialdemokraten politisch nichts mehr am Hut hatte, sei ihm der Abschied aus der Partei emotional schwer gefallen. „Die SPD strahlt so eine Nestwärme aus“, sagt Hermann, „selbst in schwierigen Situationen stehen die zueinander.“ Bei den Grünen, fügt er hinzu, vermisse er das schon ein bisschen.
Das mit der sozialdemokratischen Nestwärme muss man nicht unbedingt für voll nehmen. Man muss nur beobachten, wie Rudolf Scharping an diesem Tag in der vorletzten Reihe der über 250-köpfigen SPD-Fraktion verloren herumsitzt, wie er Zeitung liest, ein bisschen durch die Reihen streift, auf diesen oder jenen einredet, ohne dass dieser oder jener besonderes Interesse an dieser Unterhaltung zeigt, wie er vor lauter Bedeutung immer noch stocksteif durchs Parlament schwebt, ganz so, als habe er vor ein paar Minuten George Bush das Versprechen abgerungen, auf einen Krieg gegen den Irak zu verzichten – dieser Rudolf Scharping also ist das beste Beispiel dafür, dass es in der SPD auch Abschiede gibt, die ganz ohne Umarmung über die Bühne gehen und nicht mehr als kalte Verachtung hinterlassen.
Diese Kanzlerwahl, bei der der Bundestag mit 599 von 603 Abgeordneten fast vollzählig angetreten ist – herzliche Genesungsgrüße nach Gran Canaria an Jürgen W. Möllemann!!! –, ist ohnehin so etwas wie die Jahreshauptversammlung einer geschlossenen Anstalt. Alles steht vorher fest – der Kanzler, die Minister, die Gewinner, die Verlierer – aber das strenge Protokoll dieses Tages verlangt, dass alle miteinander so tun, als könnte jederzeit etwas Außergewöhnliches passieren. Also lacht auch keiner, als Bundestagspräsident Wolfgang Thierse gleich zu Beginn der Parlamentssitzung mit ernster Stimme verkündet, er schlage vor, den Abgeordneten Gerhard Schröder zum Kanzler zu wählen.
Der Abgeordnete Gerhard Schröder wird dann ganz überraschend auch gewählt.
Immerhin erhält Schröder nur 305 Stimmen. SPD und Grüne haben zusammen jedoch 306 Abgeordnete. Am Morgen ließen beide Fraktionen extra noch mal durchzählen: Alle 306 waren an Bord, keiner krank. Die SPD-Abgeordnete Marga Elser ist auf Krücken gekommen. Sie hat sich im Wahlkampf den Fuß gebrochen. Aber heute ist sie da.
Hinterher rätseln natürlich alle, wer denn der eine „Verräter“ im Regierungslager sei, der Schröder nicht gewählt hat. „Scharping, Ströbele, Schulz – irgendeiner aus dem S-Bereich muss es gewesen sein“, witzelt ein grüner Minister. Andere vermuten, da habe einer die Wahl vielleicht einfach nur verpennt. Dem SPD-Abgeordneten Jörg Tauss wäre das fast passiert. Als Thierse gerade die Wahl für beendet erklären wollte, riss Tauss seine Arme nach oben und wedelte mit seiner Stimmkarte. Er sprintete zur Wahlkabine, dann zur Urne. Er war der letzte, der seine Stimme abgab.
Oder hat vielleicht doch irgendeiner dem Kanzler schon mal ein kleines Zeichen geben wollen, wie knapp dessen Mehrheit die nächsten vier Jahre sein wird? „Es wird noch zu klären sein, wer da nicht mit abgestimmt hat“, sagt SPD-Fraktionschef Franz Müntefering. Das klingt ganz so, als hätte da ein sozialdemokratischer Abgeordneter, wenn er sich denn bekennen sollte, nie wieder etwas zu lachen. Natürlich fällt Müntefering dann noch ein, dass die Wahl im Übrigen geheim sei.
Der Weltpolitiker Joschka Fischer steht da natürlich drüber. „Das juckt keinen“, sagt er zur fehlenden Stimme aus dem Regierungslager. „Der Kanzler wird nur einmal in vier Jahren gewählt.“ Dann erklärt der Herr Außenminister den umstehenden Journalisten noch einmal wortreich das kleine politische Abc. „Erst ist Wahlkampf, dann gibt es die Wahl, dann kommen Koalitionsverhandlungen, dann die Kanzlerwahl, dann die Regierungsbildung. Jetzt gehen wir noch einmal schlafen, und ab morgen beginnt die Arbeit.“ Und es werden vier verdammt schwere Jahre, sagt er noch.
Hoffen wir mal, dass Fischer das mit der Arbeit, die ab Mittwoch beginnt, nicht falsch verstanden hat. Am gestrigen Dienstagabend um 18 Uhr traf sich die rot-grüne Regierung zu ihrer ersten Kabinettssitzung.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen